Rezension Tilman Nagel: Eine Sackgasse (Ohlig)

Eine Sackgasse

Karl-Heinz Ohlig

 

Zu: Tilman Nagel, Mohammed. Leben und Legende, R. Oldenbourg Verlag: München 2008

in: imprimatur 41, 2008, 319-322 (ISSN 0946 3178)

Das voluminöse und entsprechend teure Werk umfasst 1.052 Seiten, davon 737 Seiten fortlaufender Text. Es folgen: mehr als 90 Seiten Anmerkungen sowie ein Anhang „Einführung in den Gegenstand“ (36 Seiten), „Zusätze“, in denen Ausführungen der vorherigen Kapitel vertieft werden (106 Seiten), weiterhin genealogische Tafeln, Karten, Indices und Literaturverzeichnis.

Der Mohammedstoff ist in acht Kapitel gegliedert (I: Die Kaaba, II: Ein heidnischer Prophet, III: Die Vertreibung, IV: Der Glaube, V: Der Dschihad, VI: Die Hedschra, VII: Die Fitna, VIII: Der Islam); allerdings ist anzumerken, dass schon in Kapitel VI (ab S. 504 bis 737) die Zeit der vier „rechtgeleiteten Kalifen“ und das dann sich verändernde Mohammedbild zum Gegenstand werden.

Zunächst ist einmal die beeindruckende Detailarbeit und die Berücksichtigung aller islamischen Traditionsliteratur und des Koran zu loben. Nagel bietet eine Fülle von Material und geht auf so gut wie alles ein, was überliefert ist. Auf diesem Hintergrund entwirft er ein Mohammed-Leben, mit allen Verwandtschaftsverhältnissen bis zur fünften Generation vorher, mit allen Stammesbezügen, Geschehnissen und Konflikten. Er versucht, eine Entwicklung des Propheten von gnostischen, näherhin sabäischen Anfängen über das Aufgreifen „hochreligiöser Einflüsse“ (weil er vom „Eingottglauben“ spricht, meint er wohl „universalreligiöse“ Einflüsse) bis zur Etablierung der grundlegenden Riten des Islam. Er schildert die weiteren Entwicklungen und die „Umgestaltung der mohammedschen Botschaft in den Islam, in die Ritenfrömmigkeit“ um die Mitte des 7. Jahrhunderts (S. 869.871).

Nagel interpretiert seine Quellen durchaus „islam-kritisch“. Leider aber geht er nicht historisch-kritisch vor: Er stellt niemals die Frage nach der Zuverlässigkeit und damit auch Verwertbarkeit „der außerordentlich vielfältigen arabisch-islamischen Quellen“, und der Koran ist für ihn das „vielschichtige(n) Selbstzeugnis Mohammeds“ (S. 17). Schon im Inhaltsverzeichnis fehlt der Hinweis auf einen (bitter notwendigen) Abschnitt zur Charakterisierung der Quellenschriften und ihrer historischen Plausibilität. Im Vorwort verweist er auf den späteren Abschnitt „Einführung in den Gegenstand“ (S. 835-871); aber auch dort findet sich nichts zu diesen Fragen, obwohl er durchaus über in der Forschung vertretene Ansichten berichtet, dass der Koran für eine Biographie Mohammeds nichts hergebe und – weniger deutlich – dass die reichhaltige Traditionsliteratur aus dem 9. und 10. Jahrhundert stammt. Kein Wort darüber, ob es wissenschaftlich legitim sei, einen Ablauf von Geschehnissen aus so späten Zeugnissen zu rekonstruieren; er tut es einfach. Ebenso wenig gibt es Überlegungen, wie diese späte Literatur mit den zeitgenössischen Zeugnissen, die es durchaus auch gibt, in Beziehung gesetzt werden kann. Aus diesem Grund kann an dieser Stelle auf eine Auseinandersetzung mit einzelnen Thesen Nagels verzichtet werden; sie könnte nur die grundsätzliche Kritik an Beispielen konkretisieren.

Seit der Ausbildung der Sunna und des biographischen Materials zu Mohammed ergab sich für islamische Theologen die Möglichkeit, den dunklen Koran und die ebenso dunklen Anfänge des Islam gewissermaßen „von hinten her“, also mittels der zwei- bis dreihundert Jahre jüngeren Texte zu deuten; diese Methode haben sie, trotz kleiner Korrekturversuche, bis jetzt beibehalten. Deswegen bleibt ein Zugang zu den älteren Texten fast unmöglich, und Nagel wendet die gleiche Methode an.

Dabei kann sich ein alter Text nur dann in seiner Eigenart erschließen, wenn er nach der anderen Richtung hin befragt wird: Welche Quellen haben nachweislich im Koran ihren Niederschlag gefunden – literarische Quellen, Motive und Argumentationsmuster aus bestimmten religiösen Bewegungen oder damals verbreiteter Literatur? Diese sind beim Koran äußerst vielfältig, wie z.B. die Islamwissenschaftlerin Geneviève Gobillot (Lyon) nachweist: Der Koran benutzt – neben biblischen Stoffen, kanonischen und apokryphen – weitere Quellen: z.B. das Corpus Hermeticum, den griechischen Neuplatoniker Porphyrios, die lateinischen Theologen Tertullian und Laktanz, weiterhin die apokryphen Testamente des Abraham und Mose.1 Darüber hinaus spielen im Koran gnostische Motive, wie der Islamwissenschaftler Jan M.F. Van Reeth (Amsterdam) differenziert darlegt2, ein altes syrisches Christentum (Ohlig)3 oder syrisch-christliche Texte bis hin zur syrischen Liturgie gemäß den Forschungen von Christoph Luxenberg4 und Jan M.F. Van Reeth5 eine nachweisliche Rolle. Und dies sind nur erste Ergebnisse, weil bisher nie in diese Richtung geforscht wurde (und man muss berechtigte Zweifel haben, ob das vielgepriesene und -geförderte Projekt „Corpus Coranicum“ jemals derart differenzierte Ergebnisse bringen kann).

Geneviève Gobillot fragt: „Ist es möglich, ein Milieu abzugrenzen, innerhalb dessen die Gesamtheit dieser Referenzen in Umlauf gewesen sein könnte …? Aus der Antwort auf diese Frage wird vielleicht der Anfang einer Antwort auf die Frage nach dem Entstehungsgebiet, dem ‚Emergenzterrain‘, des Korantextes hervorgehen.“6 Zumindest eine – negative – Antwort kann schon jetzt gegeben werden: Dieses Emergenzterrain kann – angesichts der literarischen Bezüge – nicht die unbedeutende Wüstenstadt Mekka gewesen zu sein, ebenso wenig verrät sich hier der Informationsstand eines ­- laut muslimischer Tradition: analphabetischen – Kamel- oder Eselstreibers.

Für Tilman Nagel aber handelt es sich beim Koran um das Selbstzeugnis Mohammeds, wofür dieser leider keinerlei Anhaltspunkte bietet, wohl aber die Tradition seit dem 9. Jahrhundert. Letztere findet Nagel immer wieder im Koran bestätigt. Macht man sich die Mühe, die von ihm in großer Zahl angegebenen koranischen Belegstellen nachzuschlagen, findet man nur wenige, die, für sich betrachtet und nicht von späteren Texten her eisegisiert, irgendeine Evidenz für das erkennen lassen, was Nagel durch sie begründen will.

Dabei hätte er selbst nachdenklich werden müssen. Er schreibt ja, erst um die Mitte des 7. Jahrhunderts, also eine Generation nach dem Tod Mohammeds (in Wirklichkeit m.E. mindestens noch einmal rund 150 Jahre später), habe die Entstehung des Islam Mohammed „hinter einem Schleier von Überlieferungen verschwinden (lassen), die aus ihm den ‚islamischen‘ Propheten machten … Die ganze Überlieferung über Mohammed nimmt schließlich den Charakter einer Anhäufung von Wundererzählungen an …“ (S. 871). Hat das keine Folgen? Zwar ist er der Meinung, „daß der ‚islamische‘ Mohammed nicht als eine lebensvolle Figur vor uns steht, sondern als ein Amalgam von historisch Belegbarem mit den Interpretationen, die man ihm seit der Mitte des 7. Jahrhunderts gab“ (ebd.). Eine letzte Rückzugsposition? Warum aber erläutert Nagel seinen Lesern nicht, wie und mit welchen historisch plausiblen Gründen er aus diesem „Amalgam“ das „historisch Belegbare“ und damit die Ergebnisse seiner Mohammedbiographie herauslöst?

In Wirklichkeit reduziert er nur das Material, lässt z.B. Wundererzählungen weg, glaubt nicht an eine nächtliche Himmelfahrt Mohammeds und nimmt die restlichen Erzählungen – bis auf offensichtliche Absonderlichkeiten – als historisch belegt an.

Aus dieser, in der Islamwissenschaft leider verbreiteten Vorgehensweise ergibt sich, dass er die Leser in eine Sackgasse führt. Er erweckt den Eindruck, dass seine Lebens- und Entwicklungsbeschreibung Mohammeds den tatsächlichen Abläufen entspricht. Es scheint ihm nicht aufgefallen zu sein, dass z.B. die Sira eine nach dem Modell des alttestamentlichen Richterbuchs geschriebene Erzählsammlung mit vielen biblischen Bezügen ist, so Hans Jansen in seiner Mohammedbiographie, die Nagel nicht mehr berücksichtigt hat.7 Ebenso wenig hat er bemerkt, dass die Sira und die Annalen des at-Tabari bibelallegorische Werke nach dem Modell des Pentateuch sind, in die alle möglichen damals in Umlauf befindlichen Traditionen eingearbeitet worden sind.8 Es ist einigermaßen schwierig, diese Werke als Geschichtsbücher zu begreifen, auch nicht im Kern eines Amalgams; wenn doch einmal historische Notizen hier angenommen werden können, müsste dies im Einzelnen begründet werden.

Hier erweist sich die Schwäche eines methodischen Zugangs zu diesem Material einzig mit den Methoden der arabischen Philologie. Dem Rezensenten wirft Nagel vor: „Ohlig rühmt sich … seiner Unkenntnis des Arabischen“ (S. 838). Das Zitat, auf das er sich bezieht, sagt aber etwas anderes; es lautet, dass ich „weder Orientalist noch spezialisierter Islamforscher, sondern Theologe und Religionswissenschaftler“ bin, was ein „nicht unbeträchtliches Manko“ sei.9 Also kein Rühmen, sondern Korrektheit. Anscheinend unterstellt er mir (S. 839), in der Inschrift im Felsendom muhammad als „Prädikatsnomen“ zu verstehen, das niemals am Anfang eines Satzes stehen könne, wie man es schon „im arabischen Elementarunterricht“ lerne. Nun geht die Übersetzung und Analyse der Felsendominschrift auf Christoph Luxenberg, exzellenter Kenner des Arabischen und seiner Dialekte sowie des Syro-Aramäischen, zurück, und dieser hat keineswegs behauptet, es handele sich um ein Prädikatsnomen, sondern um ein Partizip Perfekt, das dem Sinn nach gerundivisch zu übersetzen sei („gelobt sei“). Weder die hebräische noch die syrische noch die arabische Sprache kennen ein Gerundivum, so dass je nach Kontext Partizipien im Perfekt gelegentlich gerundivisch zu verstehen sind; so übersetzt z.B. die Vulgata Psalm 118,26 wortgetreu, aber sinnverfremdend als „benedictus qui venit in nomine domini“, obwohl es im Lateinischen ein Gerundivum gibt. Die deutsche Übertragung, z.B. im Sanctus der Messe, heißt aber richtiger: „Gelobt sei, der da kommt …“. Und hätte Nagel noch einen Fortbildungskurs im Arabischen genommen, hätte er auch gelernt, dass solche gerundivisch zu verstehenden Partizipien durchaus am Anfang eines Satzes stehen können, wenn sie besonders betont sind (z.B. in der arabischen Version des „Gegrüßet seist du, Maria …“; auf Wunsch können weitere arabische, auch koranische Belege nachgereicht werden).

Der Blick von außen, von Religionswissenschaft und christlicher Theologiegeschichte, kann aber, wie schon damals ausgeführt, zeigen, dass mit arabischer Philologie allein weder der Koran noch die Anfänge des Islam zugänglich werden. Forschungen dieser Art können nur, interdisziplinär betrieben, zu verantwortbaren Ergebnissen führen. Weitere Philologien müssen hinzu kommen: vor allem die Berücksichtigung der aramäisch-syrischen Sprache, z.Zt. der Entstehung des Koran seit Jahrhunderten die lingua franca in großen Teilen des Vorderen Orients, wie Inschriften zeigen, auch auf der Arabischen Halbinsel. Den großen Einfluss des Syro-Aramäischen hat vor allem Christoph Luxenberg nachgewiesen, was Nagel aber nicht berücksichtigt. Auch die persische Sprache und Vorstellungswelt haben tiefe Spuren im Koran hinterlassen. Vor allem aber ist die Basis aller Untersuchungen die Anwendung der historisch-kritischen Methoden der Geschichtswissenschaften, wenn man historische Phänomene untersucht oder postuliert. Darüber hinaus spielen weitere Wissenschaften eine unverzichtbare Rolle: die Epigraphik und Numismatik, Religions- und Bibelwissenschaften und die historische Theologie. Letztere werden in der Islamwissenschaft seit den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts nicht mehr berücksichtigt, so dass die Einbettung des Koran und der koranischen Bewegung in die Religionsgeschichte des Vorderen Orients nicht wahrgenommen wird. So jedenfalls lässt sich kein Zugang zu „Mohammed“ und den Anfängen erschließen, sondern nur die „reichhaltige Literatur“ des 9. und 10. Jahrhunderts – ein wenig reduziert und spekulativ auf koranische Anklänge interpretiert – nacherzählen. Resultat ist aber immerhin eine recht bunte Geschichte voller seltsamer, oft auch interessanter Details, nur leider nicht zu einem historisch vertretbaren „Leben Mohammeds“.

Karl-Heinz Ohlig

1 Geneviève Gobillot, La démonstration de l’existence de Dieu comme élément du caractère sacré d’un texte. De l’hellénisme tardif au Coran, in: Al-Kitab. La sacralité du texte dans le monde de l’Islam, hg. von D. De Smet, G. de Callatay u. J.M.F. Van Reeth (Acta Orientalia Belgica, subsidia III), Brüssel 2004, 103-142; dies., Grundlinien der Theologie des Koran. Grundlagen und Orientierungen, in: Markus Groß / Karl-Heinz Ohlig (Hg.), Schlaglichter, Die beiden ersten islamischen Jahrhunderte, Hans-Schiler-Verlag: Berlin 2008, 320-369.

2 Jan M.F. Van Reeth, L’Évangile du Prophète, in: Al-Kitab, a.a.O. 155-173; ders., Die Vereinigung des Propheten mit seinem Gott, in: M. Groß / K.-H. Ohlig (Hg), Schlaglichter, a.a.O. 370-383.

3 Karl-Heinz Ohlig, Das syrische und arabische Christentum im Koran, in: Karl-Heinz Ohlig / Gerd-R. Puin (Hg.), Die dunklen Anfänge. Neue Forschungen zur Entstehung und frühen Geschichte des Islam, Berlin 2005, 366-404.

4 Christoph Luxenberg, Die syro-aramäische Lesart des Koran. Ein Beitrag zur Entschlüsselung der Koransprache, Berlin 2000; ders., Neudeutung der arabischen Inschrift im Felsendom zu Jerusalem, in: K.-H. Ohlig / G.-R. Puin (Hg.), Die dunklen Anfänge, a.a.O. 124-147; ders., Relikte syro-aramäischer Buchstaben in frühen Korankodices, in: Karl-Heinz Ohlig (Hg.), Der frühe Islam. Eine historisch-kritische Rekonstruktion anhand zeitgenössischer Quellen, Berlin 2007, 377-414; ders., Die syrische Liturgie und die „geheimnisvollen Buchstaben im Koran, in: M. Groß / K.-H. Ohlig (hg), Schlaglichter, a.a.O. 411-456.

5 Jan M.F. Van Reeth, Eucharistie im Koran, in: M. Groß / K.-H. Ohlig (Hg.), Schlaglichter, a.a.O. 457-460.

6 G. Gobillot, Grundlinien der Theologie des Koran …, in: M. Groß / K.-H. Ohlig (Hg.), Schlaglichter. , a.a.O. 326.

7 Hans Jansen, Mohammed. Eine Biographie, Verlag C.H. Beck: München 2008.

8 Vgl. hierzu Volker Popp, Biblische Strukturen der islamischen Geschichtsdarstellung, in: M. Groß / K.-H. Ohlig (Hg.), Schlaglichter, a.a.O. 35-92.

9 Karl-Heinz Ohlig, Weltreligion Islam. Eine Einführung, Mainz, Luzern 2000, 11.