Ein Aufruf zur Aufklärung im Islam
Markus Groß
Rezension zu Hüseyin Koçak: Projekt Euro-Islam: Voraussetzung für eine erfolgreiche Integration [1]
Bereits die erste Seite dieses 263 Seiten langen Sammelbandes, bei dem allerdings rund drei Viertel von dem „Hauptbeitrag“ von Hüseyin Koçak eingenommen wird, enthält einen programmatischen Slogan: „Muslims against Sharia“. Der erste Artikel des Buches stammt jedoch nicht vom „Hauptautor“, sondern von Michael Wolffsohn, der den Trend beklagt, dass die „klügsten Muslime“ Europa verlassen, ohne dass man im öffentlichen Bewusstsein diesen Exodus als großen Verlust empfinde. Gemeint sind kritische Denker wie Bassam Tibi und Ayaan Hirsi Ali, wobei er jedoch auch jene ebenso klugen und kritischen Geister würdigt, die diesen Schritt nicht gehen, wie z.B. Necla Kelek, von der er sich fragt: „Wie lange noch kann oder will sie die Häme deutscher Migrations-„Experten“ ertragen?“ Die Haltung der deutschen Öffentlichkeit, modernen Muslimen in den Rücken zu fallen, hält er für „defätistisch“.
Danach folgen drei Seiten Vorwort von Klaus Beckmann. Er bemängelt am Islam das Fehlen einer kritischen Theologie, konstatiert aber, dass dieser eine Anziehungskraft auf „orientierungslose“ Jugendliche, auch solche nicht-muslimischer Herkunft, hat, wie das gescheiterte Attentat der Sauerland-Gruppe anschaulich bewiesen habe. Seine Erklärung ist die, dass der traditionelle Islam gerade durch diesen „strukturellen Mangel an kritischer Reflexion“ befähigt sei, „suchenden jungen Menschen vermeintlich eindeutige, in jedem Fall aber äußerst autoritäre Antworten anzubieten.“ Der Westen werde dagegen als schwächlich empfunden. Er definiert als erstes Ziel bei der Schaffung eines Euro-Islam, „mündige Individuen zu erziehen, die einen eigenen und kritischen Zugang zur religiösen Überlieferung ihrer Gemeinschaft suchen (…)“, und unterstreicht dabei die „Notwendigkeit einer historisch-kritischen Betrachtung des Koran“.
Dann folgen zwei Seiten Einleitung von Hüseyin Koçak, der sich indirekt als Muslim bezeichnet, aber die „Existenz Gottes weder leugnen noch beweisen“ will. Gleich im zweiten Abschnitt kritisiert er den Koran, genauer Sure 5, die es ihm vorschreibe, Ungläubige nicht zu Freunden zu nehmen. In seinem gesamten folgenden Beitrag zeigt er „klare Kante“, was ihn wohltuend von allen westlichen „Islamverstehern“ unterscheidet: „Darüber hinaus beinhalten der Koran und das islamische Rechtssystem, die Scharia, Elemente, die im krassen Widerspruch zu unserer Verfassung stehen.“ Dann fährt er fort: „In diesem Fall müsste der Islam reformiert und mit dem Grundgesetz kompatibel gemacht werden.“ Bei diesem Prozess sieht er Selbstkritik als wichtige Voraussetzung. In dem nun folgenden Hauptteil behandelt er eine Fülle von Einzelaspekten, die jeweils mit reichlichen Beispielen, viele aus der „Innensicht“ eines Intellektuellen mit muslimischem Hintergrund, angereichert sind.
Zunächst beschreibt er den Beginn des Islams ganz klassisch, allerdings – in lobenswertem Gegensatz zu vielen Islam-„Wissenschaftlern“, die jede Legende für Geschichtsschreibung halten – unter reichlicher Verwendung „relativierender“ Adverbien wie „angeblich“. Besonders positiv ist zu bewerten, dass er neben der traditionellen Sicht auch Forschungsergebnisse referiert, die ein gänzlich anderes Bild der frühen Islamgeschichte zeichnen, wie die der Inârah-Gruppe, deren Initiator K.-H. Ohlig auch einen kurzen Artikel am Ende des Buches verfasst hat.
Es folgt ein Kapitel über den Koran selbst, wobei zahlreiche Koranzitate dem Leser einen guten Eindruck der Bandbreite koranischer Aussagen bieten. Bereits in der Einleitung weist er auf den Unterschied mekkanischer Suren mit größtenteils poetischer Sprache und theologischem Inhalt und den gesetzgeberischen medinensischen Suren hin, von denen er sagt: „Doch viele Suren und Verse sind vom Hass und Gewalt – aus heutiger Sicht auch von Rassismus und Faschismus geprägt. Es sind auch Beweise dafür, dass die Inhalte des Korans nicht von Gott stammen, sondern bei jedem Heiligen Krieg (Dschihad) als Suren hinzugefügt wurden.“
Auf den folgenden Seiten kritisiert er eine Reihe von Versen, die zu konkreten Handlungen aufrufen, so z.B. zum heiligen Krieg oder zur Todesstrafe für Apostaten (vom Islam Abgefallene). In einigen Fällen kommt er zum Schluss, dass die zitierten Verse gegen das deutsche Strafgesetzbuch verstoßen, da sie den Tatbestand der Anstiftung zu Verbrechen (§ 30 StGB) oder der öffentlichen Billigung einer Straftat (§140 StGB) erfüllen. Ein weiteres Kapitel trägt den Titel „Islamfaschismus“. Bereits in der Einleitung kritisiert er scharf die Haltung vieler Linker (gemeint ist nicht die Partei, sondern der Teil des politischen Spektrums), die das Problem durch „Nicht-Thematisierung“ verharmlosten. Er wirft ihnen Verständnis für den „reaktionären“ Islamismus vor, dessen „anti-aufklärerischen“ Aspekt er betont: „Anscheinend sehen wir jetzt offensichtlich, was sich schon länger abzeichnet: der islamistische Schulterschluss mit der propalästinensischen Linken und antikapitalistischen Globalisierungsgegnern – oder mit radikalen Rechten.“ (S. 144). Selbst vor dem Schulterschluss mit Rechtsradikalen schrecke man nicht zurück. Als gemeinsamen Nenner sieht er hier den „Hass auf Israel und die USA“. Als Gemeinsamkeit von Rechtsradikalen und Islamisten hebt er vor allem die Leugnung oder Relativierung der Shoah hervor und die bereits im NS-Staat notorische Feindschaft einerseits gegen das westlich-kapitalistische, als auch das sozialistische Modell. Um zu zeigen, dass diese Zusammenarbeit Tradition hat, weist er darauf hin, dass viele alte Nazis in der islamischen Welt Unterschlupf fanden und widmet der Zusammenarbeit des „Großmufti von Jerusalem“ al-Husseini mit Adolf Hitler einen Abschnitt. In einem späteren Kapitel findet der Autor bemerkenswert klare Worte zum Holocaust („schrecklichstes Verbrechen der Menschheit“), aber auch zur „Vertreibung des palästinensischen Volkes“, wobei er jedoch die beiden weder gleichsetzt noch gegeneinander aufwiegt.
Weitere Kapitel behandeln Themen wie den „Islamischen Fundamentalismus“ und „die Scharia“. Eine unangenehme Vorstellung vermitteln einige seiner rhetorischen Fragen, die aufzeigen, wie Europa aussähe, wenn die Scharia jemals eingeführt würde: „Sie (angesprochen ist ein Mann, Verf.) dürfen nur getrennt von Ihrer Familie und mit Bekleidung schwimmen gehen (…). Haben Sie schon mal mit Ihren Kindern (…) Monopoly gespielt und dabei alle Fenster und Gardinen zugemacht, weil es dafür mehrere Jahre Gefängnisstrafe gibt?“
Es folgt eine Auflistung aller blutigen Einzelheiten, die man in diesem Falle zu erwarten hätte, angefangen von Körperstrafen (Hand abhacken) über die Polygamie, das Erbrecht (Frauen erben halb so viel wie Männer) bis zur faktischen Unmöglichkeit der Ahndung von Vergewaltigungen (vier männliche Zeugen sind obligatorisch) etc. Gerade dem Thema „Frau und Eherecht“ im Islam ist ein eigenes Kapitel gewidmet. Auch dass das fünfmalige Beten täglich einen riesigen Zeitaufwand bedeutet, ist ein Aspekt, der nur aus der Innensicht möglich ist. Solche Regelungen macht er verantwortlich für die „Lähmung der islamischen Welt“ durch die Religion. Islamische Gebiete gehörten zu den ärmsten Weltgegenden, mit nur vermeintlicher Ausnahme der Golfstaaten, die ohne westliches Know-how gar nicht überlebensfähig seien. „Zwangsverheiratungen“ werden anders als sonst üblich so behandelt, dass auch die zwangsverheirateten männlichen Opfer thematisiert werden.
Bei aller Kritik am Islam wird allerdings auch nicht mit Kritik am Westen gespart. In einem Kapitel „Fehler der westlichen Welt“ wird dargelegt, wie ein Mann wie
Osama bin Laden bzw. die afghanischen Islamisten überhaupt erst groß gemacht worden seien, weil sie als Verbündete im Kampf gegen den Kommunismus nützlich gewesen seien. Dabei spricht er sich klar gegen alle Auslandseinsätze der Bundeswehr aus, sowie gegen alle Illusionen in Bezug auf das, was man im Endeffekt erreichen könne: „Ist das unser Problem? Nein, also raus.“
Seine Aussagen zum Irak könnten aus heutiger Sicht, – die zur Zeit der Abfassung des Buches noch nicht abzusehen war –, auch als Warnung vor einem Eingreifen in den Syrienkonflikt interpretiert werden: „Bei dem angeblichen Demokratisierungs-Prozess des Iraks wird öfter vergessen, dass der Islamisierungs-Prozess des Landes viel weiter ist (…).“
Es folgt ein Kapitel zur Türkei mit einem Abriss seiner neueren Geschichte. Die positiven und negativen Veränderungen durch Atatürk könnte man hier auf eine einfache Formel bringen: Verwestlichung ohne Demokratie. Die neueren Tendenzen zu einer Re-islamisierung erwähnt er ebenfalls: Erdogan musste ein geplantes Gesetz zurückziehen, das den Ehebruch erneut zur Straftat erklärt hätte (Ehebruch war bis 1996 strafbar). Besonders gefährlich findet der Autor die konservativen Imam-Hatip-Schulen, die im Jahre 2006 zwei Millionen Absolventen verzeichneten (122% Steigerung bei den Mädchen innerhalb von 5 Jahren). Sein Beitrag beinhaltet auch Kurioses, z.B. das Bild einer islamisch neuinterpretierten Comicfigur: Spider-Man auf einem Gebetsteppich. Eigene, jeweils mehrseitige Kapitel behandeln Minderheiten in der Türkei, wobei auch der „Genozid an Armeniern“ und die Diskriminierung von Kurden und Aleviten klar benannt werden.
Das Kapitel zur „politischen Islamisierung“ Europas beklagt ein „Europa, das vor einem stillen Islamisierungsprozess steht und nichts dagegen tun kann und will.“ Allerdings stellt er zwar die Gefahren dar, die von Organisationen wie der konservativen Vereinigung Milli Görüs ausgehen, ist aber aus praktischen Erwägungen gegen ein Verbot. Er warnt jedoch davor, die öffentlichen Bekenntnisse zu Toleranz und Religionsfreiheit islamischer Verbände allzu ernst zu nehmen. Auch dem Phänomen der Konversion zum Islam, vor allem bei gut gebildeten Deutschen, ist ein Abschnitt mit mehreren Fallbeispielen gewidmet. Besonderen Eindruck macht die Aussage einer konvertierten Lehrerin, die mit Kopftuch unterrichtet und in einem Interview für die Steinigung bei Ehebruch plädiert.
Dabei warnt er davor, nur den Terror als das einzige Problem zu betrachten. Für viel gefährlicher hält er „die Unterwanderung des Rechtsstaates durch die Schari’a mitten in Deutschland.“ Als Beispiele und Symbole erwähnt er das Kopftuch, nicht mehr stattfindende Schulausflüge, Sportunterricht, von dem Schüler(innen) abgemeldet werden etc. Konvertiten spielen (im Sinne der Islamisierung) hier eine besondere Rolle, da viele die Möglichkeiten des Rechtsstaates besser als Migranten auszunützen verstehen. Seine Prognose ist hier eher düster: „Euroislamismus statt Euroislam – die Quittung für multikulturalistische Ignoranz“ heißt eine Überschrift. Er zitiert eine Forsa-Umfrage im Auftrag des Stern, nach der fast die Hälfte der in Deutschland lebenden türkischen Muslime nicht glaubt, „dass die Regeln des Islam zu den Regeln der deutschen Gesellschaft passen“. Einen „biblischen“ Topos verwendet er in der Überschrift „Zeichen an der Wand“: „Nicht einmal als der holländische Justizminister Piet Hein Donner erklärte, er könnte sich die Einführung der ‚Schari’a‘ in Holland vorstellen, wenn die Mehrheit der Holländer sich dafür entscheiden würde, kam so etwas wie Erstaunen auf.“
Es folgen kleinere Kapitel zu Muslimen in anderen europäischen Ländern (Frankreich, Niederlande). Als einzige Möglichkeit zu einer „Reformation zum Euro-Islam“ zu kommen, sieht er in der „Amputation der Scharia-Gesetze und Adaptation der europäischen Werte“.
Bei all dieser Kritik versucht der Autor aber auch, den von ihm propagierten Euro-Islam positiv zu definieren: So empfiehlt er unter anderem einen neuen alten Weg der Religiösität: Religion solle man „mystisch ausleben und kritisch betrachten“. Etwas naiv – angesichts des vorher Gesagten – wirkt dabei seine Aussage: „Dabei müssten die Regeln des Koran nicht geändert, sondern einfach nur friedlich, liberal und vor allem selektiv ausgelegt werden…“. Viel sinnvoller erscheinen da schon andere Rezepte, wie man dieses Ziel erreichen könnte. So ruft er Muslime auf, eine laizistische Staatsform zu wählen, Hassprediger zu verbieten, nach Terroranschlägen eine Gegendemonstration zu veranstalten, sexistische Gesetze abzuschaffen, auf das Tragen von Burka und Hidschab zu verzichten, um nur einige Punkte zu erwähnen. Auch in seiner heimatlichen türkisch-islamischen Religionskultur findet er alternative Ansichten über eine Neuinterpretation: „durch Arbeit und Bildung Gott dienen.“
Am interessantesten ist seine demokratisch-moderne Version der fünf Säulen des Islam (Glaubensbekenntnis, Gebet, Fasten, Pilgerfahrt, Almosensteuer) in europäischer Interpretation, wobei er auf jeden einzelnen Punkt detailliert eingeht.
Danach noch drei kürzere Artikel. Im ersten gibt K.-H. Ohlig einen Abriss der neueren Forschungsergebnisse der Forschergruppe Inârah, die zu einer völlig anderen Interpretation der Geschichte des Frühislam kommt, was letztendlich aber der Entstehung eines Euro-Islam förderlich wäre.
Der folgende Artikel von Hartmut Krauss ist dem orthodoxen Islam und der deutschen Islamdebatte gewidmet. Unter anderem lehnt er die mittlerweile modisch gewordene Verwendung des Begriffes „Islamophobie“ ab, der suggeriert, dass jeder Islamkritiker Psychopath, der Islam selbst dagegen harmlos sei. Zudem bemängelt er, dass in der Debatte zwischen Islam und Muslimen nicht immer klar unterschieden wird.
Im letzten Beitrag von Klaus Beckmann geht es um einige besonders kritische Punkte im Dialog zwischen Protestanten und Muslimen. Vor allem kritisiert er die Unkenntnis über das Christentum auf der Seite der Muslime, die ihre vermeintlichen Informationen entweder aus der islamischen Tradition selbst oder von Gegnern des Christentums zu haben scheinen, andererseits die Scheu der Vertreter der Kirchen, die eigene Religion – auch im Hinblick auf unüberbrückbare Gegensätze zum Islam – klar darzustellen. Zudem kritisiert er, dass Muslime meist nur zu einem Dialog mit den „abrahamitischen Religionen“ (im Koran werden diese als „ahl kitab – Schriftbesitzer bezeichnet) bereit sind, und auch meist nicht verstanden haben, dass Religionsfreiheit in einer Demokratie ein „individuelles Grundrecht“ ist.
Den Abschluss des Bandes bildet eine dreiseitige sehr persönliche, aus verständlichen Gründen aber anonyme Schilderung einer Konversion zum Islam mit späterer Rückkehr zum Christentum unter dem Titel „Einmal Islam und zurück“.
Anders als zum Inhalt wäre zur Aufmachung des Buches einiges zu kritisieren. Das Layout ist nicht sehr professionell und vor allem auf den ersten sechzig Seiten des Textes von Hüseyin Koçak wurden möglicherweise noch nicht Korrektur gelesene Teile irrtümlich eingefügt. Dem Verständnis tun diese Fehler jedoch keinen Abbruch. Auch stilistisch könnte man an einigen Stellen etwas verbessern. Diese Mängel wären aber leicht in einer hoffentlich noch erscheinenden 2. Auflage durch nochmaliges Lektorieren zu beheben. Das Buch ist einerseits allen zu empfehlen, die in gedrängter Form möglichst viele Aspekte der „Islamdebatte“ zusammengefasst verstehen möchten, bringt aber auch – und das ist das Neue – eine knappe Definition eines Islams, wie man sich ihn in Europa wünschen würde.
(Zuerst veröffentlicht in: imprimatur 46, 2013, Heft 4/5)