Karl-Heinz Ohlig
Wissenschaftliches Arbeiten in der Islamwissenschaft
Folgen für den Religionsunterricht
in: imprimatur 41, 2008, 288-291 (ISSN 0946 3178)
Es ist immer schwierig, lieb gewordene Überzeugungen und Vorstellungen auf Grund rationaler Überlegungen in Frage stellen zu müssen. Dies gilt auch, und vielleicht in besonderem Maß, für den Bereich der Religionen.
So hat die Aufklärung für das Christentum viele Erschütterungen gebracht. Dennoch aber war dieser Umbruch notwendig, und das Christentum verdankt ihm die Möglichkeit, weiterhin für modern denkende Menschen lebbar zu sein. Dabei ist dieser Prozess auch im Christentum noch keineswegs abgeschlossen, wie immer neue Versuche in allen Kirchen zeigen, über die Ergebnisse der historisch-kritischen Forschung hinweg zu gehen und die tradierten Überzeugungen unbeschadet stehen zu lassen.
Von daher ist es verständlich, dass die islamische Theologie, die bisher keine Aufklärung durchlaufen hat, diese im Gegenteil als westlichen Angriff von „Ungläubigen“ versteht, keine kritische Beschäftigung mit den eigenen Anfängen kennt. Und die gesellschaftlichen Verhältnisse in „islamischen“ Ländern lassen es keineswegs als aussichtsreich erscheinen, dass sich dies in naher Zukunft ändern könnte. Nur innerhalb des sogn. Euro-Islam gibt es einige positive Signale.
Umso erstaunlicher ist es aber, dass die an deutschen Universitäten angesiedelte Islamwissenschaft, die ja meist von Nicht-Muslimen vertreten wird und deswegen keine bekenntnismäßigen Bindungen hat, sich wissenschaftlichem, d.h. für unsere Frage: historisch-kritischem Denken weithin verweigert. Gleichgültig, welches Buch man liest, es bietet – mal pauschaler, mal differenzierter – immer das Gleiche über Mohammed, sein Leben und seine Lehre sowie über die Anfänge und die weitere Entwicklung des Islam. Damit wird auch darauf verzichtet, kritische Impulse für die muslimische Theologie zu geben; diese wird sich vielmehr bloß bestätigt fühlen. Die Islamwissenschaftlerin Angelika Neuwirth, Berlin, vertritt als ihren „Ansatz“, mit den muslimischen Kollegen ins Gespräch zu kommen. „Es wäre eine Vergeudung, wenn wir die unschätzbaren Kenntnisse und Erfahrungen islamischer Korangelehrter, die wir uns als Außenstehende kaum je vollständig aneignen können, einfach ignorieren würden. Wir können nicht annähernd so viel über die sprachlichen und theologischen Aspekte des Koran wissen wie diese Gelehrten“ (Interview mit „Die Tagespost“, Feuilleton, vom 10.06.08, S. 9). Wenn wir uns alles oder vieles von Mullahs und sonstigen Islamtheologen sagen lassen, wozu braucht es dann noch eine Islamwissenschaft an unseren Universitäten? Ebenso könnte man auf kritische biblische Exegese verzichten und sich an dem orientieren, was antike oder mittelalterliche Theologen von der Bibel sagten; diese lebten gänzlich, wie es heute nicht mehr möglich ist, in den biblischen Rastern und kannten sie in- und auswendig wie kaum ein heutiger Exeget.
Dabei war das in der Islamwissenschaft durchaus einmal anders. Im 19. und frühen 20. Jahrhundert gab es beeindruckende Veröffentlichungen, die aber später und bis heute nicht mehr berücksichtigt wurden. So kommt es, dass man in gegenwärtigen islamwissenschaftlichen Büchern so gut wie niemals die Frage findet – und mit ihr fängt gemeinhin alle historische Wissenschaft an –, auf welche Quellen in welchen Handschriften aus welcher Zeit und mit welcher historischen Plausibilität sich die folgenden Ausführungen stützen und wie gesichert Datierungen und Inhalte sind. Die in der Tradition angegebenen Datierungen, Autorenbiographien, oft sogar die Überliefererketten (Isnad) werden nicht oder nur selten hinterfragt. Erst recht gibt es keine kritische Auseinandersetzung mit diesem Material und eine Berücksichtigung von und einen Vergleich mit zeitgenössischen Quellen, die es ja durchaus auch gibt und die oft andere Zusammenhänge und Abläufe nahe legen.
Wenn Tilman Nagel gerade eine rund tausendseitige Mohammedbiographie veröffentlicht hat, kann er sich der Sache nach nicht – oder nur willkürlich, in einer Form von Eisegese – auf den Koran stützen, der keine Möglichkeit bietet, ein „Leben Mohammeds“ zu rekonstruieren, noch nicht einmal Hinweise gibt, dass die koranischen Sprüche auf der Arabischen Halbinsel, gar in Mekka und Medina, zu lokalisieren wären. Für Nagel aber ist klar: „Die Verschriftlichung (des Koran) beginnt in den Jahren in Mekka … Der größte Teil des Koran aber lag, als er (Mohammed) starb, schon schriftlich vor“ (Interview mit ‚Der Standard’, Wien, vom 04.07.08). Leider verschweigt er uns, woher er das weiß, oder ob er dafür irgendwelche Belege hat, die außer ihm auch andere nachprüfen könnten.
Basis aller Ausführungen ist vielmehr die reichhaltige muslimische Traditionsliteratur, besonders die Sira und die Annalen des at-Tabari, aus dem 9. und 10. Jahrhundert, also zwei- bis dreihundert Jahre nach der angenommenen Lebenszeit Mohammeds geschrieben; von ihr her wird der Koran gelesen. Da bleibt nur der naive Glaube, diese späten Überlieferungen seien aus einer ungebrochenen und historisch zuverlässigen mündlichen Tradition hervorgegangen – eine Hypothese, die in historischen Wissenschaften und auch für die christliche Theologiegeschichte und Exegese vielfach widerlegt ist: Das Erzählen (wie auch das Abschreiben von älteren Manuskripten) schafft ungeahnte Möglichkeiten zum Verändern, Dazuerfinden und Neuinterpretieren von Geschichten, Worten und Motiven, nicht aus bösem Willen oder mit betrügerischer Absicht, sondern weil diese Neubildungen nach Ansicht der Erzähler oder Schreiber mittlerweile die „wahre“ Sicht ermöglichten. Am Ende einer Erzählkette ist das ursprüngliche Erzählgut kaum noch wieder zu erkennen. Die muslimische Traditionsliteratur zur Basis historischer Aussagen zu nehmen, wäre etwa vergleichbar einem Unterfangen, ein „Leben Jesu“ aus den Schriften des Origenes (gest. um 250) und seiner Zeitgenossen zu rekonstruieren. Ein Theologe, der das unternähme, verfiele der Lächerlichkeit; ein Islamwissenschaftler, der Vergleichbares tut, gilt möglicherweise als renommierter Wissenschaftler.
So verwundert es nicht, dass Versuche, das Quellenmaterial kritisch zu sichten und für die Rekonstruktion der Anfänge des Islam auf zeitgenössische Quellen zurück zu greifen, Unruhe und z.T. heftige Reaktionen verursacht; viel Polemik und Schimpfen ist an der Tagesordnung. Michael Marx, Assistent von Angelika Neuwirth, meint (in einem Spiegel online-Interview, www.spiegel.de/unispiegel/studium), die Vertreter dieser Neuansätze stünden „sogar außerhalb der Wissenschaft“. Er begründet dies mit einem Verweis auf den Koran, bei dem „die Evidenzlage so gut wie bei keiner anderen Religion“ sei. Dabei übergeht er souverän die Feststellungen selbst konservativer Islamwissenschaftler (z.B. M. Watt, R. Paret usw.), dass der Koran zu einem Leben Mohammeds keine Informationen bietet. Notwendig wäre dagegen eine wissenschaftliche Diskussion, die sich sachlich und argumentativ mit neuen Thesen auseinander setzt. Es wäre sehr schön und weiterführend, wenn es einmal wirkliche Gegenargumente gäbe, die sich innerhalb der Standards historischer Wissenschaft bewegen würden und sich auf nachprüfbare Quellen bezögen. Da der Islam, wie auch alle anderen Religionen, ein historisches Phänomen ist, hat eine wissenschaftliche Beschäftigung mit seinen Anfängen, seiner Geschichte und seinen Ausprägungen zunächst einmal eine Analyse des je zeitgenössischen Quellenmaterials mit den methodischen Mitteln der historischen Wissenschaften zur Voraussetzung.
Erstaunlich ist, dass jetzt auch einige christliche Theologen, von denen bisher nicht bekannt ist, dass sie sich je mit diesen Fragen beschäftigt hätten, in die Polemik einstimmen. Sie engagieren sich für das Bestehenbleiben der traditionellen Erzählungen zu Mohammed und zum Islam; wahrscheinlich gefallen ihnen diese besser, weil sie dann nicht realisieren müssen, was schon der bekannte (und ansonsten viel zitierte) Islamwissenschaftler Friedrich Schwally 1919 bei der Überarbeitung der „Geschichte des Qorans“ von Theodor Nöldeke geschrieben hat: „Aber den Theologen ist es noch nicht genügend zum Bewusstsein gekommen, daß der Islam zur Kirchengeschichte gehört“ (Leipzig 1919, S. 209); koranische Theologie und Christologie waren einmal christliche – näherhin syrische – Theologie.
Als Beispiel mag Werner Trutwin dienen, der schon in „Christ in der Gegenwart“ (Nr. 18, 2008, S. 189) heftig gegen neue Forschungsansätze polemisiert, natürlich ohne Verweis auf die entsprechenden Bücher und ebenso natürlich ohne sachliches Argument.
Werner Trutwin hat mit seinem Unterrichtsmaterial den Religionsunterricht an Gymnasien seit langer Zeit beeinflusst. Auch schon dabei ist er nicht durch kritische Positionen auffällig geworden – etwas mehr davon hätte dem Religionsunterricht an Gymnasien durchaus angestanden –. Jetzt aber unterbietet er im neuesten Heft der Zeitschrift des Bundesverbandes der katholischen Religionslehrer an Gymnasien „rhs. Religionsunterricht an höheren Schulen“, Nr. 3/2008) alle minimalen Maßstäbe, die auch er ansonsten nicht vermeiden kann. So würde er sicher nicht behaupten, es gebe nicht Probleme um den historischen Jesus oder um die kerygmatische Struktur der neutestamentlichen Texte oder um die biblischen Erzählungen zu den Patriarchen oder zur Mosezeit; er würde kaum die These vertreten, alle biblischen Schriften dokumentierten, so wie sie berichten, einfachhin Geschichte. Was in der christlichen Theologie seit der Aufklärung selbstverständlich ist und auch in maßvoller Reduktion bei Trutwin angekommen ist, gilt aber offensichtlich nicht für Untersuchungen der islamischen Anfänge; dort soll alles so bleiben, wie es immer war.
Das genannte Heft trägt den Titel „Muhammad“ und druckt nur Beiträge der „besten Islamforscher Deutschlands“ (so Trutwin, S. 121) ab (gemeint sind: Peter Heine, Adel Theodor Khoury, Tilman Nagel, Stefan Wild und andere).
Obwohl schon lange selbst traditionelle Islamforscher einräumen, dass sich aus dem Koran keine biographischen Angaben zu Mohammed gewinnen lassen, belegt der Koran nach Nagel sogar „höchst unterschiedliche Phasen des Selbstverständnisses Mohammeds“ (S. 126), die detailliert dargelegt werden, einschließlich seiner Verwandtschaftsverhältnisse und der jeweiligen Stammesverbände. Nagels Ausführungen sind zwar durchaus islam- und Mohammed-kritisch, aber leider nicht historisch-kritisch. So ist es z.B. für ihn – natürlich nicht positiv gewertet – „eine Tatsache“, dass Mohammed mit der neunjährigen Aischa die Ehe vollzogen habe (Standard-Interview, ebd.). Allerdings stammt diese Erzählung im Stil orientalischer Haremsgeschichten – wie auch die zu anderen Frauen Mohammeds – aus dem 9. Jahrhundert; kann man da einfach so von einer „Tatsache“ reden? Stefan Wild, der die unkritische Mohammed-Biographie von Hartmut Bobzin, München 2000, empfiehlt (S. 153), räumt immerhin ein, dass schon um die vorletzte Jahrhundertwende Ignaz Goldziher, einer der „Väter“ der Islamwissenschaft, das Gesamtcorpus der Prophetenüberlieferungen skeptisch betrachtet und sie nicht als Dokumentation „für die Kindheitsgeschichte des Islams“ angesehen hat (S. 147.148), was aber im Folgenden nivelliert und nicht weiter diskutiert wird. Und Peter Heine spricht sogar von der „kritischen (!) Sammlung der Prophetentraditionen“ im 9. Jahrhundert (S. 140). Er berichtet davon, dass ein Teil der Islamwissenschaftler diese Traditionen nicht für authentisch halte. „Heutige Fachleute gehen davon aus, dass man das Alter eines Teils der Überlieferungen zumindest auf die zweite Generation der Anhänger des Propheten zurückführen kann“ (ebd., ähnlich Stefan Wild, ebd. S. 148). Warum und wieso und mit welchen Argumenten wird nicht mitgeteilt, ebenso wenig wird darüber nachgedacht, was es für Überlieferungen bedeutet, wenn sie in ihrem Ursprung auf eine zweite Generation zurückgeführt werden (und erst viele Generationen später aufgeschrieben wurden [und in noch viel späteren Handschriften vorliegen]). Ebenso wenig wird die Frage gestellt, mit welchem wissenschaftlichen Recht ein älterer Text (Koran) von jüngeren – und zudem tendenziösen – Überlieferungen her ausgelegt werden kann. Ein wissenschaftlicher Zugang zum Koran wird nur möglich, wenn er auf dem Hintergrund derjenigen Quellen, Vorstellungen und Motive verstanden wird, die zu seiner Entstehungszeit nachweislich auf ihn Einfluss genommen haben und von ihm verwandt und variiert worden sind.
Konsequent stellt Stephan Leimgruber, der ausgerechnet für den Religionsunterricht die unsägliche Mohammed-Biographie von M. Fethulla Gülen (Offenbach 2007) empfiehlt, in seinem Beitrag „Jesus und Muhammad. Ein Vergleich in religionsdidaktischer Perspektive“ (ebd. 160-167) das Ganze noch einmal in handlicher religionspädagogischer Form vor. Da bleibt nichts als Resignation.
Sollen an höheren Schulen weiterhin Mythen des 9. und 10. Jahrhunderts fraglos als historische Berichte über das frühe 7. Jahrhundert ausgegeben und verschwiegen werden, dass der Koran selbst von alledem nichts weiß bzw. nur mit sehr viel Akrobatik von späteren Texten her so gelesen werden kann? Darf historisch-kritisches Denken nur im Christentum – aber auch in Bezug auf andere Religionen –, nicht aber im Islam zum Zuge kommen? Wenn dies sogar im katholischen Religionsunterricht um sich greift, was hat man dann erst von einem islamischen Religionsunterricht zu erwarten? Wie passt das alles noch in das Gesamtlernziel der Schulen, das mit Emanzipation und autonomem kritischem Denken zu tun hat?
Zu loben ist der unkommentierte Abdruck eines Interviews mit Professor Wolfram Weiße im gleichen Heft (S. 174.175), in dem er sich gegen die Beibehaltung des konfessionellen Religionsunterrichts und eine entsprechende Einführung eines Islamunterrichts ausspricht. Er plädiert für einen, für alle Schüler obligatorischen, gemeinsamen „dialogischen Religionsunterricht“. Vielleicht könnte man von einem solchen Unterricht erhoffen, dass er einen kritischen Zugang zu den für die Schüler wichtigsten Religionen, und damit ein Verstehen, erschließt, ohne Exemptionen oder Tabu-Zonen gegenüber dem Denken.