Obamas Koran und die Lessingsche Toleranz

Obamas Koran und die Lessingsche Toleranz: Eine Nachlese

Gerd-R. Puin

Eine spektakuläre Rede an die islamische Welt war es, als der Präsident der Vereinigten Staaten am 4. Juli vor einem ausgesuchten Publikum an der Universität von Kairo sprach. Zu den mit dem größten Beifall begrüßten Passagen gehören drei Zitate aus dem „Heiligen Koran“, mit denen Obama sich Respekt und Zuneigung verschafft hat. Es ist wohl wahr, dass Obama der gekränkten Seele der Muslime in seiner ganzen Rede schmeichelte und auf ihre Befindlichkeiten mit großer Empathie einging. Das überwiegend positive Echo in der muslimischen Welt gibt ihm Recht: So wie er über den Islam spricht, sehen sich die Muslime auch selber gerne. Und so ist es kein Wunder, dass es noch keinem muslimischen Kritiker aufgefallen ist, wie unpassend die von Obama angeführten Koranzitate und wie sehr sie aus dem Zusammenhang gerissen sind. Und selbst wenn dies einem Kenner des Korans aufgefallen sein sollte, hat er doch den positiven Eindruck der Obama’schen Zitate nicht durch seinen Widerspruch relativieren wollen.
Auch die wichtigen Medien in Deutschland sind in ihrer Begeisterung über Obamas Zugehen auf den Islam sehr weit gegangen! So wird in der FAZ vom 5.6. Obamas „Salam alaikum“ (sic) unter die groß abgebildete arabische Kalligraphie gestellt, die von den Muslimen ausschließlich bei der Erwähnung des Propheten Mohammed gebräuchlich ist: „Allah sei ihm geneigt und schenke ihm Heil!“ In solcher Weise blasphemisch Obama und Mohammed zusammen zu rücken kann nur der – selbstverständlich wohlgemeinte – Einfall eines naiven Ungläubigen sein! Dennoch: Auch Muslime wissen diese Verneigung zu schätzen; ein Leser bedankt sich für den „heiligen Gruß in wunderschöner Form“ (FAZ 13.6.09), ein anderer schwärmt, die FAZ habe „mit dem Abdruck des islamischen Segenswunsches alle muslimischen Leser umarmt“ (FAZ 2.7.09).

 

Die Ideengeberin Dalia Mugahid

Doch zurück zu Obamas Koranzitaten! Dank einer Reportage von Salman Dossari in der saudischen Zeitung Alsharq Alawsat (www.aawsat.com/english/print.asp?artid=id17027   vom 10.6.2009) wissen wir, wer für den islamischen „touch“ in der Rede und die dahinter liegen den Motive verantwortlich ist: Dalia Mugahid, 33, in Ägypten geboren, Geschäftsführende Direktorin des Umfrage-Instituts „Gallup Centre for Muslim Studies“ in Washington tätig und Obamas Beraterin in islamischen Angelegenheiten; mittlerweile ein Liebling der Presse. Ihre Berufung verdankt sie nach eigenen Angaben dem Umstand, dass sie zusammen mit John L. Esposito (Gründungsdirektor des Prinz-Alwaleed-Bin-Talal Centre for Muslim Christian Understanding in Georgetown.) das Buch „Who Speaks for Islam? What a billion Muslims really think“ (Gallup Press 2008, ISBN-13: 978-1595620170, 230 S.) verfasst hat: Tausende von Muslimen in 35 Staaten wurden 2006 in einem Gallup World Poll interviewt, angeblich repräsentativ für 90 % der Muslime auf der Welt. So umstritten der wissenschaftliche Wert der Studie ist („ … devoid of scholar-ship“), umso deutlicher zeichnet sich ab, dass die Rede Obamas auf die so erforschte Seelenlage der Muslime Rücksicht nimmt.
In dem erwähnten Interview mit der saudischen Zeitung gibt Frau Mugahid zu erkennen, welche Absichten sie bei der thematischen Vorbereitung der Rede geleitet haben:

1. Gegenseitiger Respekt zwischen den Vereinigten Staaten und der islamischen Welt,

2. Kooperation zwischen den USA und der islamischen Welt, wobei beide Seiten gleichberechtigte Partner sein müssen, und

3. das Benennen all der Bereiche, die für die Gemeinschaft der Muslime Ärgernisse darstellen: Arabisch-israelische Konflikt, Präsenz der USA im Irak und in Afghanistan sowie Guantanamo.
Sie hätte sich zudem gewünscht, dass Obama die muslimische Feindseligkeit gegen die USA als eine lediglich rezente Erscheinung bezeichnet, „nicht älter als 50 bis 60 Jahre“. Er hätte auch erwähnen sollen, dass Marokko der erste Staat überhaupt gewesen sei, der die Unabhängikeit der USA anerkannt habe, dass die USA in der islamischen Welt niemals als Kolonialmacht aufgetreten sei und auch nie – anders als Europa in den Kreuzzügen – einen Krieg gegen den Islam geführt habe; im Gegenteil hätten die USA die Muslime bei vielen Gelegenheiten verteidigt und niemals Muslime in Religionskriegen getötet, und daher sei die von Obama hervorgehobene Verbindung zwischen den USA und Europa bzw. zu Europa allgemein zu kritisieren. Auch habe Obama nicht über die Gewalt gesprochen, die von Israel gegenüber den Palästinensern ausgeübt werde.

Ferner beklagt Frau Mugahid, dass in der Rede nicht die von ihr vorgeschlagene Differenzierung zwischen Extremismus und Islam aufgegriffen wurde, wenn auch gesagt worden sei, dass der Terrorismus der gemeinsame Feind von USA und Islam sei. Schon Präsident Bush habe immer wieder gesagt, dass der Islam eine Religion des Friedens sei, doch darüber hinaus hätte Obama deutlich machen können, dass er auch „eine Religion des Fortschritts und der Kultur“ sei. Immerhin nenne Obama in seiner Rede Beipiele solcher islamischer Errungenschaften: Die Algebra [korrekt], den Magnetkompass [falsch], die Instrumente der Navigation [?], „die Fähigkeit, Federhalter herzustellen“ [?!], „die Beherrschung des [Buch- ?] Drucks“ [falsch], sowie „unser Wissen um die Verbreitung von Krankheiten und wie sie geheilt werden können“ [falsch].

Schade!

In der Aufzählung hätte mache wirkliche kulturelle Leistung aus der islamischen Welt genannt werden können (Optik, Astronomie, Medizin, Philosophie, Geographie), aber es geht Frau Mugahid darum, ihre eigene Vorstellung von islamischer Kultur und die der Mehrheit der Muslime durch den Mund Obamas artikulieren und damit bestätigen zu lassen: Nach dem nicht selten zu hörenden Argument, dass die alten Griechen doch Araber gewesen seien, ist ohnehin „der Westen“ nur durch die Araber zu dem geworden, was er heute sei … Da der Islam im Westen so sehr verkannt sei, müsse man als guter Muslim ständig dagegenhalten und versuchen, das Denken der Nicht-Muslime über den Islam in einem positiven Sinn zu kontrollieren. Nicht ohne Stolz kann Frau Mugahid daher in dem erwähnten Interview auf den Erfolg ihrer Arbeit verweisen, und selbst ihre „Mängelliste“ von solchen Themen, die Obama vernachlässigt habe, gibt einen guten Eindruck von der muslimischen Befindlichkeit in unseren Tagen. Wenn sich Frau Mugahid über die islamische Kultur auslässt oder gar glaubt, im Koran Verse gefunden zu haben, die ein positives Bild von seiner friedfertigen Agenda abgeben können, so kann man ihr zubilligen, dass sie es – in einem doppelten Sinn – gut gemeint hat:
1.Die meisten an ihrer Religion nur mäßig interessierten Muslime sind der Überzeugung, dass ihre Religion bzw. der Koran den Frieden und das friedliche Miteinander anstreben. Nicht zuletzt aus diesem Grund wird ihnen von muslimischen Ideologen immer wieder vor Augen gehalten, dass sich die Muslime gegen Angriffe auf den Islam zu verteidigen hätten. Rückwirkend in die Geschichte wird z.B. argumentiert, dass auch die Eroberung Spaniens durch die Muslime nichts anderem als dieser Verteidigung diente. Die „Verteidigung des Islams“ wird darum in extremistischen Kreisen zum höchsten Wert, zum Zentrum und Beweis des rechten Glaubens stilisiert. Im Gegensatz dazu spricht der Beifall, mit dem die Muslime Obamas Koranzitate aufgenommen haben dafür, dass sich die Mehrheit nach einer friedlichen Interpretation der islamischen Schriften sehnt und – mit Obama – daran glaubt, dass der Koran eben diese Botschaft des Friedens enthält. Offensichtlich tut es dieser meist schweigenden Mitte gut, wenn sie in ihren positiven Bild vom Islam bestätigt wird, womöglich hilft es ihnen einmal, die Islamisten zu einem friedlichen Islam zu bekehren?
2.Auch für den nicht-muslimischen Zuhörer der Rede ist es angenehm, die Friedlichkeit der koranischen Botschaft von höchster Stelle bestätigt zu bekommen: Der Islam ist also durchaus nicht so, wie es die sich mit dem Adjektiv „islamisch“ schmückenden Extremisten behaupten! Das dient entschieden dem Dialog, denn, wie Obama in seiner Rede sagte, sind sich doch alle Religionen im Ziel des Friedens einig! Dieser apologetische Aspekt ist das wichtigste Ziel muslimischer Selbstdarstellung, wenn es darum geht, den Islam als eine „gleichberechtigte“ Religion darzustellen.
Nun wäre es besonders hilfreich, wenn Frau Mugahid im Koran Verse gefunden hätte, mit denen sie seine friedliche Grundhaltung gegenüber den Nicht-Muslimen beweisen könnte. Zwar ist sie selbst keine Spezialistin auf dem Gebiet der Koranexegese, man kann aber aus ihrer Auswahl getrost schließen, dass der Koran keine Verse enthält, die den friedfertigen Charakter der Religion besser darstellen als die von ihr angeführten. Wie wir zeigen können, lässt sie freilich für sich nicht gelten, was sonst für muslimische (und natürlich auch nicht-muslimischen) Gelehrte bei Zitaten aus dem Koran gilt, dass nämlich immer ein ganzer Vers zitiert und auch der Zusammenhang berücksichtigt werden müsse, in dem er steht.
Koranzitat 9:119
Das erste Zitat kleidet Obama in diesen Zusammenhang: „… Wir müssen uns darum bemühen, einander zuzuhören, voneinander zu lernen, uns gegenseitig zu respektieren und Gemeinsamkeiten zu finden. Wie der Heilige Koran uns lehrt: „Sei Gott gewärtig und spreche (sic! offizielle Übers. der US-Botschaft) immer die Wahrheit.“ Das werde ich heute versuchen – ich werde die Wahrheit sagen, so gut ich das kann …“
Es ist gar nicht so einfach, diesen Vers im Koran aufgrund einer so saloppen Übersetzung zu finden. Es handelt sich offenbar um Sure 9 Vers 119, der in deutscher Übersetzung lautet: „O ihr, die ihr glaubt, fürchtet Allah und seid mit den Wahrhaftigen“ (Übers. Bubenheim/Elyas) oder „Ihr Gläubigen! Fürchtet Gott und haltet es mit denjenigen, die die Wahrheit sagen!“ (Übers. Paret). – Was ist der Unterschied zwischen Obamas Verwendung und dem koranischen Kontext? Es sind einmal die Adressaten, denn Allah wendet sich hier an die Gläubigen, an seine wahrhaften Gefolgsleute – ins Heute übersetzt also an die Muslime. Zum andern geht es in dieser Sure überwiegend um den Dschihad gegen die Ungläubigen. So heißt es z. B. ein paar Verse weiter: „O die ihr glaubt, kämpft gegen diejenigen, die in eurer Nähe sind von den Ungläubigen! Sie sollen in euch Härte vorfinden. Und wisset, dass Allah mit den Gottesfürchtigen ist!“ (9:123). Die Gottesfürchtigen sind also diejenigen, die gegen die ungläubigen Nachbarn kämpfen, sie sind mit den Gläubigen in 9:119 gemeint; in den nächsten drei Versen 120 bis 122 geht es um die Mühsal im Kampf gegen die Ungläubigen und den Trost Allahs, dass er „den Lohn der Gutes tuenden [d.h. der Glaubenskämpfer] nicht verlorengehen“ lässt.
Damit ist der Kontext des von Obama zitierten Verses eindeutig der Kampf der Gläubigen gegen die Ungläubigen, und es wäre ebenso gut denkbar, dass sich auf ihn ein „islamischer Terrorist“ beruft. Der dschihadistische Zusammenhang ist auch in der muslimischen Koranexegese unbestritten, da die Verse mit konkreten Ereignissen der Kämpfe Mohammeds gegen die Ungläubigen zusammen gebracht werden. In der neuen englischen Übersetzung von Ali Ünal ( The Qur‘?n, with Annotated Interpretation in Modern English, by Ali Ünal, Somerset, New Jersey: The Light Inc. 2008. ISBN-13: 978-1-59784-000-2.) werden die Verse so kommentiert:
„Während der Qur‘?n die Gläubigen dazu auffordert, gegen die eine der beiden Supermächte der Zeit mobil zu machen, vernachlässigt er nicht eine andere wichtige Dimension. Er befiehlt der muslimischen Gemein-schaft, dass es in ihr stets einige geben müsse, die über den Islam sehr gut Bescheid wissen. Sind die Krieger (nämlich) erfolgreich, könnten sie sich übermütig fühlen und einige in der Gesellschaft unerwünschte Haltungen annehmen; sind sie aber besiegt, so könnte sie das in Zukunft verzweifeln lassen …“ (S. 420 Anm. 27; Übers. GRP).
In seiner Rede hat Obama auf Veranlassung seiner muslimischen Beraterin den Vers unvollständig, d.h. ohne den Adressaten zu nennen zitiert, ihn in seinem Sinne interpretiert („sprich immer die Wahrheit“) und aus einem völlig anderen Zusammenhang gerissen – ein Vorwurf, der normalerweise umgekehrt jedem Nicht-Muslim gemacht wird, wenn er sich auf einen Vers des Korans beruft.
Koranzitat 5:32
Das zweite Zitat in der Rede Obamas ist der im christlich-muslimischen Dialog häufig vorgetragene Vers („Das steht so im Koran!“) aus Sure 5 Vers 32:

„… Wer ein menschliches Wesen tötet … so ist es, als ob er alle Menschen getötet hätte. Und wer es am Leben erhält, so ist es, als ob er alle Menschen am Leben erhält …“

– Wieder wäre es schön, wenn sich die Eifernden unter den Muslimen den Inhalt dieser Maxime zueigen machen könnten! Freilich, auch in diesem Falle führt die Unvollständigkeit des Zitats in die Irre, heißt doch der Vers im Ganzen: „Aus diesem Grunde haben Wir den Kindern Isr?‘?ls vorgeschrieben: Wer ein menschliches Wesen tötet … usw. Das heißt, nicht den Muslimen, sondern den Juden ist eine solche Ethik von Gott auferlegt! Die Aufgabe der Muslime ist dagegen in dem folgenden Vers 5:33 beschrieben, der an den Vers zuvor mit einem anknüpfenden „innam? / jedoch, vielmehr, indessen“ anschließt: „Der Lohn derjenigen, die Krieg führen gegen Allah und Seinen Gesandten … ist indessen (der), dass sie allesamt getötet oder gekreuzigt werden, oder dass ihnen Hände und Füße wechselseitig abgehackt werden, oder dass sie aus dem Land verbannt werden. Das ist für sie eine Schande im Diesseits, und im Jenseits gibt es für sie eine gewaltige Strafe …“ (5:33).
Auch in diesem Fall ist leicht erkennbar, dass Obama – bzw. seine Ghostwriterin Mugahid – einen Vers des Korans unvollständig zitiert und damit das Gesetz der Juden mit dem der Muslime vertauscht! Die Verknüpfung der Auflage, die Gott den Juden gemacht hat, mit dem ganz anderen, brutalen Gesetz der Muslime im folgenden Vers kann keinem Koranleser entgehen! Somit ist auch klar, dass Obamas unvollständiges Zitat nicht ein lässlicher Lapsus oder einfaches Wunschdenken ist, sondern eine bewusste Verfälschung des koranischen Gebots, das von den Muslimen nichts weniger als einen unbarmherzigen und von Allah belohnten Krieg gegen die Nicht-Muslime verlangt. Wie im Fall des ersten Koranzitats ist der Vers unvollständig und entgegen dem Kontext verwendet, in dem er im Koran gebraucht wird.
Im Übrigen bietet jeder nur einigermaßen lange Text die Möglichkeit der inhaltlichen Verdrehung. Auch in der Bibel (Psalm 14 Vers 1) steht z. B.: „Es gibt keinen Gott.“ Der ganze Vers lautet allerdings: „In seinem Herzen redet der Tor: Es gibt keinen Gott.“
Koranzitat 49:13
Das dritte Zitat brachte Obama am Ende seiner Rede. Ihm ging es darum, den Gedanken der Toleranz in den drei monotheistischen Religionen fest- und herauszustellen. Zuerst führte er den in diesem Zusammenhang nicht sehr aussagekräftigen Vers 13 aus Sure 49 an: „O ihr Menschen, Wir haben euch ja von einem männlichen und einem weiblichen Wesen erschaffen, und Wir haben euch zu Völkern und Stämmen gemacht, damit ihr einander kennenlernt.“
Sodann zitiert er für das Judentum: „Der Talmud lehrt uns: ‚Die ganze Thora gibt es nur, um den Frieden unter den Menschen zu erhalten'“, und schließlich für das Christentum: „Selig sind die Friedfertigen: denn sie werden Gottes Kinder heißen.“ Es ist deutlich, dass wir es hier mit einem rhetorischen Trick zu tun haben, sagt doch der Koranvers mit keiner Silbe etwas über die Toleranz oder den Frieden als ein religiöses Ziel! Da die Passage in Obamas Rede jedoch mit der Seligpreisung ausklingt, bleibt das wohlige Gefühl, dass diese Haltung etwas mit dem Koran zu tun hat.
Auch in diesem Falle zitiert Obama den Vers unvollständig, denn seine Fortsetzung lautet: „… Gewiss, der Geehrteste unter euch bei Allah ist der Gottesfürchtigste von euch. Gewiss, Allah ist Allwissend und Allkundig.“ – Davon einmal abgesehen, dass die Adressaten der ganzen Sure 49 ausschließlich Muslime sind, die zu einem „wahren Glauben“ aufgefordert werden (z. B.: „Die Gläubigen sind doch Brüder. So stiftet Frieden unter euren beiden [?!] Brüdern und fürchtet Allah, auf dass ihr Erbarmen finden möget“ [49:10]), ist die koranische Lehre in Wahrheit das genaue Gegenteil dessen, was Obama mit seinem Zitat insinuiert, wie es diese Auswahl von Versen zeigt:
Sure 11:118: „Und hätte dein Herr es gewollt, so hätte er die Menschen alle zu einer einzigen Gemeinde gemacht; doch sie wollten nicht davon ablassen, uneins zu sein.“ Ähnliche Verse sind 42:8, 16:93, 43:33-35.
Sure 7:181: „Und unter denen, die Wir erschufen, gibt es eine Gemeinschaft, die mit der Wahrheit leitet und danach Gerechtigkeit übt.“
Sure 23:52: „Und diese eure Gemeinschaft ist eine einheitliche Gemeinschaft, und Ich bin euer Herr. So fürchtet mich.“
Sure 61:9: „Er ist es, Der seinen Gesandten mit der Führung und der wahren Religion geschickt hat, auf dass Er sie über alle Religionen siegen lasse, auch wenn die Götzendiener es verwünschen.“ Ebenso 48:28.
Sure 4:125: „Und wer eine andere Religion als den Islam begehrt: nimmer soll sie von ihm angenommen werden, und im Jenseits wird er unter den Verlierern sein.“
Sure 110:1-3: „Wenn die Hilfe Allahs kommt und der Sieg / und du die Menschen zur Religion Allahs in Scharen überstreten siehst / dann lobpreise deinen Herrn und bitte ihn um Vergebung! Er ist wahrlich Der, Der die Reue annimmt.“
Dies sind nur einige Beispiele, vor allem von kurzen Versen, um zu zeigen, dass es dem Koran um die eine und allen anderen überlegene Religion des Islams geht.
Es soll hier nicht verschwiegen werden, dass es auch Verse gibt, die man als „tolerant“ verstehen kann, z.B. das vielzitierte „Es gibt keinen Zwang im Glauben…“ (2:256) oder Verse, in denen vom Aufschub der Bestrafung der Ungläubigen durch Allah bis zum Jüngsten Gericht die Rede ist. In allen Fällen sind solche Verse von den Koranexegeten – mit geringen Unterschieden – schon seit Hunderten von Jahren für inhaltlich aufgehoben (David S. Powers: The Exegetical Genre nâsikh al-Qur’ân wa-mansûkhuhu, in: Approaches to the History of the Interpretation of the Qur’ân, ed. by Andrew Rippin. Oxford: Clarendon Pr. 1988, S. 117-138. ) erklärt worden („mansûkh“ = „abrogiert“), und zwar durch den jene früher offenbarten Verse aufhebenden („nâsikh“ = „abrogierend“) sog. Schwertvers: „Und wenn nun die heiligen Monate abgelaufen sind, dann tötet die Heiden, wo (immer) ihr sie findet, greift sie, umzingelt sie und lauert ihnen überall auf! Wenn sie sich aber bekehren, das Gebet verrichten und die Almosensteuer geben, dann lasst sie ihres Weges ziehen. Gott ist barmherzig und bereit zu vergeben“ (9:5). Das heißt, selbst wenn der Koran Verse enthalten sollte, die sich im Sinne eines friedlichen Zusammen- oder Nebeneinanderlebens deuten ließen, lassen sich diese mit Hilfe der Lehre von der Abrogation durch den bellizistischen Schwertvers vom Tisch wischen – wenn dies ins ideologische Programm bestimmter islamistischer Gruppen passt (Wahhabiten, Taliban, Salafisten).

 

Und die Lessingsche Toleranz?

Die Quellen, die Gotthold Ephraim Lessing (1729-1782) für sein dramatisches Gedicht „Nathan der Weise“ (1779) verwendete, entstammen überwiegend der jüdischen Tradition (Boccaccio, Ibn Verga), doch von der Ringparabel im engeren Sinn abgesehen, hat schon 1850 das Stuttgarter Morgenblatt für gebildete Leser den Zusammenhang von Lessings „Nathan“ mit dem Koranvers Sure 5:48 gesehen, der dort so zitiert wird: (Siehe hierzu die eindruckvolle Arbeit von Silvia Horsch: Rationalität und Toleranz: Lessings Auseinandersetzung mit dem Islam. Würzburg: Ergon 2004 (Ex Oriente Lux, Bd. 5), ISBN:3-89913-376-5, hier S. 86 ff. )
Jedem von euch (ihr Völker) verliehen wir eine Religion und einen Fahrweg (d.i. Brauch, Verfahren). Und wenn Gott gewollt, so hätte er euch zu einer einzigen Nation gemacht. Aber es galt, daß er euch erprobte in dem, was er euch gegeben; so eilt euch denn zuvor in allem Guten. Zu Gott ist eure Rückkehr insgesammt; da wird er euch aufklären über das, worin ihr uneins waret.
In moderner Übersetzung lautet der Vers:
Sure 5:48: „… Für jeden von euch (die ihr verschiedenen Bekenntnissen angehört) haben wir ein (eigenes) Brauchtum (?) und einen (eigenen) Weg bestimmt. Und wenn Allah gewollt hätte, hätte Er euch zu einer einzigen Gemeinschaft gemacht. Aber er (teilte euch in verschiedene Gemeinschaften auf und) wollte euch (so) in dem was er euch (d.h. jeder Gruppe von euch) (von der Offenbarung) gegeben hat, auf die Probe stellen. Wetteifert nun nach den guten Dingen! Zu Gott werdet ihr (dereinst) allesamt zurückkehren. Und dann wird er euch Kunde geben über das, worüber ihr (im Diesseits) uneins waret.“ [Übers. Paret (Es ist eine Eigenheit der Paretschen Übersetzung, in Klammern solche Ergänzungen einzufügen, die zwar nicht im Text stehen, von den älteren muslimischen Exegeten jedoch für das Verständnis für notwendig gehalten werden. )]
Hier sind die drei Lessingschen Motive genannt: Das der von Gott eingerichteten Unterschiedlichkeit der (monotheistischen) Religionen, das der Empfehlung ihres Wetteiferns in guten Taten als einer von Gott veranstalteten Prüfung, sowie das von ihrer schließlichen Wertung durch Gott im Jenseits. Dahinter verbirgt sich eine tolerante Vorstellung von der Religionsgeschichte, die auch an anderer Stelle im Koran aufscheint, z.B.
Sure 2:148: „Jeder hat eine Richtung, auf die er eingestellt ist (je nachdem, ob er Jude, Christ oder Muslim ist). Wetteifert nun nach den guten Dingen! Wo immer ihr sein werdet (wenn das Ende über euch kommt), Gott wird euch (am jüngsten Tag) allesamt beibringen. Er hat zu allem die Macht.“ [Übers. Paret]
Sure 21:92-94: „‚… Dies ist eure Gemeinschaft. Es ist eine einzige Gemeinschaft. Und ich bin euer Herr. Dienet mir!‘ (Angesprochen sind vermutlich die Zeitgenossen Jesu) (93) Aber sie fielen in verschiedene Gruppen auseinander (w. sie zerteilten sich in ihrer Angelegenheit untereinander). (Doch) alle kehren (dereinst) zu uns zurück. (94) Und wenn einer handelt, wie es recht ist, und dabei gläubig ist, wird er mit seinem Eifer (dereinst bei Gott) nicht Undank ernten. Wir schreiben ihm (alles) gut.“ [Übers. Paret]
Sure 23:52-61: „’…Und dies ist eure Gemeinschaft. Es ist eine einzige Gemeinschaft. Und ich bin euer Herr. Mich allein sollt ihr fürchten.‘ (53) Und sie fielen in verschiedene Gruppen auseinander mit (verschiedenen) Büchern, wobei jede Gruppe sich (nunmehr in kurzsichtiger Weise) über das freut, was sie (als eigene Lehrmeinung) bei sich hat. (54) Lass sie (d.h. die Ungläubigen) (nur machen! Sie mögen) noch eine Zeitlang in ihrem Abgrund (der Verblendung und Selbstgefälligkeit verharren!) (55) … (61) die sind es, die (im Streben) nach den guten Dingen wetteifern und (den anderen) darin zuvorkommen. …“ [Übers. Paret]
Die Zitate dieser Art haben zudem für die heutige Situation den Vorteil, dass sie die Toleranz implizieren, jedoch nicht durch den Schwertvers (Sure 9:5) als abrogiert gelten.8
Dennoch ist im Textverständnis – und mithin in den Übersetzungen – des Korans durch die Muslime das Wetteifern der existierenden Religionen um die guten Werke nicht mehr erkennbar, weil die Unterschiedlichkeit nurmehr auf Individuen bezogen wird, die nun einmal unterschiedliche Lebenswege zu gehen haben. (Die abrogierten sowie die abrogierenden Verse sind markiert in der Koranausgabe mit Übersetzung: al-Qur??n al-kar?m. Le Coran. Texte arabe et traduction française par ordre chronologique selon l’Azhar, avec renvoi aux variantes, aux abrogations et aux écrits juifs et chrétiens, par Sami Awad Aldeeb Abu-Sahlieh. Vevey: Editions de l’Aire 2008. ISBN: 978-2-88108-849-0, 579 pages.)
5:48 Übers. Bubenheim/Elyas: „…Für jeden von euch haben Wir ein Gesetz und einen deutlichen Weg festgelegt. Und wenn Allah wollte, hätte er euch wahrlich zu einer einzigen Gemeinschaft gemacht. …“
5:48 Übers. Henning/Hofmann: „…Jedem von euch gaben Wir ein Gesetz und einen Weg. Wenn Allah gewollt hätte, hätte Er euch zu einer einzigen Gemeinde gemacht. …“
5:48 Übers. Ibn Rassoul: „…Für jeden von euch haben Wir Richtlinien und eine Laufbahn bestimmt. Und wenn All?h gewollte hätte, hätte Er euch zu einer einzigen Gemeinde gemacht. …“
Soweit ich sehe, bezieht unter den muslimischen Übersetzern einzig Muhammad Asad diese Passagen nicht auf Individuen, sondern auf „the various communities“ und stimmt so mit der Interpretation Parets überein. (Bis zu seiner Konversion 1926 Leopold Weiss, 1900-1992, Freund von König Abd al-Azîz von Saudi-Arabien und wichtiger Politiker im Dienste Pakistans. – Seine nicht in allen muslimischen Kreisen unumstrittene Koranübersetzung ins Englische erschien zuerst 1980. Ich verwende The Message of The Qur??n. Translated and Explained by Muhammad Asad. Bristol: The Book Foundation 2003; printed by Oriental Press, Dubai 2003) ISBN 1-904510-00-0. 1164 Seiten. )

 
So ist es nicht verwunderlich, dass solche Koranstellen für die Obama-Beraterin Mugahid keine Rolle spielten. Noch nicht einmal Fauziya Hasan, die moderne Übersetzerin „Nathans des Weisen“ ins Arabische hat in Nathans Rede (3. Aufzug, 7. Auftritt)

(Gotthold Ephraim Lessing: (Nathan der Weise, arab.:) al-Khawâtim al-thalâtha. Masrahiyyah shi’riyyah fî khamsat fusûl („Die drei Ringe. Dichterisches Bühnenstück in fünf Teilen“). Ta’lîf Gûthûld Ifrâ’îm Lîsîng, targamat Fauzia Hasan. al-Qâhirah: Al-Maglis al-A’là lil-Thaqâfah 2005.)
„Es eifre jeder seiner unbestochnen,
Von Vorurteilen freien Liege nach!
Es strebe von euch jeder um die Wette,
Die Kraft des Steins in seinem Ring an Tag
Zu legen! komme dieser Kraft mit Sanftmut,
Mit herzlicher Verträglichkeit, mit Wohltun,
Mit innigster Ergebenheit in Gott,
Zu Hilf‘! …
… Da wird
Ein weisrer Mann auf diesem Stuhle sitzen
Als ich und sprechen: Geht!“
weder das koranische Gegenstück von 5:48 gesehen, noch erkannt, dass die Formel „innigste Ergebenheit in Gott“ nichts anderes ist als die übliche Übersetzung von „Islam“! Schade, nochmal!

 

Weitere Vorschläge zur kreativen Verwendung von Koranversen

Wir haben gesehen, dass die Koranzitate in der Obama-Rede eine höchst eigenwillige Interpretation darstellen, die nur durch einen unlauteren Umgang mit dem Text möglich ist. An seinen guten Absichten soll hier nicht gezweifelt werden, und auch nicht daran, dass die Mehrheit der Muslime der Überzeugung ist, dass die Zitate echt koranisch sind und endlich in ihrem positiven Sinn auch von einem Nicht-Muslim respektiert werden. Wenn dies Obama gelungen ist, gebührt ihm dafür Dank und Respekt. Er kann damit freilich den koranischen Wortlaut selbst nicht aus der Welt schaffen, und alle, die sich auf den Text einlassen, werden früher oder später erkennen, dass die Toleranz zwischen Religionen nach dem heutigen Textverständnis kein „großes Thema“ dieses Buches ist – eher das Gegenteil! Die drei von Obama zitierten Verse erschienen offenbar als die überzeugendsten, um Toleranz und Friedfertigkeit der koranischen Offenbarung zu präsentieren.

Nur drei Koranzitate finden sich in der Rede, doch die Aussichten auf die Fortsetzung des Dialogs mit der Islamischen Welt („auf Augenhöhe“) bedarf noch weiterer Anstrengungen und Zitate, um den Koran zu einem wahrhaften Monument der Toleranz und Friedfertigkeit zu machen. Hier ein paar Vorschläge, ohne Anspruch auf Vollständigkeit, aber mit der Aufforderung an alle, die glauben, damit dem Dialog einen Dienst zu erweisen, sich kreativ auf die Koranlektüre einzulassen. Dabei führe ich jeweils den kompletten Vers an, unterstreiche jedoch nur die Worte, die im Sinne der Formel „das steht so im Koran!“ verwendet werden können.
Sure 2:111: „Und sie sagen: Niemand wird in den Paradies(garten) eingehen außer, wer Jude oder Christ ist. Das sind ihre Wünsche. Sag: Bringt euren Beweis vor, wenn ihr wahrhaftig seid!“
Sure 5:14: („… Aber verzeihe ihnen und übe Nachsicht …“) „Und (auch) mit denen, die sagen: „Wir sind Christen“ haben Wir [= Allah] ihr Abkommen getroffen. Aber dann vergaßen sie einen Teil von dem, womit sie ermahnt worden sind …“
Sure 5:18: „Die Juden und Christen sagen: „Wir sind Allahs Söhne und seine Lieblinge.“ Sag: Warum bestraft Er euch dann für eure Sünden? …“
Sure 5:69: „Gewiß, diejenigen, die glauben, und diejenigen, die dem Judentum angehören, und die S?bier und die Christen, – wer (immer) an Allah und den Jüngsten Tag glaubt und rechtschaffen handelt, – über die soll keine Furcht kommen, noch sollen sie traurig sein.“
Und so weiter, und so fort …