Islam und Islamismus – Zur gegenwärtigen Diskussion

Islam und Islamismus

Zur gegenwärtigen Diskussion

Karl-Heinz Ohlig

Die aktuelle Situation

Die Mordaktionen, die im Januar 2015 in den Redaktionsräumen der Satirezeitschrift Charlie Hebdo und in einem jüdischen Supermarkt von Paris verübt wurden, haben zu beeindruckenden symbolischen Kundgebungen in Frankreich und in ganz Europa geführt. Gesellschaft und Politik haben ihr Entsetzen über die Ereignisse und ihren Willen, sich nicht einschüchtern zu lassen, öffentlich gemacht. Auch muslimische Verbände und Autoritäten schlossen sich an und führten, so z.B. die islamischen Dachverbände in Berlin, eigene Protestkundgebungen durch.

Immer wurde, was richtig ist, darauf geachtet, diese Verbrechen nicht „den“ Muslimen, die in ihrer übergroßen Mehrheit friedlich in Europa leben, in die Schuhe zu schieben. Sie sollen nicht an den Rand der Gesellschaft gedrängt, sondern im Gegenteil „integriert“ werden.

Dennoch ist seitdem die Angst vor weiteren Terrorakten und Anschlägen im Namen des Islam größer geworden, Behörden warnen vor dieser Gefahr und verstärken ihre sicherheitspolitischen Aktivitäten. Zudem wird die Bevölkerung in den Medien beinahe täglich mit unsäglichen Grausamkeiten im Nahen und Fernen Osten sowie in Afrika, die im Namen Allahs verübt werden, konfrontiert. Es wundert nicht, dass in weiten Teilen der Gesellschaft Angst um sich greift und der Islam negativ wahrgenommen und bewertet wird.

Eine unzureichende Beschwichtigung

Die Standardbeschwichtigung in Politik und Medien, aber auch von Seiten traditionalistischer Islamwissenschaftler, lautet: der Islamismus, dem die Terroristen zugerechnet werden, hat mit dem Islam nichts zu tun, dieser sei eine friedliche und menschenfreundliche Religion. Von den Terroristen, die in Europa aktiv werden oder als Kämpfer nach Syrien oder in den Nordirak ziehen, und die oft schon hier geboren und Deutsche, Franzosen usw. sind, wird ausgeführt, sie hätten eine unglückliche Kindheit und Jugend gehabt, seien orientierungslos, fühlten sich sozial ausgegrenzt und glaubten, keine Perspektiven zu haben. Von daher sei es verständlich, dass sie sich Gruppen und Ideologien anschließen, die ihnen eine wichtige oder sogar heldenhafte Funktion und ein festes Weltbild vermitteln. Deswegen müssten nur die integrationspolitischen Anstrengungen verstärkt werden, um ihr Abdriften zu verhindern. Erklärungen dieser Art werden nicht nur in Multi-Kulti-Kreisen oder bei der Linken verbreitet, sondern entsprechen mittlerweile der allerorten vertretenen political correctness.

Diese Argumentation ist nicht ganz falsch, sie kann manches erklären. Aber sie reicht nicht zu. Randständige Jugendliche ohne berufliche Perspektive gibt es leider auch ansonsten, und in vielen europäischen Ländern ist die Jugendarbeitslosigkeit katastrophal hoch –, ohne dass die so geschädigten Jugendlichen zu Terroristen werden. Warum also geschieht dies vor allem in islamischen Kontexten?

Deswegen ist in weiten Teilen der Bevölkerung Unzufriedenheit mit dieser Erklärung zu beobachten, und von daher wird der Verdacht auch immer neu genährt, die mediale und politische Exkulpation sei nicht zutreffend.  Ist tatsächlich die scharfe Trennung zwischen einem radikalen, verblendeten Islamismus und dem „normalen“ Islam zu ziehen? Finden sich nicht auch im „Alltagsislam“ Überzeugungen und Verhaltensweisen, die immer imstande sind, islamistische Ideologien und Praktiken hervorzubringen? Ist nicht die Schuldzuweisung ausschließlich an einen – kaum definierbaren – Islamismus einfach nur bequem? Von diesem „Alltagsislam“ schreibt Samuel Schirmbeck: „Überall auf der Welt, wo der Islam die Macht bekommt, werden Frauenrechte und Gedankenfreiheit eingeschränkt, Minderheiten verfolgt.“ Wer darauf verweise, dürfe nicht als „islamophob“ gegeißelt werden (FAZ vom 19.01.15, S. 6).

Schon 2005 schrieb der Islamwissenschaftler Tilman Nagel, eine Unterscheidung zwischen Islam und Islamismus sei „ohne Erkenntniswert“. Er ist der Meinung, „Islam und Islamismus sind so lange nicht voneinander zu trennen, wie Koran und Sunna als absolut und für alle Zeiten wahr ausgegeben werden“[1]

Forderung nach einer innerislamischen kritischen Auseinandersetzung

Unter dem Eindruck der brutalen Terrorakte in Paris – früher auch schon in Madrid oder London -, könnten allerdings eine Besinnung und Korrekturen erwartet werden. Immer öfter wird geäußert, dass der Islam so etwas wie ein Nährboden für Gewaltanwendung sei, es gebe einen Zusammenhang von Islam und Gewalt. Deswegen sei es  nötig, diese Zusammenhänge zu analysieren und zu korrigieren. Dies aber könne nicht nur „von außen“ geleistet werden, vielmehr sei der Islam selbst für eine Klärung dieser Zusammenhänge zuständig und verantwortlich. Schon im Herbst 2014 wünschte sich Nikolaus Schneider, damals noch Ratspräsident der EKD, von den Islamverbänden, sich kritisch mit der Rechtfertigung von Gewalt im Koran und in der islamischen Tradition auseinander zu setzen. So forderte z.B. neuerdings – wohl unter dem Eindruck von „Paris“ – die Bundeskanzlerin im Bundestag die „islamische Geistlichkeit“ auf, sich theologisch mit diesen Fragen zu befassen.

Die Adressaten innerislamischer Reflexion

Nun ist es mit diesem Adressaten, der islamischen „Geistlichkeit“, so eine Sache. Spätestens seit dem 12. Jahrhundert ist der Islam gewissermaßen in eine Erstarrung verfallen und ein engmaschiges Richtersystem geworden, das alle Fragen des sozialen und individuellen Lebens nach den Vorgaben der Scharia regelt. Die europäische Kolonialpolitik ist hierfür nicht ursächlich, hat aber diese Abschottung neueren Entwicklungen gegenüber, nach ersten – gescheiterten – Reformversuchen, letztlich noch verstärkt. So gibt es keine nennenswerte islamische Theologie, die ja dadurch lebendig wäre, dass sie sich den Herausforderungen einer neuen Zeit stellt und von daher die ererbten Positionen überdenkt.

In den islamischen Ländern sind solche kritischen Initiativen nicht zu erwarten. Wo der Islam Staatsreligion ist, oft die Scharia über der staatlichen Gesetzgebung steht und die islamischen Institutionen fest gefügt sind, hat ein solcher Appell keine Chance, abgesehen vielleicht von der Mittelschicht und bei Intellektuellen im Iran – die sich allerdings gefährden würden, wenn sie Überlegungen publizieren würden, die vom Gewohnten abweichen. Die Reaktionen in diesen Ländern auf die Ereignisse in Paris zeigen, dass hier die Chancen minimal sind.

So ist z. Zt.  der Islam in Europa der einzige Adressat für solche Wünsche. Und es ist notwendig, dass ein Euro-Islam entsteht, der durch eine kritische Reflexion der eigenen Grundlagen dann tatsächlich eine wirkliche Integration und ein gedeihliches Zusammenleben möglich macht – und auch in die islamischen Länder hineinwirkt.

Nun ist der Islam in Europa recht unterschiedlich. In den ehemaligen Kolonialstaaten kommen die meisten Immigranten aus früher von ihnen beherrschten Regionen, deren oft archaische Traditionen sie mitbringen und die nur schwer mit den Verhältnissen in ihrer neuen Heimat zu verbinden sind. Als Beispiel sei verwiesen auf die Nachrichten von Lehrern oder Polizei über die Situation in den französischen Banlieues mit muslimischer Mehrheitsbevölkerung. Ähnlich sieht es in Großbritannien aus.

In Deutschland sind die Schwierigkeiten ein wenig leichter zu handhaben, weil die Mehrheit unserer muslimischen Mitbürger aus der Türkei stammt, die seit Atatürk modernisiert wurde, allerdings gegenwärtig auch einen Prozess der (Re-)Islamisierung und der Einschränkung demokratischer Essentials durchläuft. Aber die Bitte um eine theologische Auseinandersetzung mit den eigenen Traditionen ist auch in Deutschland nicht so einfach zu bewerkstelligen: ein Großteil der hiesigen muslimischen Gemeinden wird von der DITIB (Türkisch-Islamische Union der Anstalt für Religion e.V.), also von der türkischen Regierung, geleitet. Sie entsendet die Imame für einige Jahre aus der Türkei hierhin. Bevor sie deutsch sprechen gelernt haben und die hiesigen Verhältnisse kennen – in der Regel nach fünf oder sechs Jahren -, werden sie wieder in ihre Heimat zurückbeordert und durch neue Imame ersetzt. Lässt sich von ihnen erwarten, dass sie imstande sind, sich kritisch mit der islamischen Tradition auseinander zu setzen? Hier kann es erst Veränderungen geben, wenn in Zukunft vielleicht Imame die Gemeinden leiten, die in Deutschland universitär ausgebildet wurden – selbst wenn diese Ausbildung recht defizitär ist.

Da auch bei den Funktionären der Islamverbände solche theologischen Bemühungen nicht erkennbar sind, können solche nur von (manchen) muslimischen Intellektuellen oder auch von den neuen universitären Einrichtungen für islamische Religionslehre an einigen Universitäten ausgehen. Dabei wirkt sich negativ aus, dass die (nichtmuslimischen) Islamwissenschaften keine Hilfe bieten, sondern in naiver Weise die traditionellen Erzählungen repetieren und so die muslimischen Dogmen bekräftigen. Eine Hilfe könnten die Publikationen von „Inârah. Institut zur Erforschung der frühen Islamgeschichte und des Koran“ sein (vgl. www.inarah.de).

Erste (noch unzureichende) Reformversuche

Eine erste Reaktion lässt sich vielleicht daran erkennen, dass aus den genannten Kreisen – wohl auch unter dem Druck der öffentlichen Meinung – Versuche unternommen werden, den Islam auf eine menschenfreundliche Weise vorzustellen. So hat z.B. der Münsteraner Professor für Islamlehre Dr. Muhanad Khorchide im Jahr 2012 ein Buch veröffentlicht: „Islam ist Barmherzigkeit“. Er interpretiert koranische Aussagen und kommt zu dem Schluss, dass sie ein barmherziges Gottesbild und den liebenden Gott vermitteln. Deswegen sei der Islam eine humanistische Religion. Er ist auch der Meinung, dass einzelne Vorschriften des aus dem siebten Jahrhundert stammenden Koran heute nicht mehr im Wortlaut gelten können und plädiert für eine historisch-kritische Koranexegese. Wenn auch der Koran hier sehr einseitig (und sachlich unzutreffend) ausgelegt wird, so ist der Versuch, das Gottesbild ein wenig von seinen bedrückenden Elementen zu befreien, zu loben; er könnte dazu helfen, die unbarmherzige Gewaltsamkeit Gottes, und so auch seiner Gläubigen, zu modifizieren.

Ob diese Bestrebungen Erfolg haben, muss man abwarten. Zunächst einmal haben gegen Ende des Jahres 2013 muslimische, auch die türkisch geleiteten, Dachverbände gegen die Thesen von der Barmherzigkeit Gottes protestiert; sie entsprächen nicht der Verpflichtung Khorchides auf eine bekenntnisorientierte Islamlehre. Immerhin aber gingen diese Proteste nicht so weit wie bei einem der Vorgänger auf einem Lehrstuhl für islamische Religionslehre in Münster, Muhammad (heute: Sven) Kalisch, bei dem die Dachverbände erreichten, dass er in diesem Fach nicht mehr lehren darf; allerdings hat Kalisch wirklich wissenschaftliche historisch-kritische Positionen vertreten, die für die muslimischen Interessenvertreter offensichtlich nicht akzeptabel waren.

Die gleichen Tendenzen zu einem humaneren Bild des Islam führen immer wieder dazu, bestimmte koranische Verse oder Versstücke im interreligiösen Dialog, bei Vorträgen oder in der Islamkonferenz in den Mittelpunkt zu stellen, die diesen Sachverhalt untermauern sollen. Wichtig – und immer wieder zitiert – ist hierbei der Satz aus Sure 5,32: …wenn einer jemanden tötet …, (ist es) als ob er die Menschen alle getötet hätte. Und wenn einer jemanden am Leben erhält, soll es so sein, als ob er die Menschen alle am Leben erhalten hätte“. Dass dieses schöne Zitat nicht korrekt ist, hat Gerd-R. Puin in seinem Beitrag in imprimatur schon aufgezeigt (Heft 6/7, 2014): Sure 5,32 wird eingeleitet: „Aus diesem Grund haben wir den Kindern Israels vorgeschrieben …“, es folgt das Tötungsverbot. Es gilt also für die Kinder Israels. Was für die  Gläubigen gilt, erläutert der folgende Vers 33: „Der Lohn derer, die gegen Gott und seinen Gesandten Krieg führen und (überall) im Land eifrig auf Unheil bedacht sind, soll darin bestehen, daß sie umgebracht oder gekreuzigt werden, oder daß ihnen wechselweise (rechts und links) Hand und Fuß abgehauen wird, oder daß sie des Landes verwiesen werden“ (was im Nahen Osten oder in Nigeria  gegenwärtig in die Tat umgesetzt wird)[2]. M.a.W.: der schöne Satz ist also, wenn der Koran nicht gegen seine klar erkennbare Aussageabsicht ausgelegt werden soll, leider kein Hinweis auf die Friedfertigkeit dieses Buchs. Gelegentlich wird noch ein Stück koranischer Auslegung des Alten Testaments hinzugefügt: einige Verse vorher spricht Abel zu seinem Bruder Kain, der ihn töten will, (Sure 5,28): „Wenn du deine Hand nach mir ausstreckst, um mich zu töten, so werde ich meine Hand nicht nach dir ausstrecken, um dich zu töten. Ich fürchte den Herrn der Menschen in aller Welt.“ Hier wird nur der Brudermord an Abel aus dem Buch Genesis durch einen Dialog der beiden Brüder ausgemalt, es ist Exegese des Alten Testaments zum Brudermord und nicht allgemeine koranische Lehre.

Beide Stellen sind auch Gegenstand von Vorträgen des islamwissenschaftlichen Schriftstellers und höchst geehrten Navid Kermani, die in der FAZ, bei der er einige Jahre als Autor gearbeitet hat, unter der Überschrift „Islamische Bergpredigt“ ohne Anflug einer kritischen Reflexion (z.B. auch dazu, dass ein bloßes Mordverbot bei weitem nicht das Niveau der Bergpredigt erreicht) wiedergegeben wurden (Januar 2015). Dass diese Ausführungen den Koran nicht repräsentieren, ist offensichtlich. Ähnliches gilt auch schon für seine Dissertation „Gott ist schön. Das ästhetische Erleben des Koran“ (Beck, München 1999).

Oder: Halis Albayrak von der Universität Ankara, wo angeblich eine kritische islamische Theologie vertreten wird, hält in Deutschland Vorträge. Einer von ihnen wurde gekürzt in der FAZ (18.02.15, S. 9) abgedruckt unter dem Titel: „Von Zwang steht da (im Koran, Verf.) nirgends etwas“. In unglaublich naiver Weise wird hier der Koran zu einem Dokument der Menschenwürde, der Freiheit vom Zwang, auch der Religionsfreiheit erklärt.

Wissenschaftlich führen diese Versuche, den Koran und damit den Islam positiver zu zeichnen, nicht weiter. Vielmehr haben sie mit den hierzulande üblichen Standards wissenschaftlicher Arbeit nur wenig zu tun. Aber sie haben vielleicht eine gute Wirkung, insofern sie den Blick auf den Islam positiver werden lassen, vor allem aber auch, dass sie möglicherweise das Eigenbild des Islam modifizieren können.

Darüber hinaus gibt es viele muslimische Intellektuelle, die ihrer Religion und Kultur kritisch gegenüber stehen und gegenwärtige Missstände scharfsinnig beschreiben und analysieren. Aber sie problematisieren nur selten die ererbten religiösen Überzeugungen, teilen sie vielmehr selbst und bemerken (oder schreiben) nicht, dass die Missstände in diesen Überzeugungen wurzeln.

Forderung nach historisch-kritischer Auseinandersetzung mit den eigenen Grundlagen

Dennoch muss mehr geschehen, wenn die Forderung an „die muslimische Geistlichkeit“, der Islam solle seine eigenen Grundlagen theologisch reflektieren, aufgegriffen werden soll. Diese Notwendigkeit wird neuerdings von einigen (wenigen) Muslimen erkannt und formuliert. So hat der Professor für Islamische Religionslehre an der Universität Osnabrück, Bülent Uçar, seine Glaubensgenossen davor gewarnt, auf Terrorakte wie in Paris ausschließlich mit Distanzierungen und „Betroffenheitsrhetorik zu reagieren. Sie sollten sich damit auseinandersetzen, dass Gewalt ein Teil der islamischen Tradition sei … Es sei nicht damit getan, darauf zu beharren, der Islam sei nicht gewalttätig … Der Terrorismus im Namen des Islam habe durchaus einen ‚ideologischen Unterbau und eine theologische Begründung’. Damit müssten sich Theologen und Religionspädagogen auseinandersetzen.“ Er fordert die Schaffung eines „europäisch geprägten Islam“.[3] Ähnlich sagt der muslimische Islamwissenschaftler Dr. Ednan Aslan, Professor für Islamische Religionslehre an der Universität Wien: „Wir müssen die Rechtslehre im Islam reformieren und den Islam aus einer europäischen Aufklärungstradition heraus prägen. … Ich will nicht überheblich oder eurozentrisch sein, aber klar ist: In einem Land, in dem keine Freiheit herrscht, kann man keine Religion reformieren. Das wäre ein Spiel mit dem Feuer. Aus diesem Grund haben wir diese Chance nur im Westen, weil wir in Freiheit denken und forschen, trotz aller Schwierigkeiten. Diese Freiheit ist für uns Muslime eine Chance.“[4]

Der in Frankreich lebende muslimische Theologe Ghaleb Bencheikh, Präsident der Weltkonferenz der Religionen für den Frieden, hält es für unzureichend zu behaupten, die terroristischen Verbrechen hätten nichts mit dem Islam zu tun. „Es ist an der Zeit anzuerkennen,  dass es eine gewalttätige schriftliche Tradition im Islam gibt, auf die alleine sich die Dschihadisten berufen … Es ist höchste Zeit, die doktrinären Gefängnisse und die dogmatischen Grenzmauern zu verlassen. Die Geschichtlichkeit und Undurchführbarkeit einer gewissen Zahl von Texten des islamischen religiösen Corpus liegen auf der Hand, das ist die objektive Realität. Das erkennen wir an. Und wir ziehen daraus die Konsequenzen.“[5]

Es gibt noch weitere Wortmeldungen dieser Art; die drei Genannten mögen genügen.

Was ist zu tun?

Die Richtung ist vorgegeben. Es geht darum, die geschichtlichen Vorgaben und Dogmen des Islam mit den Mitteln historisch-kritischer Analyse zu befragen. Das Programm ist formuliert, aber leider wagen nur wenige Muslime, es auch anzugehen oder durchzuführen. Natürlich gibt es Ausnahmen, z.B. Sven Kalisch in Münster, Ibn Warraq in New York oder Mondher Sfar in Paris. Aber die Reaktionen des „offiziellen“ Islam auf solche Initiativen fällt äußerst negativ und bedrohlich aus, so dass sie an den Rand gedrängt werden.

Dies wirkt abschreckend auf andere, selbst wenn sie die Notwendigkeit von Reformen und historisch-kritischem Denken erkannt haben. So gibt es bisher nur die Forderung, nicht aber die Realisierung. Um aus den Fesseln dogmatischer Vorgaben, die nicht befragt werden dürfen, herauszukommen, müssten zentrale Problembereiche von Muslimen diskutiert werden (können). Einige sollen beispielhaft genannt werden:

  • Der Koran kann durchaus, wie für Christen die Bibel, als von Gott inspiriertes Buch aufgefasst werden. Das schließt aber nicht die Erkenntnis aus, dass an seiner Abfassung Menschen mitgewirkt haben, die ihre eigenen Vorstellungen mit eingebracht haben. Diese sind geprägt von ihren politischen und gesellschaftlichen Traditionen und von den religiösen Kontexten, aus denen sie kommen und in denen sie lebten. Deswegen kann nicht jeder koranische Vers uninterpretierbar für alle Zeiten normativ sein.
  • Es müsste realisiert werden, dass eine Rückführung der koranischen Sprüche auf Mohammed erst seit dem 9. Jahrhundert historisch dingfest zu machen ist – der Koran weiß nichts davon.
  • Erforderlich ist eine historisch-kritische Exegese des Koran, vergleichbar der Bibelexegese.
  • Gefragt werden müsste, ob der Prophet Mohammed, über den es erst im 9. und 10. Jahrhundert biographische Auskünfte (offensichtlich legendarischer Art) gibt, weiterhin den Muslimen als moralisches Vorbild vorgestellt werden soll.[6]
  • Die im persischen Raum im 9. Jahrhundert entstandenen Hadithsammlungen der Sunna müssen historisch-kritisch analysiert werden.
  • Die Scharia, die Rechtsauffassungen und –praktiken spätantiker Gesellschaften widerspiegelt, sollte im Licht heutiger Wertvorstellungen korrigiert werden. Frauen- und Minderheitenrechte, humanes Strafrecht, religiöse Toleranz usf. haben Vorrang.
  • Religion und Staat, Religion und Gesellschaft müssen unterschieden und als je eigene autonome Größen gesehen werden. Beide sind zu trennen – und wirken trotzdem in Teilbereichen zusammen.
  • Anerkannt werden muss vor allem die Religionsfreiheit. Diese schließt das Recht jedes Einzelnen ein, einer Religion zuzugehören oder aus ihr auszutreten.

Durch Untersuchungen dieser Art würden keineswegs die Grundlagen der Weltreligion Islam aufgehoben oder relativiert. Vielmehr würden sie so erarbeitet und herausgestellt, wie sie selbst bei ihrer Entstehung gedacht waren. Ihre ursprüngliche Eigenart kann dann zutage treten und Geltung erlangen – nicht die späteren Interpretationen, die ihnen übergestülpt wurden.

Wie im Christentum seit der Aufklärung kann dies zu gelegentlichen Erschütterungen führen, weil jahrhundertalte normative Vorstellungen aufgebrochen werden. Aber der Sache nach können sie zu einer Befreiung der Religion zu sich selbst führen, und ebenso zu mehr Freiheit und Emanzipation der Gläubigen. Beides ist für ein Zusammenleben in der globalisierten Welt erforderlich.

Zuerst veröffentlicht in: imprimatur 48, 2015, 48-53

 

 

[1] Tilmann Nagel, Islam oder Islamismus? Probleme einer Grenzziehung, in: Hans Zehetmair, Der Islam. Im Spannungsfeld von Konflikt und Dialog, Wiesbaden 2005, 32.33.

[2] Leider ist der Text von Sure 5,33 nicht nur in islamistischen Kreisen, sondern auch in der Mitte des Islam normativ. Die Al Azhar-Universität in Kairo gilt als geistiges und moralisches Zentrum und normative Instanz innerhalb des sunnitischen Islam. Von hier aus gab es keinerlei Proteste gegen die unmenschlichen Grausamkeiten des Islamstaates. Als ein gefangener jordanischer Pilot von ihm bei lebendigem Leib verbrannt wurde, protestierte Scheich Ahmad al Tayyib, Großimam der Universität, dagegen – das sei unislamisch – und nannte als gerechte Strafe für die Verantwortlichen für die Verbrennung: die Kreuzigung oder das Abschlagen ihrer Glieder (vgl. FAZ vom 07.02.15, S. 5), also alles, was Sure 5,33 vorsieht (eine Verbrennung wird dort nicht genannt und gilt im Islam als alleiniges Recht Allahs, ist also ein Verstoß gegen die Scharia; der Rest ist anscheinend in Ordnung).

[3] http:www.migazin.de/2015/01/15/islamforscher-ucar-pariser-terrorakte-unterbau/

[4] Spiegel online. Aslan

[5] http www. slate.fr/story/97111/refonder-pensee-theologie-islam/

[6] Immerhin können sich die Terroristen, die Redakteure von Charlie Hebdo ermordeten, auf dieses Vorbild berufen: Mohammed soll nach der Eroberung Mekkas den Befehl gegeben haben, dortige Dichter, die Spottverse über ihn geschrieben hatten, zu töten.