Zur Islamforschung

Zur Islamforschung

Karl-Heinz Ohlig

Das vierte internationale und interdisziplinäre Symposion von Inârah an der Europäischen Akademie Otzenhausen vom 20. bis 23.03.14

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Inârah heißt soviel wie „Aufklärung“ und ist der Name eines islamwissenschaftlichen For- schungsinstituts, das im Jahre 2007 mit Sitz in Saarbrücken gegründet wurde. Sein einziger Zweck ist die wissenschaftliche Erforschung der Entstehung der Weltreligion Islam.
Wozu war das nötig? Ist über die Anfänge des Islam nicht alles hinreichend bekannt? Da gab es als Gründer der Religion den Propheten Mohammed (570-632 n.Chr.), der in Mekka und Medina als Prediger auftrat und bis zu seinem Tod die Arabische Halbinsel unter seiner poli- tischen und religiösen Herrschaft vereinigte. Nach seinem Tod breitete sich der Islam in er- staunlicher Weise aus und schuf mächtige Großreiche. Die Worte Mohammeds wurden von Zuhörern überliefert oder aufgezeichnet und unter dem dritten Kalifen Uthman (Osman) zur heutigen Ganzschrift des Koran zusammengestellt.

So erzählen es die Muslime, und so wird es auch in der Islamwissenschaft wiedergegeben. Leider haben diese Erzählungen einen Schönheitsfehler: sie berufen sich auf islamische Lite- ratur aus dem 9. und 10. Jahrhundert, vorher gibt es für die dargebotenen Abläufe keinerlei nachprüfbare Zeugnisse. Dabei sind durchaus zeitgenössische Quellen erhalten: Münzen und Inschriften, religionsgeschichtliche und politisch-soziale Zusammenhänge, die reichhaltige christliche Literatur, die im 7. und 8. Jahrhundert unter arabischer Herrschaft geschrieben wurde, und schließlich auch der Koran.

Bezieht man sich, wie in den Geschichtswissenschaften und auch in der Religionswissen- schaft üblich, auf die nachprüfbaren zeitgenössischen Quellen, bietet sich ein gänzlich ande- res Bild der damaligen Abläufe an. Diese Diskrepanz war der Grund für die Gründung von Inârah und ebenso für die mittlerweile weltweite Kooperation mit sehr vielen islamwissen- schaftlichen Forschern. Allein während des letzten Symposions referierten 19 Forscher aus den USA, Kanada, Ecuador, Frankreich, Holland, Polen, Deutschland usw. und trugen ihre speziellen Forschungsergebnisse vor. Sie erweiterten unser Wissen um die frühe Islamge- schichte und den Koran in entscheidenden Punkten. Bisher sind sechs Sammelbände publi- ziert worden, in diesem Jahr folgt ein siebter Band.

Untersuchungen zu der Geschichte von Religionen sind wichtig, weil die historischen Er- kenntnisse einen Beitrag leisten können zu ihrer Entdogmatisierung und zur Emanzipation ihrer Mitglieder und damit zu einem freieren selbstbestimmten Leben. Und auch für die Reli- gionen selbst sind solche Ergebnisse wichtig, weil sie ihnen ermöglichen, nicht als archaische Relikte zu erscheinen. Für das Christentum hat die Aufklärung bewirkt, dass es sich auch heutigen Menschen vermitteln kann.

Nun sind die Forschungen zum Frühislam noch keineswegs abgeschlossen, vieles ist noch nicht in ein neues Gesamtkonzept einzuordnen. Immerhin aber haben die Beiträge auf den Tagungen und in den Sammelbänden schon einige Ergebnisse gebracht, deren Grundlinien im Folgenden kurz skizziert werden sollen.

  1. Es ist unbestreitbar, dass die nach der Vorgabe der Traditionsliteratur und eines von ihr her rückinterpretierten Koran vertretenen Thesen historisch unzutreffend sind. Sie sehen den Islam entstanden auf der Arabischen Halbinsel im 7. Jahrhundert durch Leben und Ver- kündigung des Propheten Mohammed, dann im Zuge von militärischen Expansionen und Er- oberungen riesiger Gebiete unter Führung von Kalifen verbreitet und etabliert. Die Traditi- onsliteratur aber, also die Biographien des Propheten und die Sunna, ist frühestens zweihun- dert Jahre nach den behaupteten Ereignissen niedergeschrieben worden, in manchen Fällen, z.B. bei at-Tabari, noch viel später. Und die Handschriftenüberlieferung dieser Werke ist meist noch späteren Datums, mit allen hier anzunehmenden Möglichkeiten weiterer Überar- beitung, Einfügung neuer Stoffe, Interpolationen usf. Die dieser Literatur angeblich zu Grun- de liegenden mündlichen Überlieferungen sind nicht nachweisar, ebenso wenig wie die im Is- nad (Überliefererketten) angegebenen Gewährsleute mitsamt ihren fiktiven Biographien. Sie sind nicht als historische Quellen zu betrachten, die über lange zurück liegende Ereignisse, zu denen sich auch im Koran keine Hinweise finden, Auskunft geben könnten; sie erzählen eine „heilige Geschichte“, wie man sich die Anfänge seit dem 9. Jahrhundert vorstellte, mit oft klar erkennbarer kerygmatischer Ausprägung nach biblischen Mustern. Sie stellen ein „Implantat“ in das kollektive Gedächtnis der Muslime dar, keine Schilderung tatsächlicher Abläufe.
  2. Die koranische Bewegung und der ältere Textbestand des Koran sind nicht auf der Arabi- schen Halbinsel entstanden, sondern im mesopotamischen Großraum. Untersuchungen zur Schrift- und Sprachgeschichte des Koran machen diese Annahme zwingend. Von daher ergibt sich, dass der arabische Prophet Mohammed, der in Mekka und Medina gelebt und gelehrt haben soll, in Frage gestellt werden muss. Zuerst findet sich – auf Münzen und Inschriften, wie besonders der im Felsendom, wohl der christologische und apokalyptische Hoheitstitel Machmet, Mechmet, Muhammad, um den sich später eine narrative Tradition gebildet hat, die sich zunehmend von seinem ursprünglichen Bezugspunkt, dem Messias und Gottesknecht Jesus, löste.
  3. Ebenso eindeutig ist, dass am Anfang dieser Bewegung und ihrer schriftlichen Äußerungen christliche Gruppen standen. Der Begriff „christlich“ ist in diesem Fall in einem sehr weiten Sinn zu verstehen, insofern gelegentlich auch jüdische, pagane, persische oder gnostische Vorstellungen eingeflossen sind – wie es immer im Zuge der Verbreitung und Rezeption einer Religion bei konkreten Inkulturationsprozessen der Fall ist. Das syrisch-persische Christentum war sehr pluriform und kannte lange Zeit keine dem west- lichen Christentum vergleichbare Strukturen der Kirchenorganisation und der dogmatischen Festlegungen. Bei der Fülle der damals in diesem Raum verbreiteten Ideologien und religiö- sen Richtungen konnten die Schreiber auf eine Gemeinsamkeit, nämlich eine apokalyptische Grundstimmung sowohl in der Zarathustrareligion wie im Judentum, in den gnostischen Richtungen und im Christentum zurückgreifen. Von dieser Basis aus versuchten sie, ein Modell zu schaffen, in dem sich alle wieder finden konnten; sie strebten einen Konsens, Islam, an. Hierbei war die wichtigste Grundlage die hei- lige Schrift, an die sie sich – ein wenig analog zur Mentalität von Talmudleuten – penibel hiel- ten, und zwar in der Auslegung der noch nicht von Nizäa geprägten syrischen Theologie (kei- ne Gottessohnschaft Jesu, keine Trinität).
  4. Es gibt weiterhin einen Konsens zur Nähe dieses Christentums zum Alten Testament und seinen Apokryphen bzw. generell zu jüdischen Vorstellungen, wofür nicht nur die sprachli- che Nähe zu den Synagogengemeinden, sondern wohl auch vergleichbare Mentalitäten ur- sächlich sind: auch die Syrer sind Semiten, Aramäisch, Hebräisch und Arabisch miteinander verwandt. Noch wird diskutiert, ob hier von einem Judenchristentum oder aber von einem syrischen Christentum gesprochen werden muss; denn auch Letzteres weist in seiner vorni- zenischen Gestalt zahlreiche Merkmale auf, die von vielen als Judenchristentum interpretiert werden – oft allerdings anscheinend deswegen, weil sie das syrische Christentum nicht ken- nen. Ein Problem ist, dass judenchristliche Gruppen in so relativ später Zeit, also zur Zeit der Entstehung des Koran, nicht nachweisbar sind, trotz der Bemühungen etwa von Schlomo Pi- nes und anderer. Andererseits aber ist die ostsyrische Großkirche zu dieser Zeit selbst auch schon vom Sog hellenistischen Denkens erfasst, seit der Anerkennung des Symbols von Nizäa auf dem Konzil dieser Großkirche in Seleukia-Ktesiphon im Jahre 410. Von daher muss wohl angenommen werden, dass die koranische Bewegung aus Kreisen hervorgegangen ist, die auch in dieser Zeit noch an ihren ererbten vornizenischen Auffassungen festhielten, wenn man so will: Kreise von „Altgläubigen“. Vielleicht lebten sie – ehemalige Deportierte mit ideo- logischer Blickrichtung auf einen neuen Exodus nach Palästina – in sprachlichen und kultu- rellen Ex- oder Enklaven inmitten anders geprägter Majoritäten. Diese Fragen müssen noch weiterhin diskutiert werden, wobei eine bisher nicht geleistete intensive Beschäftigung mit ostsyrischer christlicher Literatur und sonstigen Quellen notwendig wird.
  5. Die Bestimmung des genaueren – wie Geneviève Gobillot (Islamwissenschaftlerin in Lyon) formuliert – „Emergenzterrains“ des Koran, also des kulturellen, zeitgeschichtlichen und re- gionalen Umfelds für die Entstehung der koranischen Bewegung ist nicht einfach zu lösen. Der mesopotamische Raum ist groß, und in seinen Ausläufern greift er aus bis in Gebiete, die wir heute Turkmenistan oder Afghanistan oder der Persis zuordnen. Überall dort gab es christliche Gemeinden syrischer Prägung auf Grund der zahlreichen Deportationen und Um- siedlungen aus dem Westen nach Osten durch die Sassaniden. Dieses Christentum war bis ins 9. Jahrhundert hinein sehr aktiv und betrieb Mission bis nach China und Indien. Vieles spricht dafür, ein Emergenzterrain tief im Osten anzunehmen, genauerhin in der Mar- giana mit der Großstadt Merw (heute Süd-Turkmenistan) als Zentrum und in Baktrien. Die wichtigsten Gründe hierfür sind folgende:

Die koranischen Sprüche können nicht in beduinischem oder halbnomadischem Umfeld ent- standen sein, sondern sie setzen urbane Kontexte voraus. Es zeigt sich bei genauerer Exegese immer deutlicher, dass einzelne Textpassagen – trotz der zusammenhanglosen Aneinander- reihung der Sprüche, die beim Lesen oft den Eindruck des Banalen erweckt – recht elaboriert gestaltet sind und komplexe theologische Diskussionen zur Voraussetzung haben. Nur in ei- nem urbanen Umfeld können zugleich biblische, zoroastrische, manichäische, mandäische Vorstellungen und Bilder verbreitet und unmittelbar verständlich gewesen sein, auf die der Koran Bezug nimmt und bei seinen Adressaten als bekannt voraussetzt. Auch die im Koran verwendete theologische Begrifflichkeit ist das Resultat der vorherigen Christentums- und Re- ligionsgeschichte. Vor allem aber ist die immer mehr zu Tage tretende Bezugnahme des Koran auf weitere spätantike Literatur – z.B. auf Porphyrios, das Corpus Hermeticum, auf Tertulli- an, Laktanz, den Alexanderroman usf. – ein Hinweis auf Regionen, in denen auf Grund ihrer kulturellen Prägung und Geschichte die Kenntnis dieser Schriften angenommen werden kann sowie auf Autoren, die nach damaligen Verhältnissen als gebildet zu bezeichnen sind. Merw und Baktrien, mit ihrer hellenistischen Tradition, bieten diese Voraussetzung. Diese Lokali- sierung könnte auch erklären, wieso es später zu Einflüssen buddhistischer ritueller Prakti- ken auf den Frühislam gekommen ist.

Gestützt wird diese Annahme auch durch die Herkunft ’Abd al-Maliks aus Merw, der auf sei- nem Zug nach Westen, nach Palästina und Jerusalem Münzen prägen ließ, die erstmals den Begriff MHMT (je nach Vokalisierung:Machmat / Mechmet / muhammad) trugen. Dass ’Abd al- Malik eine große Bedeutung für die arabische Niederschrift koranischer Sprüche hatte und diese reichsweit förderte, scheint nicht mehr umstritten zu sein.
Wer die ersten Schreiber waren, ist ungewiss. Im Lauf der Zeit aber haben Schreiberschulen, spätestens seit ’Abd al-Malik in offiziellem Auftrag, diese Rolle übernommen. Dass es Schrei- berschulen waren, ergibt sich aus der Art der syrischen und dann arabischen Verschriftli- chung, die defektiv (also unlesbar) war und nur von den Schreibern selbst vorgelesen werden konnte.

  1. Für arabische, erst recht islamische Eroberungszüge von der Arabischen Halbinsel aus gibt es keinerlei zeitgenössische Belege. Sicher aber ist, dass es im ganzen Vorderen Orient und in Ägypten sei längeren Zeiten „Araber“ gab – was immer im Einzelnen darunter zu verstehen ist. Aus ihnen rekrutierten die jeweiligen Großmächte in diesem Raum, Byzanz und die Sassaniden, Hilfstruppen, vergleichbar der Praxis Roms im Westen des Reichs in Bezug auf die Germanen. Als sich Byzanz, trotz einer Reihe von Siegen über die Sassaniden ab 622 unter Kaiser Herak- lius, weitgehend aus seinen ehemaligen Provinzen in Westsyrien und Ägypten zurückzog, übernahmen „arabische“ regionale Anführer die Herrschaft, zunächst noch als Bundesgenos- sen und Tributpflichtige, nach der gewaltsamen Beendigung der Herrschaft der Familie des verstorbenen Kaisers Heraklius in Byzanz im Jahr 641 auch als Autokraten. Gemäß der In- schrift im Bad von Gadara wurde anscheinend der Beginn der Siege des Heraklius im Jahre 622 als Anfang der arabischen Selbstherrschaft angesehen. Um die Mitte des 7. Jahrhunderts brach auch die sassanidische Dynastie im Perserreich zusammen. Araberführer, aber auch andere regionale Autoritäten (es gab noch längere Zeiten zoroastrische und buddhistische Dynastien) übernahmen die Herrschaft.
  2. Die Vielfalt von territorialen Herrschaften wurde erstmals zu so etwas wie einem Groß- reich zusammengefügt durch den ersten historisch nachweisbaren Herrscher Maavia, arabi- siert Mu’awiya. Dieser war eine Art von charismatischer Führerfigur und wohl Christ oder Anhänger einer benachbarten religiösen Gruppe. Ähnliches gilt auch für den aus Merw ge- kommenen ’Abd al-Malik, der sowohl die arabische Sprache wie die Niederschrift koranischer Materialien in arabischer Schrift beförderte. Wahrscheinlich waren auch die späteren abbasi- dischen Herrscher des 8. Jahrhunderts, deren Namen wir oft nicht kennen, weil sie auf ih- ren Münzen Motti, die nicht als Namen angesehen werden können, anbringen ließen, noch Christen.
  3. Wann der Umbruch der koranischen Bewegung zu einer eigenständigen Religion, dem Is- lam, anzusetzen ist, lässt sich nicht genau bestimmen, die Übergänge waren wohl fließend. Aber um das Jahr 800 scheint sich dieser Prozess endgültig durchgesetzt zu haben.
    Jetzt wurden die Texte, auf die sich die koranische Bewegung schon vorher, als richtige In- terpretation der Schrift, von Altem und Neuem Testament, gestützt hatte, zum heiligen Buch der neuen Religion – in welchem Umfang auch immer es damals schon vorgelegen hat. Die seit ’Abd al-Malik in arabischen Schriftzeichen defektiv (ohne diakritische Punkte zur Festle- gung der Konsonanten und ohne Vokalzeichen) aufgeschriebenen Texte mussten jetzt nicht mehr nur für Schreiberkollektive am Hof, sondern für viele, vor allem auch für Nicht-Araber, wie z.B. die Perser, lesbar sein. Sie wurden folgerichtig im Verlauf des 9. Jahrhunderts all- mählich plene ausgeschrieben. Hierbei ermöglichte es die Unbestimmtheit der Textvorlagen, die Einfügung diakritischer Zeichen zu nutzen, um die Aussagen zum einen arabisch, zum anderen im Sinne der neuen Religion zu interpretieren. Wann dieser Vorgang abgeschlossen war und erste Ganzschriften vorlagen, ist noch unbestimmt, vielleicht gegen Ende des 9. oder Anfang des 10. Jahrhunderts.
  4. Parallel dazu wurde ein Anfangs- und Gründungsmythos für die neue Religion entworfen, bzw. er entwickelte sich von selbst. Die Gestalt Mohammeds rückt jetzt ins Zentrum; der in Vorstufen im 8. Jahrhundert schon als Apostel Jesu historisierte Mohammed wird zum defi- nitiven Verkünder der Offenbarung Allahs. In diese Erzählungen wurde jetzt auch die mitt- lerweile historisierte Ali-Prädikation eingefügt, er wurde zum Cousin und Schwiegersohn Mo- hammeds. Die Projektion der Anfangsmythen auf die Arabische Halbinsel bot sich vielleicht von selbst an, weil die Kenntnisse über die anderen Herkunftsländer der Araber in Mesopotamien mitt- lerweile vergessen waren, vielleicht aber auch, weil es auf der Arabischen Halbinsel keine konkurrierenden kultischen Zentren der großen Religionen gab. Jedenfalls schuf sie den Rahmen, im Wirken des dortigen Mohammeds einen völligen Neuanfang zu umschreiben – das entscheidende Narrativ für die neue Religion. Auch die weitere Geschichte seit Mohammed wurde in der uns bekannten Weise zu einer hei- ligen Geschichte ausgestaltet, wofür in der Regel die Modelle biblischer narrativer Traditionen benutzt wurden.
  5. Die Herausbildung und Etablierung eines Islam in den heute noch geltenden Strukturen scheint erst zur Zeit Saladins abgeschlossen zu sein.

Einige Anmerkungen zum Koran

  1. Konsens ist, dass der Koran über einen längeren Zeitraum hin entstanden ist; viele Auto- ren und auch deutliche Zeichen späterer Überarbeitung lassen dies erkennen. Anscheinend reichen seine Anfänge bis in die ausgehende Sassanidenzeit zurück, wie z.B. die Stilisierung der biblischen Pharaonen nach dem Modell sassanidischer Herrscher zeigen kann. Wann er abgeschlossen war, nach Vorgabe des Thomasevangeliums in 114 Suren gegliedert, diese mit Namen versehen und in einer Reihenfolge nach dem „Prinzip der abnehmende Länge“ – wie vielleicht auch das Corpus der (echten) Paulusbriefe – geordnet wurden sowie seine Texte mit diakritischen Zeichen und Vokalzeichen versehen waren, ist noch offen. Diese Fragen werden in der traditionellen Islamwissenschaft nicht untersucht, noch nicht einmal gestellt. Viel- leicht kann man das frühe 10. Jahrhundert als terminus post quem non annehmen.
  2. Die koranischen Sprüche sind in arabischer Sprache, die einem noch frühen Stadium, noch nicht dem späteren Hocharabisch zugehört, abgefasst. In diese werdende Schriftsprache sind zahlreiche theologische, liturgische und sonstige Begriffe, zudem grammatische und weitere philologische Besonderheiten aus der damaligen lingua franca dieses Raums, aus dem Syro- Aramäischen, das auch die Sprache der Liturgie, der Bibelkenntnisse und Theologie dieser Schreiber war, eingeflossen. Es scheint empirisch nachweisbar, dass die arabischen Sprüche des Koran zunächst in syrischer Schrift, erst später, vielleicht erst seit ’Abd al-Malik, in de- fektiver arabischer Schrift aufgezeichnet wurden.
  3. Insgesamt will der Koran die richtige Schriftinterpretation bieten. Im Verlauf seiner Ent- wicklung scheint hierbei die interpretierende Schrifterklärung immer mehr an eigener Auto- rität und Selbständigkeit gewonnen zu haben, so dass die spätere kanonische Alleinstellung des Koran – nach Entwicklung zu einer eigenen Religion, dem Islam – zumindest Anhalts- punkte im Koran selbst finden konnte.
  4. Für alle weiteren philologischen, sprachwissenschaftlichen und religionsgeschichtlichen Eigentümlichkeiten des Koran verweise ich, weil ihre Darlegung viel Raum erfordern würde, auf unsere Publikationen und die Vorträge während dieses Symposions. Grundsätzlich lässt sich resümieren, dass der Koran bisher eine der am meisten unverstandenen Schriften ist, so dass seine Kanonisierung und Tabuisierung auch innerhalb des Islam oft nicht mehr als ein Slogan ohne kriteriologische Bedeutung ist.

(zuerst veröffentlicht in: imprimatur 47, Heft 3)