Die Diskussion um das Kreuz – Zum Fall Kermani

Karl-Heinz Ohlig

Die Diskussion um das Kreuz

Reflexionen zur Debatte um den Kulturpreis des Landes Hessen
in: imprimatur 42, 2009, 233-237 (ISSN 0946 3178)


Der Mainzer Kardinal Karl Lehmann und der frühere Kirchenpräsident Peter Steinacker haben es abgelehnt, den Kulturpreis zusammen mit dem Muslim Navid Kermani anzunehmen, weil dieser den christlichen Glauben an das Kreuz als Blasphemie bezeichnet hatte (was er in – für Intelligenzler – gescheiten Worten „fast“ zurückgenommen hätte). Weil das Kreuz zu den zentralen christlichen Essentials gehöre, gebe es hier keine Gemeinsamkeit.
Nun ist Kermani nur zufällig ins Spiel gekommen. Ursprünglich sollte der Preis, neben Kardinal Lehmann und Kirchenpräsident Steinacker, auch dem Juden Salomon Korn und dem Muslim Fuad Sezgin verliehen werden. Sezgin aber lehnte ab, weil er nicht zusammen mit Salomon Korn geehrt werden wollte. Nun musste auf die Schnelle ein Ersatzmann gefunden werden, und da fiel das Los auf Navid Kermani. Übrigens: Zur eklatant antijüdischen (natürlich nur, was ja nicht schlimm ist: „antizionistischen“) Entscheidung von Sezgin findet sich in der Presse keinerlei Kritik; Muslime dürfen das.
Die Presse aller Ausrichtungen sowie auch evangelische und katholische Theologen fielen unisono über die beiden Kirchenleute her, ebenso naturgemäß und wohlfeil über Ministerpräsident Koch, der Kermani den Preis wieder aberkannt hatte.
Auch ich war erstaunt über die Ungeschicklichkeit der beiden Kirchenmänner bei der Begründung der Ablehnung. Sie hätte durchaus, und mit Recht, auch anders motiviert werden können. Es hätte genügt, darauf hinzuweisen, dass Kermani noch recht jung ist (im Gegensatz zu den anderen Preisträgern) und noch nichts Erwähnenswertes an entsprechenden Leistungen vorzuweisen hat. Wofür er einen solchen Preis bekommen sollte, ist auch mir nicht einsichtig. Seine wissenschaftlichen Leistungen sind schwach und darüber hinaus umstritten (z.B. öffentlicher Plagiatsvorwurf bezüglich seiner Habilitationsschrift), und er ist bisher keineswegs als ein Leuchtfeuer des interreligiösen Dialogs in Erscheinung getreten, eher im Gegenteil.
Was den Zuschauer bei dieser Diskussion aber am meisten erstaunt, ist die offenbare Unkenntnis bezüglich des Themas Kreuz und eine ebensolche des Koran sowohl bei den christlichen wie bei den islamwissenschaftlichen und islamischen Kontrahenten.
Zunächst einmal: die Frage nach der Heilsbedeutung des Kreuzes ist grundsätzlich primär eine binnenchristliche Diskussion, erst sekundär ein Kontroversthema zwischen Islam (aber noch nicht: Koran) und Christentum. Warum?
Beinahe alle Christen in unserem Kulturraum gehören zur lateinischen Kirche, in ihren unterschiedlichen konfessionellen Varianten. Tatsächlich ist diese seit ihren Anfängen bei Tertullian (gest. nach 220) auf das Kreuz als das entscheidende Heilsdatum ausgerichtet: Das Kreuz ist „die einzige Hoffnung (spes unica) der ganzen Welt.“1 Vor allem Augustinus (gest. 430), der die spätere abendländische Theologie geprägt hat, hat die Heilsbedeutung des Kreuzes Jesu Christi als Grundlage unserer Erlösung/Rechtfertigung entfaltet. Im Mittelalter wurde dies vertieft durch die Satisfaktionslehre Anselms von Canterbury (gest. 1109), der darlegte, dass nur das Kreuzesopfer des Gottmenschen eine zureichende Genugtuung (Satisfaktion) für unsere Sünden sein konnte – und Gott uns nicht anders hätte vergeben können als durch den Tod seines Sohnes, des Gottmenschen Jesus Christus. Diese Linie wird auch, in unterschiedlicher Gewichtung, von Luther, Calvin oder dem Konzil von Trient fortgeführt und ist heute Basis aller konfessionellen Theologien. Insofern ist die allergische Reaktion auf den Blasphemievorwurf zumindest psychologisch verständlich.
Nicht verständlich ist diese Reaktion, wenn man sie theologisch betrachtet. Die Theologiegeschichte zeigt, dass es auch Christentümer gab und gibt, in denen das Kreuz zwar auch das schreckliche Ende des Lebens Jesu (mit durchaus tiefer Bedeutung), aber nicht das zentrale Heilsdatum ist. Hier ist z.B. das griechische Christentum von seinen Anfängen an zu nennen. Für dieses ist die Fleisch- bzw. Menschwerdung Gottes, die Inkarnation, das zentrale Datum: Gott wurde Mensch, damit wir vergöttlicht bzw. Gott werden – dieses Motto („Prinzip des Tausches“) durchzieht die gesamte antike griechische Theologie. Erlöst sind wir durch die Zuwendung Gottes zu uns in der Inkarnation. Das Kreuz spielt nur insofern eine Rolle, als es zeigt, wie tief sich Gott bei der Menschwerdung auf uns eingelassen hat.
Dies gilt auch für die judenchristliche – gemäß dem Matthäusevangelium werden wir erlöst durch die Nachfolge Jesu – und die syrische Theologie. Sie vertritt eine „Bewährungschristologie“: Jesus ist deswegen der Christus und für uns von Heilsbedeutung, weil er sich als erster und einziger Mensch „bewährt“ hat im Gehorsam dem Vater gegenüber bis zum (nicht: durch den) Tod am Kreuz; er ist der exemplarische Mensch. Wir sollen Jesus nachfolgen, seine Gebote halten und uns so ebenfalls bewähren, dann wird er beim Gericht für uns eintreten. Noch in einer zeitlichen Nähe zum späteren Islam führt die syrisch-christliche „Schatzhöhle“ (6. Jahrhundert) aus: Die Inschrift, die Pilatus am Kreuz anbringen ließ („König der Juden“), war „auf griechisch, lateinisch und hebräisch. Und warum schrieb Pilatus kein Wort Syrisch darauf? Deshalb, weil die Syrer keinen Anteil hatten am Blut des Messias“.2 Dies klingt zwar wie eine historische Notiz, aber für den Verfasser der Schatzhöhle war es wohl nicht so arg wichtig, Anteil am Blut Christi zu haben – für Lateiner die unabdingbare Voraussetzung der Rechtfertigung.
Die Erwähnung nicht-lateinischer Christentümer könnte fortgesetzt werden. Aber es mag genügen, noch auf die heutigen inkulturierten christlichen Theologien in China, Indien oder Afrika hinzuweisen, deren Schwerpunkte ebenfalls nicht auf dem Sühnetod am Kreuz gründen. Die Theologiegeschichte zeigt: Das lateinische Christentum war und ist nicht die einzige legitime Gestalt des Christentums; es ist eine – wenn auch wichtige – kontingente Variante. Die Diskussion um die Heilsbedeutung des Kreuzes ist somit ein innerchristlicher Diskussionspunkt, nicht nur historisch – mit Blick auf die Vergangenheit -, sondern auch in der Gegenwart.
Zum zweiten: Der Koran ist, wie sich zunehmend zeigt, nicht von Anfang an ein islamisches Buch gewesen, sondern vertritt eine Sonderform des syrisch-persischen Christentums. Deswegen, aber auch abgesehen davon, sollte man ihn zunächst einmal so lesen, wie es da steht, und nicht bei jeder Aussage immer gleich die späteren Interpretationen, dass Mohammed dies alles in Mekka und Medina verkündet hatte, mit hineinlesen3 (auch davon weiß der Koran nichts).
Vielleicht sollte man methodisch nicht ausgehen von der angeblichen Bestreitung des Kreuzestods Jesu in Sure 4,157, wie es auch Kermani tut, sondern sich einmal die Kontexte ansehen. Der Koran spricht an zahlreichen Stellen von dem Messias Jesus, dem Sohn der Maria (nicht aber ebenso von Mohammed). Er überliefert auch die Aussage vom Tod (immer mitgedacht: der Kreuzestod, ein anderer wurde ja noch nie behauptet) und der Auferstehung Jesu, also das urchristliche Bekenntnis.
In der Mariensure 19 spricht der Säugling Jesus (Vers 33): „Heil sei über mir am Tag, da ich geboren wurde, am Tag, da ich sterbe, und am Tag, da ich (…) zum Leben auferweckt werde“4 (Übersetzung Rudi Paret). Die gleiche Passage findet sich – noch vor dem Koran – in der Inschrift im Felsendom in Jerusalem, hier in der dritten Person: „Heil über ihn an dem Tag, da er geboren wurde, an dem Tag, da er sterben, und an dem Tag, da er zum Leben auferweckt wird.“
In Sure 3,55 werden die Zuhörer daran erinnert, was Gott sagte („[Damals] als Gott sagte…“): „Jesus, ich werde dich (…) abberufen und zu mir (…) erheben …“ Besser wäre statt „erheben“ die Übersetzung „erhöhen“. Auf die Abberufung, d.h. den Tod, folgt die Erhöhung zu Gott – ein klassisches Beispiel judenchristlicher und syrischer Erhöhungschristologie.5
Noch einmal erwähnt Jesus seinen Tod in Sure 5,117; er sagt zu Gott: „Und ich war Zeuge über sie (die Christen, Verf.), solange ich unter ihnen weilte. Nachdem du (Gott, Verf.) mich abberufen hast (d.h. nach meinem Tod, Verf.), warst du es, der auf sie aufpasste.“ Hier ist der Tod Jesu in der Vergangenheit vorausgesetzt.
Die Auferstehung Jesu wird noch einmal erwähnt in Sure 72,19. Diesen Vers übersetzt Rudi Paret im Sinne der nachkoranischen Tradition: „Und: Als der Diener Gottes (d.h. Mohammed) sich aufstellte, um ihn anzurufen …“ Im Text aber wird Mohammed nicht erwähnt; dort heißt es wörtlich: „Als der Knecht Gottes auferweckt wurde …“ Knecht Gottes aber ist im Koran und in der Inschrift im Felsendom ein Titel Jesu.
Tod und Auferstehung Jesu werden also im Koran an verschiedenen Stellen erwähnt, ohne jeden Kommentar oder gar Einwand dagegen. Schwierigkeiten aber macht ein Text in Sure 4,157.158, der immer isoliert – und missverstanden – herangezogen wird. Dort heißt es, in der Übersetzung und Kommentierung (in Klammern) Rudi Parets: „157 und (weil sie) sagten: ‚Wir haben Christus Jesus, den Sohn der Maria und Gesandten Gottes, getötet.‘ – Aber sie haben ihn (in Wirklichkeit) nicht getötet und (auch) nicht gekreuzigt. Vielmehr erschien ihnen (ein anderer) ähnlich (so daß sie ihn mit Jesus verwechselten und töteten) … Und sie haben ihn nicht mit Gewissheit getötet (d.h. sie können nicht mit Gewissheit sagen, daß sie ihn getötet haben). 158 Nein, Gott hat ihn zu sich (in den Himmel) erhoben.“
Rudi Paret ergänzt in Klammern den Text gemäß der späteren muslimischen Tradition. Dann sieht es so aus, als sei Jesus nicht getötet, sondern vorher in den Himmel entrückt worden. Lässt man diese Ergänzungen weg, ist z.B. nicht die Rede davon, dass ein anderer an Stelle Jesu getötet wurde. Es heißt nur: „Vielmehr erschien (es) ihnen ähnlich“. Und der Anfang von Vers 158 müsste übersetzt werden: „Nein, Gott hat ihn zu sich erhöht.“ Aber es bleibt das Problem der scheinbaren Bestreitung des Kreuzestodes Jesu.
Weil der Koran ansonsten ohne Einschränkungen vom (Kreuzes-)Tod und der Auferstehung Jesu spricht, bieten sich zwei Erklärungen an:
(1) Diese Stelle will sagen, dass Jesus nicht wirklich und endgültig getötet wurde, weil er – wie die Auferstehung zeigt – in Wirklichkeit ja lebt und von Gott erhöht wurde; er ist also gar nicht richtig tot, das scheint der Sinn dieser Aussage zu sein. Dann würde die empirische Tatsache des Getötetwerdens „lediglich“ theologisch „aufgehoben“ und so zu einer Scheinwirklichkeit, eben weil er ja erhöht wurde und lebt.
(2) An vielen Stellen sind in den Koran Motive eingeflossen, die z.B. aus der Gnosis oder dem Manichäismus stammen, und zwar so, dass bestimmte Bildvorstellungen aufgegriffen werden, ohne dass sich im Koran der Sache nach gnostische, also dualistische Vorstellungen finden; es handelt sich vielmehr um recht zufällige, mehr „positivistische“ Übernahmen ohne theologische Auswirkungen.
So könnte auch die seit der frühen christlichen Antike, vor allem in gnostischen Richtungen, vertretene Auffassung, der göttliche Logos habe bei der Inkarnation in Jesus nur zum Schein einen Leib bzw. einen Scheinleib angenommen („Doketismus“), damit wir Menschen ihn sehen und hören können, und er sei auch nur zum Schein gekreuzigt worden, hier eingeflossen sein – ohne dass der Koran ansonsten selber doketisches Denken übernommen hätte. Das ist möglich und kann durch parallele Beispiele belegt werden. Dennoch erscheint die erste Interpretation als die wahrscheinlichere (oder: das doketische Motiv wurde zur Verdeutlichung der ersten Variante benutzt, weil es so schön passte).
Das alles bedeutet, dass eine Bestreitung des Kreuzestodes Jesu dem Koran sogar widersprechen würde. Selbst wenn eine doketische Interpretation in Sure 4 anzunehmen wäre, scheint dieser Gedanke nur aufgegriffen worden zu sein, weil er die eigentliche Aussage – dass Jesus bei Gott lebt – erklären kann. Ansonsten aber kennt der Koran solche Gedankengänge nicht und geht vom (Kreuzes-)Tod und von der Auferstehung Jesu aus.
Dass Jesu Tod im Koran keine Heilsbedeutung im spezifischen Sinn zukommt, ist richtig, entspricht aber seiner Herkunft aus der syrischen Theologie. Woher auch hätten die Schreiber des Koran die lateinische Version kennen sollen? Erst als Muslime in späteren Zeiten mit der lateinisch-christlichen Auffassung konfrontiert wurden, dass Gott, der Vater, seinen eigenen Sohn am Kreuz geopfert hat, wurde erstmals von Blasphemie gesprochen. Mit dem Koran hat das aber nichts mehr zu tun.
Und so ein ganz klein wenig – das muss auch ein lateinischer Christenmensch einräumen – ist diese lateinische Interpretation des Christentums, bei allen Vorzügen, die sie vielleicht sonst noch hat (z.B. für die Überwindung einer Werkgerechtigkeit), ein wenig seltsam und dem Verständnis Gottes nicht besonders zuträglich (Ein Vater, der seinen Sohn opfert). Sie widerspricht auch der Verkündigung Jesu, der Gottes Barmherzigkeit und Sünderliebe ohne irgendeine Bedingung, wie z.B. den Kreuzestod als zuvorige Bezahlung unserer Schuld, zugesagt hat. Wenn aber „nur“ gesagt wird – was gemeinchristlich ist -, dass Gott in Jesus gezeigt hat, dass er sich dem leidenden und gescheiterten Menschen zuneigt, kann mit bestem Willen daran nichts Blasphemisches entdeckt werden. Zumindest ist dieser Glaube sympathischer (und im Kermani’schen Sinn „schöner“6) als der an einen Gott, der dazu auffordert, Ungläubige und Feinde zu erschlagen.
Etwas aber erstaunt den Zuschauer immer von Neuem: Wieso lesen Islamwissenschaftler und Theologen nicht erst einmal die entsprechenden Texte im Koran, bevor sie Vollmundiges von sich geben, das ihrer Meinung nach auf der Höhe des kritischen Denkens steht? Wieso hält sich die Unkenntnis der christlichen Theologiegeschichte bzw. ihre Beschränkung auf die europäische Entwicklung so hartnäckig, obwohl es mittlerweile durchaus umfassendere Publikationen gibt? Einmal gelernt, für immer ein Fachmann. Diese Lernverweigerung in manchen Wissenschaften kann Zweifel an ihrer Zukunft aufwerfen. Am ehesten ist diese Wissenslücke noch Kirchenoberen zu verzeihen, die durch ihre jahrzehntelangen und aufreibenden pastoralen und organisatorischen Aktivitäten kaum noch zum Lesen neuerer Literatur kommen. Aber „Wissenschaftler“ aller Couleur, die dafür bezahlt werden, dass sie ein lebenslanges Lernen praktizieren, sind nicht zu entschuldigen.