Allah und der christliche Gott

Karl-Heinz Ohlig

Allah und der christliche Gott

Historisch-theologische und inhaltliche Eigentümlichkeiten (Universität Bochum, Ringvorlesung Katholische Theologie, 29.11.2006),

in: Reinhard Göllner (Hg.), Das Ringen um Gott. Gottesbilder im Spannungsfeld von subjektivem Glauben und religiöser Tradition (Theologie im Kontakt, hrsg. im Auftrag der Katholisch-Theologischen Fakultät der Ruhr-Universität Bochum von Reinhard Göllner, Bd. 15), LIT-Verlag: Berlin 2008, 95-116

 

Bei dem Thema „Allah und der christliche Gott“ soll es nicht um den Begriff Allah gehen, zu dem auch unsere katholischen Glaubensbrüder in Malta oder auch alle arabische Christen beten; dort ist Allah der christliche Gott. Gemeint ist vielmehr eine Beschäftigung mit den christlichen und den muslimischen Vorstellungen über Gott.

Es würde nicht weit führen, hier die im Verlauf der Jahrhunderte entfaltete islamische theologische Tradition zu referieren, die sich – analog zur christlichen Theologie – mit den Eigenschaften Gottes (er ist allmächtig, unendlich, einer usw.) oder mit den 99 Namen Allahs befasst und sie diskutiert: ob sie als real oder nur metaphorisch zu verstehen sind usw. Es soll vielmehr um zwei Aspekte gehen, die immer wieder als zentrale Unterschiede genannt werden: zum einen der muslimische unitarische Monotheismus, der jede „Beigesellung“, damit also auch eine Gottessohnschaft Jesu und die christliche trinitarische Vorstellung ausschließt, zum anderen der muslimische Gott, der zwar barm­herzig, vor allem aber gerecht ist, nach den „Werken“ richtet (Luther nannte den Islam eine Werkreligion) und in seinen Strafandrohungen gegen Ungläubige oft maßlos ist, im Gegenüber zu dem sünderliebenden und erlösenden Gott der Christen.

 

1. Der Monotheismus als gemeinsame Grundlage

Bevor aber die möglichen Divergenzen erörtert werden, soll zunächst auf eine grundlegende Gemeinsamkeit hingewiesen werden: Der muslimische Gott ist wie der jüdische und christliche Gott ein einziger und der einzige Gott; der Islam gehört wie Judentum und Christentum zu den großen monotheistischen Religionen.

Der Monotheismus ist erstmalig in der Religionsgeschichte im exilischen Judentum entstanden, das in der Diaspora und in täglicher Konfrontation mit den mächtigen Gottheiten der herr­schen­den Babylonier seinen tradierten oder vor dem Exil wenigstens postulierten Monokult Jahwes nur weiter praktizieren konnte, wenn es dies auch theoretisch begründete; Jahwe ist der einzige Gott – alle anderen Götter sind Nichtse, so literarisch erstmals bei dem Exilspropheten Deuterojesaja. Von diesem jüdischen Monotheismus war auch Jesus geprägt, und der Glaube an den Gott Israels und Vater Jesu gehört zum wichtigsten Erbe des Christentums. Durch Vermittlung des syrischen Christen­tums hat auch der Islam dieses Konzept übernommen.

Diese Gemeinsamkeit ist fundamental, wichtiger als alle Unterschiede. Soweit wir die religiöse Geschichte der Menschen zurück­verfolgen können, haben diese immer ihre Ohnmacht, Sinnoffenheit, Sündigkeit erfahren und Hoff­nungen gesetzt auf Instanzen, die nicht der Naturwelt und nicht der Geschichte zugehören, die also – in welcher Form der Reflektiertheit auch immer – transzendent sind. Diese Instanzen wurden mehr als zwei Millionen Jahre lang im Sinne unpersönlicher, sachhafter Kräfte – in etwa das, was der polynesische Begriff mana meint – ver­standen, seit Beginn der Hochkulturen, ab 3000 v.Chr., als menschenanaloge Wesen, die Götter. Überall in der Welt entstanden polytheistische Relilgionen. Einige ungefähr in und seit der Mitte des ersten vorchristlichen Jahrtausends entstandene Religionen, die so genannten universalen Religionen, haben polytheistische Vorstellungen – wenigstens prinzipiell – überwunden und setzen auf eine Gottheit als Orientierungspunkt für die menschliche Sinnfrage.

Diese eine Gottheit wird in den fernöstlichen Religionen Indiens und Chinas, tendenziell auch im Hellenismus, als ein sachhaftes Prinzip, Urgrund der Welt, das all-eine Göttliche, das nichts von sich weiß und nicht handlungsfähig ist, ver­standen. Diese Religionen bezeichnet man als „monistisch“ (eine Vertiefung des Pantheismus). Die monotheistischen Religionen dagegen sehen in diesem einen Gott, menschenanalog, den personalen Adressaten, der der Welt als der ganz andere – als Schöpfer der Kreatur – gegenübersteht und handelt, ein Subjekt, an das man sich wenden kann.

Bis heute stehen sich diese beiden religiösen Deutekonzepte von Welt, Ge­schichte und Mensch, Monismus und Monotheismus, gegenüber. Aus dieser Divergenz resultieren gänzlich unterschiedliche religiöse Vorstellungen und Ethiken. In den fernöstlichen Religionen – soweit sie in der Volkspraxis nicht wieder in Polytheismen zurückgefallen sind – muss der Mensch seinen Weg selbst gehen, weil ihre Gottheit – ein sachhaftes Prinzip – nicht helfen kann („Selbsterlösung“). Menschen in diesen Traditionen interpretieren ihre Unerlöstheit bzw. Sinnlosigkeit als Diastase, als Getrenntsein von dem all-einen Ganzen. Deswegen ist ihr soteriologisches Ziel die Über­windung der eigenen Misere durch eine Aufhebung des eigenen Selbst in das große Ganze der Gott­heit – ein überindividueller Glückszustand. Damit dieses Ziel erreicht werden kann, muss auf dem Weg dorthin jede Bindung an die Geschichte, an die Mitmenschen und sich selbst überwunden werden, so dass der Einheit mit dem Göttlichen nichts mehr im Weg steht. Die monotheistischen Religionen setzen dagegen auf die Hilfe Gottes, der am Anfang und Ende der Ge­schichte steht („Fremderlösung). Sie hoffen, dass die Geschichte und sie selbst in ihm eine Zukunft haben, auch ihre individuelle Existenz von ihm gewollt ist, Bestand hat und nicht einfach ein Produkt zufälliger Naturprozesse ist, in die sie wieder zurückfallen und sich nivellieren. Mehr an grundlegenden Alternativen scheint es nicht zu geben: Entweder ist unsere Geschichte ­ und sind auch wir – eine evolutive Laune der Natur und haben keinen Bestand, oder wir hoffen, dass diese Geschichte ­ und so auch wir – bei einem personalen Adressaten aufgehoben sind und eine Zukunft haben.1

Diese Gemeinsamkeit der monotheistischen Religionen ist fundamental. Sie alle bieten eine Deutemöglichkeit für die erhoffte Gültigkeit menschlichen Lebens und für die bleibende Würde des Menschen an. Der Glaube an Jahwe, Gott oder Allah ermöglicht eine Sinn­deutung, die derjenigen der anderen Weltreligionen diametral entgegengesetzt ist: Hoffnung auf bleibende Gültigkeit von Mensch, Geschichte, Individuum versus Sehnsucht nach Selbstaufhebung in das All-Eine, damit verbunden eine Ethik, die sich den anderen Menschen und der Weltgestaltung verpflichtet sieht, versus eine Fixierung auf die Befreiung des Selbst aus allen Bindungen.

Weil die religiösen Auffassungen in dem einen personalen Gott verankert werden, werden sie, nach der Art, wie Personen etwas mitteilen – indem sie sprechen –, als Offen­barungen dieses Gottes aufgefasst. Monotheistische Religionen verstehen sich als Offenbarungsreligionen, im Unterschied zu den monistischen Religionen, deren Schriften „heiliges Wissen“ wiedergeben.

Der Islam verkündet, mit uns, den einen personalen Gott. Nur in einem Punkt kennt der koranische Monotheismus eine Abschwächung. Zwar ist Gott der Schöpfer von Himmel und Erde, aber er findet eine „Materie“ vor: Himmel und Erde waren eine „zusammenhängende Masse“ (S. 21,30), die Allah gestaltete; der Himmel bestand aus „form­losem Rauch“ (S. 41,11), den er zu sieben Himmeln formte (S. 2,29). Der Koran setzt also vor­aus, dass es immer schon chaotische Stoffe gab, die Allah lediglich gestaltet, aber nicht geschaf­fen hat. Erschaffen bedeutet im Koran die Gestaltung vorhandener Materie, denkt also das „Monos“ des Monotheismus in dieser Hinsicht nicht zu Ende.2

Weil sich der Monotheismus historisch erst in den jüdischen Gemeinden im babylonischen Exil gebildet hat, erweist sich eine Berufung auf Abraham und die deswegen häufig beschworene Gemeinsamkeit der so genannten abrahami­tischen Religionen als nichtssagend oder allenfalls als poetische Floskel. Abraham ist eine legen­darische Gestalt. Die schönen Erzählungen über ihn verlegen ihn in die Vorzeit Israels, als weder der Name Jahwe noch ein Monotheismus gegeben waren. Abrahams Gott ist also weder der monotheistische Jahwe Israels noch der Vater Jesu, noch ist sein Glaube der des Islam. Zwar werden die Abrahamerzählungen in allen drei Religionen positiv aufgegriffen, aber sehr unter­schiedlich gedeutet und so für die eigenen Zwecke benutzt. Von diesem mythischen Material her lässt sich keine Gemeinsamkeit herleiten, jedenfalls keine verwertbare inhaltliche Aussage.

 

 

1 Vgl. hierzu vom Verf., Religion in der Geschichte der Menschheit. Die Entwicklung des religiösen Bewusstsein, Darmstadt 12002, 22006, 247-258.

2 Vgl. genauer hierzu vom Verf., Weltreligion Islam. Eine Einführung, Mainz, Luzern 2000, 96-100.

 

2. Der koranische Monotheismus

Die Gemeinsamkeit christlicher und islamischer Gottesvorstellungen reicht aber noch tiefer, als es der Verweis auf den Monotheismus zeigen kann. Wer Allah für die Muslime ist, soll kurz anhand koranischer Aussagen – nicht aus der späteren Tradition – aufgezeigt werden; ich zitiere hier aus der Übersetzung von Rudi Paret.3

Der Koran ist gänzlich von dem Grundthema der Einzigkeit Allahs, dessen Macht keine Minderung durch Teilhaberschaft zulässt, geprägt. Dem Koran vorangestellt ist ein Gebet, wohl eine spätere redaktionelle Einleitung, die Sure 1 Fatiha (die Eröffnende). Dort heißt es: „1 Im Namen des barmherzigen und gnädigen Gottes. 2 Lob sei Gott, dem Herrn der Menschen in aller Welt, 3 dem Barmherzigen und Gnädigen, 3 der am Tag des Gerichts regiert. 5 Dir dienen wir, und dich bitten wir um Hilfe …“. Der logische Schluss des Koran ist Sure 112 – die Suren 113 und 114 bieten später zugefügte Zaubersprüche –. In ihr heißt es: „1 Sag: Er ist ein Einziger, 2 Gott, durch und durch (?), 3 Er hat weder gezeugt, noch ist er gezeugt worden. 4 Und keiner ist ihm ebenbürtig.“ Hier klingt schon eine Ablehnung jeder Gottessohnschaft (Jesu) an; die Einzigkeit und alleinige Macht Gottes schließt jede Teilhabe, etwa durch einen Sohn, aus (er hat nicht gezeugt).

Zwar scheint noch in einigen Koranhandschriften des 9. und 10. Jahrhunderts die Sure 53,19-25, anders gelautet zu haben als im heutigen Text und von drei vorderasiatischen Göttinnen (al-Lat, al-Ussa und Manat) gesagt worden zu sein: „Das sind die erhabenen Kraniche. Auf ihre Fürbitte darf man hoffen.“ Sie wären also dem Bereich Gottes zuzuordnen. Wir wissen davon, weil sich zwei muslimische Korankommentatoren, Ibn Sa’d, gest. 845, und at-Tabari, gest. 923, mit diesem Text, der in ihren Koranhandschriften stand, auseinandersetzen mussten; sie führen ihn auf eine Einflüsterung des Satans zurück. Diese „sata­nischen Verse“, deren Verwendung Salman Rushdie4eine Fatwa eingebracht hat, sind aber im heutigen Koran und in allen bisher bekannten Koranhandschriften getilgt worden; im heutigen Text wird zurückgewiesen, dass diese Göttinnen Töchter Allahs seien (S. 53). „21 Sollen euch die männlichen Wesen zukommen und Gott die weiblichen (die ihr Menschen für euch nicht haben wollt)? 22 Das wäre eine ungerechte Verteilung. 23 Das sind bloße Namen, die ihr und eure Väter aufgebracht haben, und wozu Gott keine Vollmacht herabgesandt hat …“.

Abgesehen von dieser unsicheren Passage ist der Koran eindeutig monotheistisch. Hierbei steht der Gedanke seiner alleinigen Herrschaft – nicht seines Seins – im Vordergrund; abgelehnt wird jede Teilhabe an seiner Macht durch einen Sohn oder auch Kinder generell. In Sure 16,51-54, spricht Gott in der dritten, nicht wie sonst meist in der ersten Person – es handelt sich also um eine Art von kommen­tierendem Satz: „51 Und Gott hat gesagt: nehmt euch nicht zwei Götter! Es gibt nur einen einzigen Gott. Vor ihm (allein) sollt ihr darum Angst haben!“

Einige Aussagen verraten auch noch ein polytheistisches Umfeld und sind in der Argumentation ein wenig untheologisch, so in Sure 6,100.101, in der – wiederum reflexiv: Gott in der dritten Person – gesagt wird, dass „sie“ (Paret: die Ungläubigen) „Dschinn zu Teilhabern Gottes“ machen und ihm „Söhne und Töchter“ andichten. Dann heißt es (V. 102): „… Wie soll er zu Kindern kommen, wo er doch keine Gefährtin hatte (die sie ihm hätte zur Welt bringen können) …“, eine eigentümliche Argumentation.

In der Regel aber wird die alleinige Herrschaft Gottes der hellenistischen Christologie kon­trastiert, der zufolge Jesus Sohn Gottes bzw. das inkarnierte Wort Gottes ist, seit dem Konzil von Nizäa 325 sogar „gleichwesentlich mit dem Vater“. Dagegen wird Jesus im Koran Knecht Gottes, Messias, Gesandter, Prophet genannt, so dass er Gott kreatürlich untergeordnet ist: (S. 3,29) „Jesus ist (was seine Erschaffung angeht) vor Gott gleich wie Adam. Den schuf er aus Erde. Hierauf sagte er zu ihm nur: sei! Da war er“. In S. 5,17 wird ausgeführt, dass Gott Christus auch hätte zugrunde gehen lassen können; „er schafft, was er will“.

Der Messias Jesus wird infolgedessen nicht Sohn Gottes, so der bevorzugte griechische Hoheits­titel, sondern „Sohn der Maria“ genannt (S. 5,75). In S. 4,171 heißt es: „Ihr Leute der Schrift! Treibt es in eurer Religion (?) nicht zu weit und sagt gegen Gott nichts aus, als die Wahrheit. Christus Jesus, der Sohn der Maria, ist nur der Gesandte Gottes und sein Wort, das er der Maria entboten hat, und Geist von ihm … Gott ist nur ein einziger Gott … (Er ist darüber erhaben, ) ein Kind zu haben … Christus, der Sohn der Maria, ist nur ein Gesandter Gottes“, und Jesus selbst sagt (S. 3,51): „Gott ist mein und euer Herr. Dient ihm.“

So richtet sich das Bekenntnis zum Monotheismus im Koran immer auch, oder vor allem, gegen die helleinistische (zwei-Naturen-) Christologie, ist also antibinitarisch. Die Trinität selbst wird selten erwähnt, so z.B. in S. 4, 171: „… glaubt an Gott und seinen Gesandten [Jesus] und sagt nicht „drei’“, und in S. 5,73: „Ungläubige sind diejenigen, die sagen: „Gott ist einer von dreien. Es gibt keinen Gott außer einem einzigen Gott.“ In S. 5,116 wird die eigentümliche Meinung sichtbar, die Trinität bestehe aus Gott, Jesus und Maria. Es heißt dort: „116 Und (damals) als Gott sagte: „Jesus, Sohn der Maria! Hast du (etwa) zu den Leuten gesagt: „Nehmt euch außer Gott mich und meine Mutter zu Göttern?’ Er [Jesus] sagte: „Gepriesen seist du! Ich darf nichts sagen, wozu ich kein Recht habe … 117 Ich habe ihnen nur gesagt, was du mir befohlen hast (nämlich): „Dient Gott, meinem und eurem Herrn!’“. Jesus bestreitet also, dass seine Vergöttlichung auf ihn selbst zurückgeht.

Im Resultat lässt sich also feststellen, dass der Koran einen unitarischen Monotheismus vertritt, der in der Regel zugleich antibinitarisch, seltener antitrinitarisch und einmal auch gegen eine nichtchristliche Auffassung von Söhnen und Töchtern Gottes gerichtet ist.

 

 

3 Der Koran. Übersetzung von Rudi Paret, Stuttgart, Berlin, Köln, Mainz 92004.

4 Salman Rushdie, Die satanischen Verse (Originaltitel: The Satanic Verses, 1988), Artikel 19 Verlag 1989.


3. Die syrisch-vornizenische Theologie des Koran

Ist somit die islamische Gottesauffassung in diesem Punkt ein Gegensatz zur christlichen Vor­stellung von Gott, die einen trinitarisch differenzierten Monotheismus – der eine Gott in drei Hypostasen, so in der griechischen Kirche, oder in drei Personen, so in der lateinischen Kirche – lehrt? Dies wäre natürlich möglich, weil sich der Islam in christlichem Umfeld gebildet hat und dann von vorneherein eine Gegenposition bezogen hätte.

Zwei Gründe aber sprechen dagegen: Zum einen versteht sich der Koran, von wenigen sehr späten Stellen abge­sehen, als ein Buch, das die Schrift, Thora und Evangelium, bekräftigen will. Zwar wird pole­mi­siert gegen falsche Meinungen von anderen Schriftbesitzern; diese aber sind Verfälschungen von Thora und Evangelium. Der Koran ist überzeugt, die Lehre der Schrift wiederzugeben. So heißt es noch in der späten Sure 2,89: „Und als (nun) von Gott eine Schrift (d.h. der Koran) zu ihnen kam, die das bestätigte, was ihnen (als Offenbarung bereits) vorlag, … glaubten sie nicht daran.“ Der Koran bestätigt die Schrift, d.h. er hält seine Gottesauffassung und Christologie für schrift­gemäß – was ja keineswegs anti-christlich ist.

Zum anderen ist es historisch äußerst unwahrscheinlich, dass ein Konzept, das schon vorher eine lange christliche Tradition hatte, in deren Kontext es entwickelt wurde, gewissermaßen noch einmal „neu erfunden“ wird. Das will heißen: Die im Koran vertretene Gottesvorstellung und Christologie wurden innerhalb des Christentums selbst gebildet und prägten lange Jahrhunderte hindurch große christliche Regionen. Ein vom Machtgedanken geprägter unitarischer Monotheismus und eine Christologie, die Jesus als gottgesandten Menschen, also ihn selbst als nicht göttlich ansieht, ist das Konzept des syrischen Christentums in vornizenischer Zeit (übrigens auch: der synoptischen Evangelien).

Hierzu einige Erklärungen: Die christliche Theologiegeschichte wird in Forschung und Lehre in der Regel „westorientiert“ betrieben. Im Mittelpunkt stehen die christologischen und trinitari­schen Entwicklungen der griechischen, lateinischen und späteren abendländischen Kirche. Die große syrische Kirche, die vom Mittelmeer bis nach Indien reichte, wird erst in den letzten Jahren – von wenigen – in den Blick genommen. Bisher war lediglich deren westlicher Teil – vom Euphrat bis zum Mittelmeer –, der zum Römischen Reich gehörte, Gegenstand von Unter­suchungen. Die dort vertretene so genannte antiochenische Theologie und Christologie, bis hin zum Nestorianismus, erschienen dann nur als häretische Abweichungen von „der“ christlichen Lehre, nämlich der hellenistischen Theologie des imperium.

Man weiß, dass in der westsyrischen Theologie der so genannte „Monarchianismus“ gelehrt wurde, ein unitarischer, vom Machtgedanken geprägter Monotheismus. Die biblischen Aussagen zum Wort Gottes und zum Geist Gottes (oder Jesu) werden als Hinweise auf die Wirkungen des einen Gottes nach außen, als Kräfte – Dynameis – Gottes verstanden: der so genannte dynamische Monarchianismus. Damit ver­bunden wurde Jesus als Mensch gesehen, der sich mehr als andere durch die Gnade Gottes ethisch bewährt hatte, so dass wir in seiner Nachfolge ebenfalls uns bewähren können – die antiochenische „Bewährungschristologie“.

Eine Schrift der sogenanten Apostolischen Väter, die uns auch den ältesten Text des eucharistischen Hochgebets überliefert, die Didache, im 2. Jahrhundert in Syrien entstanden, nennt Jesus „Knecht Gottes“, in einer anderen Schrift, dem Martyrium des Polykarp, wird Gott als „Vater dieses geliebten und gelobten Knechtes Jesus Christus“ ange­redet (ebenso übrigens der in Rom verfasste Erste Klemensbrief). Das Gottesbild ist in dieser Tradition monarchia­nisch, Jesus ist „nur“ Knecht Gottes.5

Der Bischof Paul von Samosata am Euphrat (gest. nach 272) lehnt eine Göttlichkeit Jesu ab; er sagte, „zwei Götter würden verkündet, wenn der Sohn Gottes als Gott gepredigt werde“6; Paul lehrte, dass Jesus Christus uns gleich ist – also Mensch –, „aber besser in jeder Beziehung“ wegen der „Gnade, die auf ihm ruhte“.7 Aus dieser Tradition kommt auch Arius, der sich aber in Alexandrien mit einer dominierenden hellenistischen Christologie auseinander­setzen musste; der Logos ist für ihn geschöpflich, wenn auch das vornehmste Geschöpf.

Auf dem Konzil von Nizäa 325 wurde, nicht ohne den Einfluss des Kaisers Konstantin, damals noch Heide, die hellenistische Christologie etabliert. So setzte sich im Römischen Reich das Bekenntnis zur Göttlichkeit Jesu durch: Der Sohn ist „Gott aus Gott, Licht aus Licht, wahrer Gott aus wahrem Gott, gezeugt, nicht geschaffen“, und er ist „gleichwesentlich mit dem Vater“ (homoúsios); vom heiligen Geist wird nichts Genaueres gesagt, er wird nur erwähnt.

Man kann nachlesen, wie schwer es der nachnizenischen westsyrischen Theologie fiel, mit dieser Lehre zu leben. Noch Theodor von Mopsuestia (gest. 428) schreibt von Jesus: „Mensch ist Jesus … Der Mensch Jesus ist ähnlich allen Menschen, in nichts von den (ihm) gleichwesentlichen Menschen sich unterscheidend als in der Gnade.“8 Er lobt an Jesus, dass er sich „nach größter Möglichkeit um vollkommenste Tugend“ bemühte9: Der Logos „trieb ihn an zur größtmöglichen Vollkommenheit und bewirkte ein Übermaß an Mühe sowohl der Seele wie des Leibes, und auf diese Weise bereitete er ihm eine übergroße und mühelose Vollendung der Tugend“10. Daneben aber mussten sich die Westsyrer mit Nizäa auseinandersetzen, dessen Christo­logie und Gotteslehre schließlich siegreich wurden. Die Lösung wurde durch zwei Aussagen versucht: Den nizenischen Sohn bzw. Logos setzten die Westsyrer möglichst mit Gott schlechthin in eins, so dass seine hypostatische Sonderheit vernachlässigt werden konnte, und Jesus sahen sie weiterhin als Menschen an, der auf Grund der Gnade, die auf ihm ruhte, und seiner Bewährung mit dem Gott-Logos existenziell ganz eng verbunden war.

Die größere ostsyrische Kirche vom Euphrat bis Indien gehörte zum Perserreich und war an den Diskussionen im Römischen Reich nicht beteiligt. Sie vertrat die oben geschilderte vornizenische Theologie: Gott ist einer (er allein hat die Herrschaft), Jesus ist sein Gesandter, Knecht, Prophet und Messias. Erst im Jahre 410 führte sie – nach Verfol­gungszeiten – in der Hauptstadt des Sassanidenreichs Seleukia-Ktesiphon (ungefähr dort, wo heute Bagdad liegt) eine Reichssynode durch, in der sie, obwohl sie sich als autonome – autokephale – Kirche verstand, die Beschlüsse von Nizäa anerkannte. Es dauerte aber in vielen Regionen bis ins 6. Jahrhundert hinein, bis die Lehre vom gleichwesentlichen Gottessohn auch in der ostsyrischen Kirche verbreitet wurde.

Noch der syrische Theologe Aphrahat (gest. nach 345) wusste nichts von Nizäa und erklärte die neutestamentliche Formel vom Gottessohn Jesus mit Rückgriff auf das Alte Testament: „Denn der ehrwürdige Name der Gottheit wurde auch gerechten Menschen beigelegt und denen, die seiner würdig waren. Die Menschen, an denen Gott sein Wohlgefallen hatte, nannte er „meine Söhne’ und „meine Freunde’.“11 Als Beispiele erwähnt er Mose, Salomo und auch das ganze Volk Israel, die Sohn Gottes genant werden. „Wir haben ihn (Jesus) Gott genannt, wie er (Gott) auch Mose mit seinem eigenen Namen bezeichnet hat.“ Jesus ist also nach Aphrahats Meinung nicht mehr oder anders Gottes Sohn als Mose. Und ganz grundsätzlich formuliert er: „Denn der Name der Gottheit ist zu großer Ehre in der Welt gegeben, und Gott legte ihn dem bei, an dem er seinen Gefallen hat.“12 Dass alle diese Geehrten durch die Verleihung des Titels nicht wirklich Gott wurden, liegt auf der Hand. Dies gilt auch für den Sohn Gottes Jesus.

Mit der Verbreitung des Glaubensbekenntnisses von Nizäa, ein früher Zeuge im Osten ist Ephräm der Syrer (gest. 373), änderte sich das. Ephräm stammt aus Nisibis, wurde aber später Bischof in Edessa, das damals unter Römischer Herrschaft stand. Dort gehörten Nizäa, der antiarianische Kampf, somit eine binitarische Theologie und Jesus als physischer Sohn Gottes zu den Vorgegeben­heiten. Diese rezipiert er verbal, ohne aber seine syrischen Vorgaben hinter sich zu lassen. Er bleibt Monarchianer und redet dennoch vom gleichwesentlichen Sohn, d.h. seine Theologie ist widersprüchlich, was er hinter einer poetischen Sprache zu verbergen versucht.

So bleibt es in der Folgezeit. Die syrischen Theologen lassen spüren, wie wichtig ihnen der eine Gott und Jesus als exemplarischer Mensch sind. Aber sie nennen Jesus zunehmend auch Wort Gottes und sprechen von Gott und dem Logos. Seit dem 5. Jahrhundert wird in der syrischen Großkirche auch die im Westen erfolgte Ausbildung einer Trinitätslehre übernommen: durch das Wirken der Kappadokier, vor allem des Basilius von Cäsarea, war in der zweiten Hälfte des 4. Jahrhunderts in der Kirche des Römischen Reichs auch der Geist als göttliche Hypostase anerkannt und auf dem Ersten Konzil von Konstantinopel 381 bestätigt worden. Die Übernahme dieser trinitarischen Konzeption bedeutete einen weiteren Schritt in der Hellenisierung auch der ostsyrischen Kirche.

 

 

5 Vgl. hierzu vom Verf., Ein Gott iin drei Personen? Vom Vater Jesu zum ‚Mysterium’ der Trinität, Mainz, Luzern 11999, 22000, 40.41.

6 Paul von Samosata, Aus dem Hymenäusbrief, in:Friedrich Loofs, Paulus von Samosata. Eine Untersuchung zur alrkirchlichen Literatur- und Dogmengeschichte, Leipzig 1924, 324.

7 Paul von Samosata, Fragmente aus dem Synodalbrief, 5, in: F. Loofs, ebd. 331.

8 Theodor von Mopsuestia, De incarnatione, griechische, lateinische und syrische Fragmente, in: H.B.Swete, Theodori episcopi Mopsuesteni in epistolas B. Pauli Commentarii, Bd. II, Cambridge 1882, 291.

9 Theodor von Mopsuestia, ebd., in: H.B. Swete, ebd. 296.

10 Theodor von Mopsuestia, ebd., in: H.B. Swete, ebd. 298.

11 Aphrahatis Sapientis Persae Demonstrationes 17, 3.4. Deutsch in: Aphrahat, Unterweisungen, aus dem Syrischen übersetzt und eingeleitet von Peter Bruns (Fontes Christiani Bd. 5.1), Feiburg, Basel, Wien u.a. 1991, 419.420.

12 Aphrahat, Unterweisungen, Darlegung 17, 5; deutsch: ebd. 420.

 

4. Die koranische vornizenische Theologie

Die koranische Gottesauffassung ist also nicht neu oder spezifisch islamisch. Sie stimmt vielmehr mit der christlich-syrischen Theologie überein, die noch nicht von Nizäa – einer Binitätslehre – oder später von der Trinitätslehre beeinflusst war. Wir begegnen also in der islamischen Gottesauffassung – religionswissenschaftlich – nicht einer fremden Religion, sondern der eigenen christlichen Vergangenheit. Es gibt in dieser Frage keinen Konflikt zwischen Allah und dem christlichen Gott, sondern nur einen Konflikt im Christentum selbst, das sich über seine eigene komplexe Tradition keine Rechenschaft gibt.

Zur Zeit der Entstehung des Koran waren auch in der ostsyrischen Kirche Jesus Christus als gleich­wesentlicher Sohn, vom Vater gezeugt, und auch die Göttlichkeit des Geistes anerkannt. Im Koran aber begegnen wir einer ostsyrischen Theologie, die Nizäa noch nicht rezipiert hat. Dies lässt sich historisch nur so erklären, dass die Gemeinden, die den Koran theologisch geprägt haben, noch im 7. und 8. Jahrhundert eine vornizenische ostsyrische Theologie vertreten haben. Die Araber bzw. ihre Vorläufer müssen schon früh missioniert worden sein, und sie hielten auch in der Folgezeit an dem Christentum ihrer Anfänge fest und verteidigten es später gegen die zunächst binitarische, seit dem 5. Jahrhundert auch trinitarische Entwicklung.

 

 

 

Nach der muslimischen Tradition gehen die koranischen Verkündigungen auf den arabischen Propheten Mohammed zurück, der von 570 bis 632 auf der arabischen Halbinsel lebte. Er stammte aus Mekka, wo er auch lange Zeit wohnte. Im Jahr 610 soll er angefangen haben zu predigen, hatte aber in Mekka nicht viel Erfolg. Im Jahr 622 zog er deswegen um in die Stadt Jathrib, das spätere Medina. Dieser Umzug, die Hidschra, wurde seit dem 9 Jahrhundert zum Beginn der islamischen Zeitrechnung, die nach Mondjahren gerechnet wird. In Medina konnte Mohammed, nach Vertreibung und Ermordung dort wohnender Juden, die erste muslimische Gemeinde gründen.

Er wurde in der Folgezeit durch Überfälle auf Karawanen reich, bis die Mekkaner eine größere Truppe gegen ihn sandten. Diese konnte er besiegen und zog 630 wieder nach Mekka zurück. In den zwei Jahren bis zu seinem Tod konnte er die arabische Halbinsel unter seiner religiösen und politischen Führung vereinen. Nach seinem Tod haben seine Nachfolger in der politischen Leitung der Ge­meinschaft, der umma, in wenigen Jahrzehnten den Vorderen Orient bis an die Grenze Indiens, Ägypten, Nordafrika sowie Spanien erobert. Unter seinem dritten Nachfolger, Osman, seien 18-24 Jahre nach dem Tod Mohammeds, seine Sprüche zum heutigen Koran zusammengefasst worden.

Diese muslimische Geschichtsschreibung wird auch von den meisten westlichen Islamwissen­schaftlern bis heute geteilt. Erst seit wenigen Jahren ist hier Bewegung aufgekommen13; denn das Problem bezüglich dieser Darstellung ist, dass sie aus der muslimischen Literatur des 9. und 10. Jahrhunderts – vorher gibt es keine – stammt, aus einer Zeit, als Mohammed zur Identifikationsfigur mächtiger Groß­reiche geworden war – 200 bis 300 Jahre nach den behaupteten Ereignissen. Auch erst im 9. Jahrhundert wird behauptet, der Koran sei schon unter dem dritten Kalifen Osman zusam­men­gestellt worden.

Nun zeigen die ältesten Handschriften des Koran aus der zweiten Hälfte des 8. Jahrhunderts, dass dieser damals noch nicht fertig vorlag, sondern eine längere Entwicklungsgeschichte, wahr­schein­lich bis ins 9. Jahrhundert hinein, hatte; die erste Ganzschrift stammt von 870 (?).

Dabei gibt es noch eine zweite Schwierigkeit: Die ältesten Handschriften bieten, wie alle semi­tischen Schriften, keine Vokalzeichen, sondern nur Konsonanten. Während letztere aber im Hebräischen oder Syrischen eindeutig sind – jeder Konsonant wird mit einem eigenen Zeichen geschrieben –, kennt die arabische Schrift nur sieben von 28 eigentlich erforderlichen Kon­sonantenzeichen, die eindeutig sind; die restlichen 21 Zeichen sind mehrdeutig und können zwei bis fünf verschiedene Konsonanten bezeichnen. Die Zeichen werden erst eindeutig durch die so genannten diakritischen Punkte – ein bis drei Punkte, die über oder unter dem Zeichen angebracht werden.

Die alten Koranhandschriften aber kennen keine diakritischen Punkte, sie sind in einer scriptio defectiva geschrieben, also mehrdeutig. Sie können verschieden gelesen werden, und erst bis zum 9. Jahrhundert wurden die defektiven Texte durch Plene-Schreibung eindeutig festgelegt. Die An­bringung diakritischer Punkte sowie der Vokalzeichen aber beruht dann auf einem Interpretationsvorgang der jeweiligen Schreiber; die alten Texte könnten auch anders gelautet haben, als sie später gelesen wurden. So ist der genaue Inhalt des Koran in der heutigen arabischen Interpretation, also auch die Übersetzungen, historisch und philologisch unklar.

Hinzu kommt die Schwierigkeit, dass gemäß den Forschungen des Semitisten und Arabisten Christoph Luxenberg14 viele Passagen des Koran nicht in arabischer Sprache verfasst sind, sondern mit arabischen Schriftzeichen geschriebene syro-aramäische Wörter und Sätze bieten. Durch die syro-aramäische Lesung wurde es auch erstmals möglich, die sogn. dunklen, d.h. unverständlichen Passagen des Koran – etwa ein Viertel des Textes – sinnvoll und zu ihren Kontexten passend zu übersetzen. Diese These hat aber der Sache nach auch schon der damals hier in Bochum lehrende Islamwissenschaftler Gerhard Endreß (sein Beitrag wurde nicht beachtet) vertreten.15 Aufgrund dieses Sachverhalts enthält der Korantext sehr viele christliche Begriffe und auch Passagen, die durch die später angebrachten diakritischen Zeichen umgedeutet bzw. verlesen wurden.

Der in seinem genauen Inhalt erst noch zu erschließende Koran aber bietet weder biographische Aussagen zu einem arabischen Propheten noch lässt er erkennen, dass er auf der Arabischen Halbinsel spielt. Der Begriff Mohammed kommt nur viermal vor; nur an einer Stelle ist eindeutig der arabische Prophet gemeint (zum Vergleich: Jesus wird 24mal, Mose 136mal, Maria 34mal erwähnt). Nur einmal wird, ohne genaueren Zusammenhang, ein „Talgrund von Mekka“, drei Mal Medina (falls dies nicht einfach nur „Stadt“ bedeutet) erwähnt. So lässt uns der Koran mit der historischen Frage nach den Anfängen des Islam allein.

Welche Quellen aber haben wir? Für den Historiker kommen immer nur zeitgenössische Quellen, anhand derer man Abläufe, annäherungsweise, rekonstruieren kann, in Frage.

Nun gibt es das seltsame Faktum, dass es keinerlei muslimische Literatur aus den ersten beiden islamischen Jahrhunderten gibt. Wohl aber gibt es eine Fülle von christlicher Literatur dieser Zeit von Autoren – Griechen, Syrer, Ägypter –, die unter arabischer Herrschaft lebten. Die christ­lichen Theologen aber haben bis gegen Ende des 8. Jahrhunderts ihr altes Geschäft weiterbetrieben: Sie schrieben z.T. umfängliche Schriften, in denen sie christliche Gegner bekämpften; sie schrieben gegen Monophysitismus, Monotheletismus, Chalkedonismus, als hätte sich nichts geändert. Neben den theologischen Traktaten gibt es eine Fülle von Briefen, Chroniken, Heiligenviten und Apokalypsen.

In den meisten dieser Schriften kommt die neue arabische Herrschaft überhaupt nicht vor. In seltenen Bei­spielen wird beiläufig – meist nur in wenigen Zeilen – auf sie eingegangen. Nirgendwo ist dabei von Invasionen oder Eroberungen der Araber, nur von ihrer Herrschaft, die Rede. Die neuen Herrscher werden in der Frühzeit sogar positiv erwähnt, weil unter ihnen, wie ein syrischer Patriarch schreibt, das Christentum blüht und gedeiht.16

Tatsächlich wurden damals, wie die Archäologie zeigen kann, viele Klöster gegründet und christ­liche Mission bis nach China betrieben. Erst gegen Ende des 7. Jahrhhunderts wird die Araberherrschaft als Last empfun­den, in den Apokalypsen sogar als eine Art endzeitlicher Bedrohung.

Nirgends aber wird, vor dem 9. Jahrhundert, von einer neuen Religion der Araber gesprochen oder gar vom Islam17. So schrieb z.B. der Theologe und katholische Kirchenlehrer Johannes Damascenus, um 750 gestorben, dessen Vater und er selbst vorübergehend als Finanzbeamte am Hof von Damaskus tätig waren – also ein Kenner der arabischen Herrschaft – ein Buch gegen die Häresien. Die hundertste und letzte Häresie ist dort die der Ismaeliten, der Araber; er wirft ihnen vor, die Gottessohnschaft Jesu zu leugnen – er selbst ist byzantinisch denkender Theologe. Er betrachtet also die Religion der Araber als eine christliche Häresie, wie auch die anderen 99 in seinem Buch, die oft tatsächlich wunderliche Lehren besaßen. Die arabischen Herren waren nach seiner Meinung Christen, genauer: häretische Christen, und – wie seine Mitteilungen sowie die koranische Tradition nahelegen – Anhänger einer frühen syrischen Theologie.

Für eine Rekonstruktion der damaligen Verhältnisse aber gibt es Quellen, die unverdächtig sind: neben einer Reihe von Inschriften vor allem die zahlreichen Münzprägungen der arabischen Herrscher, die auf den Münzen ihr Programm in kurzer Symbolik einprägten. Diese Münzen sind beinahe immer datiert und verraten den Präge­ort, meist, aber nicht immer den Namen des Prägeberechtigten.

Die ältesten arabischen Münzen – ich stütze mich hier auf die Arbeiten des Islamwissenschaftlers, Iranisten und Numismatikers Volker Popp18 – datieren aus dem Jahr 641 und geben eine Jahreszahl „nach den Arabern“ an. Eine Inschrift an den Bädern von Gadara in Galiläa trägt eine dreifache Zeitangabe: nach byzantinischen Steuerjahren, nach der Geschichte der Stadt und „nach den Arabern“. Daraus ergibt sich, dass das Jahr 1 der Araber das Jahr 622 war, gezählt nach Sonnenjahren.

622 war gemäß der muslimischen Tradition die Hidschra des Propheten von Mekka nach Medina, die allerdings literarisch erstmals im 9. Jahrhundert genannt wird. Nun hat die dänisch-amerikanische Islamwissenschaftlerin Patricia Crone schon vor einigen Jahren nachgewiesen, dass diese Hidschra unhistorisch ist und auf den Wunsch der Muslime im 9. Jahrhundert zurückgeht, auch, wie die Juden, ein schönes Anfangsdatum, einen Exodus, zu haben.19 Was aber war dann 622?

In diesem Jahr besiegte der neue griechische Kaiser Herakleios völlig unerwartet den Sassa­nidenherrscher Chosrau II., der vorher Ägypten, die arabische Halbinsel und Westsyrien erobert hatte. Trotz dieses grandiosen Sieges aber führte Herakleios, der wohl merkte, dass das Byzan­tinische Reich überdehnt war, eine Reichsreform durch, die den Nahen Osten, also Westsyrien und Ägypten, aus dem Reich ausgliederte. Seitdem konnten die dort schon lange lebenden Araberstämme die Selbstherrschaft übernehmen – das „Jahr nach den Arabern“.

Diese arabischen Stämme aber verstanden sich zunächst noch als Verbündete des Herakleios (arabisch: Quraisch), der sie befreit hatte. Als aber im Jahr 641 Herakleios starb und seine Witwe und sein noch unmündiger Sohn Heraklonas verstümmelt und vertrieben wurden, entfiel die Treuepflicht. Im gleichen Jahr 641 wurde auch die geschwächte Sassanidendynastie im Osten gestürzt, und auch dort übernahmen bisher vom Perserkönig abhängige arabische Stämme die Herrschaft.

Mit dem Jahr 641 beginnen deswegen die arabischen Münzprägungen. Diese aber tragen – in Palästina, Ägypten und in Mesopotamien – eine christliche Symbolik: Kreuze, einen Herrscher mit Langkreuz, Hinweise auf die Taufe Jesu usf. Es handelt sich also um christliche Prägungen seitens christlicher arabischer Herrscher.

Die älteste Münze mit der Prägung MHMT (in aramäischer Schrift) stammt weit aus dem Osten Mesopotamiens aus dem Jahr 661. Diese MHMT-Prägungen wandern in der Folgezeit aus dem Osten in den Westen, nennen Prägestätten vom östlichen Mesopotamien bis Palästina. Dort, in Palästina, finden sich dann bilinguale Münzen: das im Zentrum stehende MHMT wird am Rand, in arabischen Schriftzeichen, übersetzt in muhammad. In der Folgezeit verdrängt das arabische muhammad die Schreibung MHMT, immer noch begleitet von christlichen Symbolen, vor allem von Kreuzen.

Nach dem Zeugnis dieser Münzen hat MHMTmuhammad – mit dem Christentum zu tun. muhammad heißt – syrisch und arabisch – „der zu Preisende“, „der Gepriesene“, oder „Gelobte“. Es bedeutet also – wie das „benedictus“ im Sanctus unserer Messe – einen Lobpreis Jesu. muhammad ist ein christologisches Prädikat – man wird an die Redeweise im Martyrium des Polykarp vom „gelobten Knecht Jesus Christus“ erinnert; der „gelobte Knecht“ heißt arabisch: muhammad ’abd-allah.

Diese Interpretation wird gestützt durch die Inschrift, die der arabische Herrscher ’Abd al-Malik im Jahr 691 im Felsendom auf dem Tempelberg in Jerusalem anbringen lässt. Dort heißt es – ich beziehe mich hier auf Christoph Luxenberg –: „Zu loben ist (muhammad[un]) der Knecht Gottes und sein Gesandter … Denn der Messias Jesus, Sohn der Maria, ist der Gesandte Gottes und sein Wort.“ Abgelehnt wird eine Gottessohnschaft Jesu.20

Der Felsendom ist innen nicht planiert, sondern überdacht die Felsspitze auf dem Sionsberg, der nach syrischer Theologie, so z.B. bei Aphrahat, Christus symbolisiert.21 Fortan werden auf den Münzen die Kreuz­symbole durch ein Steinidol – Christus – ersetzt, Zeichen der arabischen Reichskirche, die sich von den Byzantinern und den zeitgenössischen Christen unterscheidet.

Muhammad war also ursprünglich ein christologischer Titel, wie auch das Prädikat ’abd-Allah (Knecht Gottes), Prophet, Gesandter, Messias. Das Prädikat muhammad hat sich später von seinem Bezugspunkt Jesus gelöst und wurde, anfänglich schon in der ersten Hälfte des 8. Jahr­hunderts, in der Gestalt eines arabischen Propheten historisiert – Johannes Damascenus spricht schon, er bietet die älteste Quelle, von dem Pseudopropheten Mamed; der christologische Titel ’abd-Allah, Knecht Gottes, wurde zum Namen des Vaters Mohammeds: Mohammed, Sohn des Abdallah. Später, im 9. Jahrhundert, wurden die Geschehnisse in die ethnische Heimat der Araber, auf die Arabische Halbinsel verlegt.

Die muhammad-Christologie wie auch die Anfänge der koranischen Bewegung stammen aber nach dem Zeugnis der Münzen aus Gebieten weit östlich Mesopotamiens, worauf auch die ursprünglich aramäisch-syrische Text­gestalt der Sprüche hinweist.

Wie aber kam es dort zur Bewahrung und sogar Verstärkung oder weiteren Profilierung einer frühen syrischen Theologie? Die persischen Herrscher, sowohl die Parther wie die Sassaniden, haben die ererbte mesopotamische Praxis der Deportationen, die wir schon aus dem Alten Testament von Assyrern und Babyloniern kennen, fortgeführt. Zwar blieb prinzipiell der Euphrat die Grenze zum Römischen Reich, aber es kam immer wieder zu kurzfristigen Eroberungszügen bis ans Mittelmeer und zu darauf folgenden Deportationen. Die Deportierten, darunter auch Christen, wurden weit im Osten angesiedelt, einmal sogar die ganze Einwohnerschaft der Stadt Antiochien.

Im Jahr 241 n.Chr. wurde die Stadt Hatra am Tigris von den Sassaniden erobert, damals Hauptstadt des Reiches Arabiya, das vom Tigris bis zum Euphrat reichte. Auch ihre Einwohner wurden ver­schleppt und weit im Osten angesiedelt; anzunehmen ist, dass sie in Marv (Südturkmenistan) wohnen mussten. Dort, in der Isolation, haben sie ihr frühes Christentum tradiert und weiter­entwickelt. Von dort gelangten die koranischen Materialien – oder wenigstens ein Grundstock davon – nach Westen und wurden z.Zt. ’Abd al-Maliks, der aus Marv stammte, und seines Sohnes al-Walid ins Arabische übertragen. Im Lauf der Zeit wuchsen weitere Materialien hinzu. Von daher wird auch ver­ständlich, dass ein Großteil der Aussagen zu Allah antibinitarisch ist, weil der Heilige Geist in Nizäa nur am Rande erwähnt wird. Erst spätere, seltenere Koranstellen bekämpfen eine trinita­rische Gottesvorstellung.

Mit dem koranischen Allah sind Vorstellungen verbunden, die einer frühen Phase des syrischen Christentums entstammen. Insofern geht es in unserer Frage nicht grundsätzlich – allenfalls sekundär – um eine interreligiöse Fragestellung, sondern um unsere eigene christliche Tradition. Der Koran sollte uns dazu veranlassen, eine durch den Sieg der hellenistischen Mentalität in Theologie und Christologie verdrängte Konzeption als auch eigene Möglichkeit aufzugreifen und zu reflektieren. Die frühen Syrer und Araber waren Christen, ihre Tradition steht in der Nähe zu den synoptischen Evangelien. Ist es sachgemäß, den christlichen Gott mit dem byzantinischen gleichzusetzen?

 

 

13 Vgl. hierzu vom Verf., Weltreligion Islam, a.a.O.; vgl. Karl-Heinz Ohlig / Gerd R. Puin (Hrsg.), Die dunklen Anfänge. Neue Forschungen zur Entstehung und frühen Geschichte des Islam, Berlin 12005, 22006.

14 Christoph Luxenberg, Die syro-aramäische Lesart des Koran. Ein Beitrag zur Entschlüsselung der Koransprache, Berlin (2000) 32007.

15 Gerhard Endress, Die wissenschaftliche Literatur, in: Wolfdietrich Fischer und Helmut Gäthje (Hrsg.),„Grundriß der arabischen Philologie“, Bd. 3 (Supplementband) Wiesbaden 1992, 3-23.

16 So .der ostsyrische Patriarch ’Iso’yaw III. im Jahr 659, in: ’Iso’yaw patriarchae III., Liber epistularum, hrsg. u. ins Lateinische übersetzt von R. Duval, CSCO, Vol. 12, Scriptores Syri II, tomus 12, Löwen 1904, 182.

17 Vgl. hierzu vom Verf., Hinweise auf eine neue Religion in der christlichen Literatur „unter islamischer Herrschaft“?, in: Karl-Heinz Ohlig (Hrsg.), Der frühe Islam. Eine historisch-kritische Rekonstruktion anhand zeitgenössischer Quellen, Berlin 2007, 223-326.

18 Volker Popp, Die frühe Islamgeschichte nach inschriftlichen und numismatischen Zeugnissen, in: K-H. Ohlig/ G.-R. Puin (Hrsg.), Die dunklen Anfänge, a.a.O. 16-123. Vgl. auch: Ders., Von Ugarit nach Samarra. Eine archäologische Reise auf den Spuren Ernst Herzfelds, in: K.-H. Ohlig (Hrsg), Der frühe Islam, a.a.O. 12-222.

19 Patrica Crone/Michael Cook, Hagarism. The making of the islamic world, Cambridge, London, New York, Melbourne 1977, 24.25.

20 Vgl. hierzu Christoph Luxenberg, Neudeutung der arabischen Inschrift im Felsendom zu Jerusalem,in: Karl-Heinz Ohlig/ Gerd-R. Puin (Hrsg.), Die dunklen Anfänge. Neue Forschungen zur Entstehung und frühen Geschichte des Islam, Berlin (2005) 32007, 124-147.

21 Vgl. hierzu vom Verf., Vom muhammad Jesus zum Propheten de Araber. Die Historisierung eines christologischen Prädikats, in: K.-H. Ohlig (Hrsg.), Der frühe Islam, a.a.O. 327-376.

 

6. Der gerechte und strafende Allah

Den wichtigsten Unterschied zwischen christlichem und islamischem Gottesverständnis stellt die Betonung der Gerechtigkeit Allahs statt der sündenver­gebenden Liebe Gottes dar sowie seine fürchterlichen Strafandrohungen gegen alle Ungläubigen und auch die Aufforderungen zum Kampf gegen sie. Hier gibt es tatsächlich Differenzen, die gravierend sind. Der intole­rante Zorn Gottes im Koran und seine Strafen für alle Ungläubigen scheinen nicht zum christlichen Gottes­verständnis zu passen und bewirken viele Probleme im heutigen Zusammenleben der Religionen.

Dies soll und kann nicht wegdiskutiert werden. Nur eins: Die wahrscheinlich ältesten Partien des Koran schildern Allah gnädiger. In Sure 16,53 z.B. ist von der Gnade Gottes die Rede, in S. 48,29 von Vergebung Gottes, in S. 47,2 heißt es, dass Gott denen, die glauben, „ihre schlechten Tagen tilgt“, in S. 3,147 sprechen die Glaubenden: „Herr, vergib unsere Schuld“ – ein Anklang an die Vaterunserbitte –, in S. 93,11 wird der Prophet aufgefordert: „Aber erzähle (deinen Lands­leuten wieder und wieder) von der Gnade deines Herren.“ Immer wieder wird Allah der Barm­herzige genannt. Und in Sure 2, der längsten Sure, in der man wie in einem Zettelkasten eine Vielzahl von Einzelsprüchen zusammengestellt hat, heißt es in Vers 62: „Diejenigen, die glauben (…) [und?] diejenigen, die dem Judentum angehören, und die Christen und die Sabier, (alle) die, die an Gott und den jüngsten Tag glauben und tun, was recht ist, denen steht beim Herrn ihr Lohn zu, und sie brauchen (wegen des Gerichts) keine Angst zu haben, und sie werden (nach der Abrechung am jüngsten Tag) nicht traurig sein.“

Versöhnliche Aussagen dieser Art sind allerdings überlagert und konterkariert durch schlimme Strafandrohungen Gottes für alle Ungläubigen im Jenseits und durch seine Aufforderungen, sie auch in diesem Leben schon zu verfolgen und auch zu töten (allerdings ist an vielen dieser Passagen zu fragen, ob ihre heutige arabische Interpretation zutreffend ist).

Diese Eigentümlichkeit scheint zwei Ursachen zu haben, eine mehr theologische und eine mehr mentalitätsgeschichtliche oder religionssoziologische.

Zum theologischen Zusammenhang: Für lateinische Christen wie wir ist das Kreuz Angelpunkt des Erlösungsgeschehens. So schreibt schon Tertullian zu Beginn des 3. Jahrhunderts: das Kreuz ist „die einzige Hoffnung (spes unica) der ganzen Welt.“22 Für Augustinus, dessen Theologie die abendländische Kirche geprägt hat, dreht sich alles um die Erlösung am Kreuz, die uns den grundlos und voraussetzungslos gnädigen, vergebenden und liebenden Gott zeigt.

Dem Islam wird immer wieder vorgeworfen, dass er nicht nur die Heilsbedeutung des Kreuzes ablehnt, sondern sogar die Tatsache des Todes Jesu ablehnt. Tatsächlich wird in Sure 4, 156 behauptet, Jesus sei nicht getötet und gekreuzigt worden, das sei nur zum Schein so gewesen; letzteres ist eine Formulierung, die auf eine gnostisch-hellenistisch-christliche Tradition zurück geht, den Doketismus (obwohl der Koran ansonsten keine doketischen Motive kennt). Sure 3,55 sagt, Jesus sei entrückt worden.

Der Koran kennt aber auch Stellen, die den Tod Jesu voraussetzen. Auch an den oben genannten Stellen ist meist davon die Rede, dass Gott Jesus „abberufen“ und dann entrückt hat; „abberufen“ kann aber durchaus eine Umschreibung für „sterben“ sein. Es scheint bei genauerer Lektüre so zu sein, dass der Tod Jesu nicht, wohl aber die Kreuzigung bestritten ist. Mit der Leugnung des Kreuzes und seiner Heilsbedeutung sei aber, so der Vorwurf, der Kern des Christentums und auch die zentrale Eigenschaft Gottes, seine grundstürzende Liebe, bestritten.

Dies aber kann nicht so ohne weiteres behauptet werden. Immerhin war auch in der griechischen Theologie nicht das Kreuz, sondern die Inkarnation Gottes das entscheidende Heilsdatum. Das Kreuz war nur insofern wichtig, als es deutlich machte, wie tief reichend die Fleisch- und Menschwerdung Gottes ist, eben bis zum Tod in seiner schändlichsten Form. Alle Heilshoffnungen aber waren begründet in der liebenden Zuwendung Gottes zu uns in der Inkarnation.

In der syrischen Bewährungschristologie ist das entscheidende Heilsdatum die Bewährung Jesu und unsere Nachfolge; das Kreuz wird nur insofern erwähnt, als es zeigt, wie weit gehend sich Jesus durch die Gnade Gottes in seinem Leben bewährt hat: bis zum Tod am Kreuz (nicht: durch das Kreuz). Deswegen ist in ihr – vergleichbar der Theologie des Matthäusevangeliums (und die moderne Exegese sagt uns, auch im Denken des historischen Jesus) – der erlösende Tod Jesu nicht der Angelpunkt des Christentums.

Erst in der späteren syrischen Theologie ist auch dieser Topos, wenn auch nur oberflächlich, übernommen worden. Noch im 6. Jahrhundert führt die syrisch-christliche Schrift Die Schatzhöhle aus: Die Inschrift, die Pilatus am Kreuz anbringen ließ („der König der Juden“) war „auf griechisch, lateinisch und hebräisch. Und warum schrieb Pilatus kein Wort Syrisch darauf? Deshalb, weil die Syrer keinen Anteil hatten am Blut des Messias …“.23 Offensichtlich hatten die Syrer mit dem Tod Jesu nichts zu tun. Das ist sicher nicht nur historisch zu verstehen, sondern zeigt auch, dass es für sie nicht so wichtig war, Anteil am Blut Christi zu haben; erlöst sind wir durch die Bewährung Jesu in seinem Leben (bis zum Tod) und die entsprechende Nachfolge.

Es scheint so, als sei diese frühe syrische Theologie und die noch ungebrochene Bewährungschristologie von den arabischen Christen übernommen worden. Auch diese aber gehörten zum Christentum, sie repräsentieren sogar eine sehr frühe, den Ursprüngen nahe stehender Tradition. Deswegen ist die Bestreitung des Kreuzestods – mittels eines doketischen Arguments – nicht von vornherein unchristlich oder Zeichen einer neuen Religion.

Allerdings hat die Übernahme der Bewährungschristologie in den Koran zu einer – verglichen mit der syrischen Hochtheologie (Schriften gibt es nur noch von bedeutenden Theologen) – zu einer „Verflachung“, im Sinne einer Lohn-Leistungs-Ethik, geführt, wie sie wahrscheinlich auch überall in der einfacheren christlichen Bevölkerung verbreitet war und ist; der Koran ist nicht von Theologen zusammengestellt. Und tatsächlich hat ja die Aussage vom erlösenden Kreuz in der lateinischen Kirche verhindert, Tendenzen zu einer Werkgerechtigkeit immer wieder zu korrigieren im Sinne einer Gnadenlehre und eines Solus-Christus. Dieses Element fehlt im Koran, und damit auch die Vorstellung der gänzlich schenkenden Liebe Gottes. Ebenso fehlt, wie ausgeführt, die Inkarnationsvorstellung, die für die griechische Kirche das leistete, was für die lateinische Kirche die Erlösung durch das Kreuz aussagt, nämlich die Größe der Zuwendung Gottes zu uns Menschen. Ebenso aber fehlt im Koran auch die humane Tiefendimension der syrischen Bewährungschristologie.

Darüber hinaus gibt es einen mentalitätsgeschichtlichen Grund für die oft harten und unbarmherzigen Züge Allahs. Man muss wohl bedenken, dass die im Osten gepflegte und ausgebaute frühe syrische Theologie immer in einer Minderheitenposition war und, wie dies oft geschieht, des­wegen eine eifernde Mentalität entwickelt hat. Diese behielt sie, gegenüber Polytheisten und den anderen Schriftbesitzern bei, als sie mit ’Abd al-Malik die Herrschaft erringen konnte. Ja, diese Mentalität verstärkte sich noch in den Konflikten mit Byzanz, den monophysitischen Arabern (den Ghassaniden) und den Vertretern einer mittlerweile hellenisierten syrischen Großkirche. So hat schon John Wansbrough 1978 festgstellt, dass die Gemeinden, in denen die koranischen Stoffe ihre Form fanden, von einer strengen sektenhaften Mentalität geprägt gewesen sein müssten.24

Entwicklungen dieser Art kennen wir auch aus der übrigen christlichen Geschichte, in der sich die verschiedenen theologischen Richtungen oder, in der Neuzeit, die verschiedenen Konfessionen verteufelten und im Namen Gottes bekämpften. Auch hier wurden oft archaische Teile des Alten Testaments als Legitimationsformeln genutzt, wie auch im Koran.

Ebenso hat auch unsere Theologie auf lange Zeiten bestimmte Gruppen vom Heil und damit von der Barmherzigkeit Gottes ausgeschlossen: alle Ungetauften, sogar die ungetauft gestorbenen Kinder, die „Ungläubigen“, z.B. Juden und Muslime, wie auch andersgläubige Christen, die als Häretiker be­trachtet wurden.

Allerdings dokumentiert das Alte Testament eine großartige innere Entwicklung vom archaisch wütenden, zürnenden und strafenden Gott zum Gott der Liebe – von Jesus als Kernaussage zitiert –, und in das Neue Testament sind Gedanken dieser Art nicht eingegangen. Dadurch war im Christentum immer, wenigstens grundsätzlich, eine Korrektur einer eifernden Mentalität durch die eigenen kanonischen Urkunden möglich, wenn sie auch – das müssen wir zugeben – über längere Epochen recht unwirksam waren.

Die koranische Tradition verstand sich lange Zeit als richtige Erklärung und Bekräftigung von Thora und Evangelium, der Schrift. Von diesem Ansatz her wäre durch eine Hermeneutik des Koran vom Evangelium her eine Selbstkorrektur möglich. Aber spätestens seit dem Ende des 8. oder zu Beginn des 9. Jahrhunderts wird der Koran aufgefasst als selbständige Offenbarung Gottes – trotz vieler gegenläufiger Aussagen des Koran –, und ist somit von dort her nicht zu korrigieren – ein bleibendes Problem im christlich-islamischen Dialog. Hier scheint nur eine innerislamische Aufklärung, die die historischen Bedingtheiten der eigenen Anfänge und auch des Koran reflektiert, helfen zu können.

 

 

22 Tertullian, De carne Christi (um 210-217) 5,3 (CCL 2, 881).

23 Die Schatzhöhle, Syrisch und deutsch hrsg. von Carl Bezold. Erster Teil: Übersetzung … von Carl Bezold, Leipzig 1883, 70.

24John Wansbrough, The Sectarian Milieu. Content and Composition of Islamic Salvation History, Oxford 1978.


7. Resümee

In Summe lässt sich sagen, dass wir im koranischen Verständnis von Allah einem Stück unserer eigenen Theologiegeschichte, einer sehr spezifischen christlichen Tradition, begegnen. Der Koran tradiert den ursprünglichen christlichen Monotheismus eindeutiger und einfacher, ohne hellenistische trinita­rische Komplizierung. Durch seine sektenhafte Mentalität aber hat der Gedanke der Barm­herzigkeit Gottes an Tiefe verloren und scheint oft ins Gegenteil verkehrt. Beide Religionen, Christentum und Islam, könnten in einem Dialog, der nicht von Blinden geführt wird, von- und aneinander lernen, sowohl die eigenen Spezifika wie die des anderen verstehen lernen. Zur Zeit scheinen allerdings die Bedingungen hierfür noch nicht gegeben zu sein.