Luxenberg: Die geheimnisvollen Buchstaben im Koran – 1. Teil

Die syrische Liturgie und

die „geheimnisvollen Buchstaben“ im Koran

Eine liturgievergleichende Studie

Christoph Luxenberg

1. Einführung

 

Die Bedeutung der vor 29 Koransuren stehenden Stenogramme hat seit Anbe­ginn der Koranexegese die Koranforscher in Ost und West be­schäftigt. So geht ?abar? (gest. 923)[1], der in der islamischen Tradition als Verfasser des wichtigsten und umfangreichsten Koran­kommentars gilt, an­lässlich der Erklärung des ersten Stenogramms ??? / alm zu Beginn der Sure II al-Baqara (die Kuh), auf dieses Änigma ein. Auf seine einleitende stereo­type Bemer­kung „Die Meinungen der Korankommentatoren zu dem Wort Gottes  ??? / alm sind vielfältig“ lässt er vierzehn meist auf Überlie­ferer­ket­ten gestützte Deutungen folgen, die sich wie folgt zusammenfas­sen lassen:

1.   Diese Buchstaben bezeichnen einen unter anderen Namen des Koran;

2.            es sind „eröffnende“ Buchstaben (????? / faw?ti?), mit denen Gott                     den Koran „eröffnet, einleitet“ (daher in der islamischen Tradition                      u.a. die Bezeichnung ????? ????? / die eröffnenden [Buchstaben] der                   Su­ren);

3.   sie bezeichnen den Namen der Sure;

4.   sie bezeichnen den Namen des erhabenen Gottes;

5.   es sind Schwurformeln, mit denen Gott schwört und die zu seinen Namen gehören;

6.   es sind einzelne Buchstaben aus Nomina und Verben, wobei jeder     Buchstabe eine andere Bedeutung hat als der andere;

7.   es sind bestimmte Buchstaben des Alphabets (ohne nähere Erklärung);

8.   es sind Buchstaben, von denen jeder einzelne unterschiedliche Bedeu-tungen haben kann;

9.            es sind Buchstaben, die einen Satz beinhalten;

10. jedes Buch hat ein Geheimnis, und das Geheimnis des Koran sind seine   Anfangsbuchstaben (daher die geheimnisvollen Buchstaben);

11. von den arabischen Philologen vertreten einige die Meinung, es seien     Buchstaben des Alphabets, die stellvertretend für die restlichen achtund-           zwanzig Buchstaben (des arabischen Alphabets) stehen;

12. mit diesen Buchstaben wurden die Suren eingeleitet, um damit das Ge-   hör der mušrik?n (der Beigeseller = die dem einen Gott andere Götter      beigesellen) zu öffnen (= um deren Aufmerksamkeit auf sich zu lenken);

13. es sind Buchstaben, mit denen Gott seine Worte einleitet.

14. Nach der Bedeutung dieser Buchstaben befragt, soll der Prophet diese als Zahlenbuchstaben (nach dem syro-aramäischen Zahlensystem) ge-deutet haben. So stünden die Buchstaben ??? / alm für die Zahl 71 (a = 1,  l = 30, m = 40 = 71). Interessant ist dies­bezüglich die Frage des Prophe­ten an seine Zuhörer, ob sie denn nicht wüssten, dass die Wirkungs­zeit eines Propheten und die Frist seiner Ge­meinschaft 71 Jahre betrage. Die­ser Zahlensymbolik ließ der Prophet aufsteigende Zahlenwerte fol­gen mit den nachfolgen­den Buchstaben­gruppen: ???? / alm? (a = 1, l = 30, m = 40, ? = 90) = 161 Jahre; ??? / alr (a = 1, l = 30,      r = 200) = 231 Jahre; ???? / almr (a = 1, l = 30, m = 40, r = 200) = 271 Jahre. Zwar stimmt die Summe der jeweiligen Kürzel, die progressive          Rei­henfolge der Buchsta-ben ent­spricht jedoch nicht der des degressiven aramäischen Zahlensys-tems, dem­zu­folge der größere Buchstabenwert an erster Stelle steht. Dennoch ist der Hinweis auf mögliche Zahlen bei bestimmten Buchsta-ben nicht ohne Inte­resse, wie sich bei der Deutung einzelner Buchstaben zeigen wird. Auf diese ursprünglich aramäischen     Buchsta­benzahlen, die die Araber übernom­men haben, geht die im späteren Islam (möglicher-weise in Anleh­nung an jüdische Tradition) weiterent­wickelte Zahlen-mystik im Ko­ran zurück.

Auf die unterschiedlichen Deutungsversuche der Korankommenta­toren geht ?abar? im Einzelnen ein und ist bemüht, jeder Deutung eine Be­rechti­gung zuzuer­kennen. Er selbst vertritt abschließend die Ansicht, dass diese Buchstaben keine zusammenhängenden Wörter bilden, son­dern als ge­trennte Buchstaben (daher u.a. die Bezeichnung ???? ????? / ?ur?f mu­qa??a?a) anzusehen sind, die unterschiedliche Bedeutungen haben können. Damit rechtfertigt er die aufgeführten Meinungen der Korankom­mentato­ren, ohne sich jedoch auf bestimmte Deutungen fest­zulegen. Mit dieser vorsich­tigen Haltung hat ?abar? letztlich nicht un­recht, da diese Steno­gramme, wie wir sehen werden, tatsächlich Ver­schiedenes bedeuten kön­nen. Für die spätere islamische Tradition blieb somit der Raum für weitere Deutungsversuche offen, wovon eine reich­haltige Literatur bis in unsere Tage zeugt. Diese soll uns hier nicht beschäftigen, da sie auf Spekulationen beruht, die uns nicht weiter brin­gen würden. Dafür ist es angebracht, auf die abendländische Koran­forschung kurz einzugehen, die sich mit dem Thema der geheim­nis­vollen Buchstaben befasst hat.

 

 

2. Zum Stand der westlichen Koranforschung

 

Im Sammelband Der Koran[2] gibt R. Paret im Abschnitt VI (S. 330-385) die wichtigsten Beiträge der abendländischen Forschung zum Thema „Geheim-nisvolle Buchstaben“ wieder, „da es sich um ein bis jetzt nur teilweise ge-klärtes Problem handelt“, um demjenigen, der „weiter daran herumrätseln will“,  eine zeitaufwendige Suche zu ersparen (S. XIII).

Zu VI: Die geheimnisvollen Buchstaben (S. XXI f.) führt er weiter  aus:

„In Abschnitt VI sollten, wie schon oben bemerkt wurde, die neuen Publikationen über die rätselhaften Buchstaben, die einigen Suren voran­gestellt und wohl als Siglen zu deuten sind, möglichst vollstän­dig zusammengestellt werden. Der Beitrag von A. Jeffery in The Moslem World, 14, 1924 (S. 247-260) wurde allerdings ausgelassen, da er nur referiert, ohne Eigenes zu bringen. Ausgelassen wurden auch (aus Platzmangel und wegen des weit zurückliegenden Datums) die an sich wichtigen Beiträge von Loth (Zeitschrift der Morgen-ländi­schen Gesell­schaft, 35, 1881, S. 603-610) und Hartwig Hirsch-feld (New Researches into the Composition and Exegesis of the Qo-ran, London 1902, S. 141-143). Zusätzlich sei eine weitere Abhand-lung aus neuester Zeit angeführt: James A. Bellamy, The Mysterious Le­t­ters of the Koran: Old Abbreviations of the Basmalah (Journal of the American Oriental Soci­ety, 93, 1973, S. 267-285).[3] Auch Bellamy hat keine überzeugende Lösung des Rätsels anzubieten. Grundlegend bleiben nach meiner An­sicht immer noch die Ergebnisse der Unter-su­chungen von Hans Bauer (1921). Demnach scheinen die Siglen sehr alt zu sein und auf Samm­lungen von Suren hinzuweisen, die bei der Herstellung der ?u?m?nischen Koranausgabe schon vorlagen und ebenso wie diese nach dem Prinzip der abnehmenden Länge ange-ordnet waren. Auch über die Bedeutung der einzelnen Buchstaben und Buchstaben­kombinationen hat H. Bauer scharfsinnige Überle-gungen angestellt. Eine restlose Klärung dieses schwierigen Fragen-komplexes ist ihm aller­dings noch nicht geglückt.“

Mit dieser Feststellung hat Paret richtig gesehen, dass auch mit scharf­sinni­gen Überlegungen dem Rätsel der geheimnisvollen Buch­staben nicht beizu-kom­men war. Ein kurzer Überblick über die einzelnen Thesen der von Pa­ret genannten Forscher wird uns zeigen, warum ihre Bemühungen zu keinem schlüssigen Ergebnis führen konnten.

a) Zur These von Hans Bauer: Über die Anordnung der Suren und über die geheimnisvollen Buchstaben im Qoran [4] (1921): H. Bauers Ausgangs-punkt ist die texthistorisch irrige Annah­me, dass „in 4 (oder 5) Fällen“ die Buchstaben ys (Sure 36), ? (Sure 38), q (Sure 50), ?h (Sure 20) und (even-tuell) n (Sure 68) „die sonst üblichen Über­schriften vertre­ten“. Dabei übersieht H. Bauer, dass die frühe­sten uns bekannten Koran­handschriften gar keine Überschriften auf­weisen. Diese wurden viel­mehr von späteren Koranbearbeitern nach meist willkürli­chen Kriterien hinzugefügt. Im Zuge dieser Bear­bei­tung wurden auch die vorgenannten Buchstaben, von denen man an­nehmen kann, dass sie wohl von Anfang an zu Beginn der jewei­ligen Suren standen, zu Über­schriften gemacht. Nicht auszuschließen ist aller-dings die Erwä­gung, dass diese Siglen zu anderen Texten gehört haben könnten. Auf diese Problema­tik geht auch H. Bauer abschlie­ßend kurz ein und kommt zu dem Schluss (S. 335): „Zur Klärung dieser Fragen sind weitere Spezial­untersu­chungen erforderlich.“ Verfehlt ist jedoch seine Annah­me, dass „die Auflösung der Abkür­zungen unmittelbar aus der be-tref­fenden Sure zu entnehmen“ sei oder auch, dass „gewisse in­nere oder äußere Beziehungen zwischen diesen Suren“ und den ihnen vorgesetz­ten Buchstaben zu finden seien (S. 333).

b) Zur These von Eduard Goossens: Ursprung und Bedeutung der korani­schen Siglen[5] (1923): In dieser umfangreicheren, als Dissertation an-gelegten Abhandlung er­kennt zwar E. Goossens, dass diese Buchstaben Ab-kürzungen dar­stellen, die teilweise technischer Art gewesen seien und ein-mal all­gemein ver­ständlich waren, ihre eigentliche Bedeutung vermag er je­doch nicht annähernd zu bestimmen. Statt dessen schließt er sich der all-gemeinen Auffassung an, dass auch diese „Abkürzungen bei den 29 Suren parallel zu den vorhande­nen Überschriften der Suren zu setzen“ seien. Die Vermutung sei nicht unbe­rechtigt, „daß die rätsel­haften Buchstaben und Buchstabengruppen nichts anderes darstellen als alte Überschriften“ (S. 340 f.). Einleitend gibt E. Goossens folgende Tabelle des überlieferten Tat­be­stands der Siglen nach der von Schwally[6] aufgezeichneten Zusammen­stel­lung wieder (S. 336):

 

 

Kürzel

Suren

 

?lr

10, 11, 12, 14, 15

 

?lm

2, 3, 29, 30, 31, 32

 

?lmr

13

 

?lm?

7

 

?m

40, 41, 43, 44, 45, 46

 

?m ?sq

42

 

?

38

 

?s

27

 

?sm

26, 28

 

?h

20

 

q

50

 

khy ??

19

 

n

68

 

ys

36

 

Unter III (S. 344) unternimmt E. Goossens den Versuch, die ein­zelnen Zei­chen auszulegen. Trotz der verwendeten Mühe beruhen jedoch seine Deu-tungs­versuche auf Mutmaßungen, die zu keinem plausiblen Ergebnis füh-ren, weil er die eigentliche Funktion dieser Siglen nicht erkannt hat.

c) Zu Morris S. Seale: The Mysterious Letters in the Qur??n [7] (1957/59): Interessant ist bei diesem Beitrag der Hinweis, den Morris S. Seale auf „one example of memoria technica from the Talmud“ gibt (Y ?ALKGM). Über-legenswert wäre auch der Vorschlag, den er zur Entschlüs­selung der Buch-stabengruppe KHY?? zu Beginn der Mariensure (Sure 19) macht. Doch bei diesem wie bei den übrigen Vorschlägen unter­scheidet er sich nicht vom verfehlten Ansatz Bauers und Goossens, so­fern er wie diese in den einzelnen Buchstaben Kürzel von Namen oder Stichwör­tern vermutet, die er in der jeweiligen Sure zu finden sucht.

d) Zu Alan Jones: The mystical letters of the Qur??n [8] (1962): Für Alan Jones haben die koranischen Siglen eine rein mystische Bedeu­tung.  Seine abschließende Bemerkung lautet: „My own feeling is that the letters are intentionally mysterious and have no specific mea­ning.“ Eine frühere Mei-nung Nöldekes, die Nöldeke selbst später auf­gab, macht er sich zu eigen und zitiert ihn wie folgt:

„The prophet him­self can hardly have attached any particular mea­n­ing to these symbols; they served their purpose if they conveyed an im­pression of solemnity and enigmatical obscurity“.[9]

e) In seinem oben genannten Nachtrag „Again the Mysterious Let­ters“ (s. oben Anm. 3) geht James A. Bellamy schließlich auf eine frü­here Publika­tion zu diesem Thema ein und bekräftigt seine Meinung darü­ber, dass es sich bei diesen ungeklärten Buchstaben um Verschrei­bun­gen einer ur-sprüngli­chen basmalah (Kurzformel für bi-smi ll?h ar-ra?m?n ar-ra??m / im Namen des gnädigen und barmherzigen Gottes) handelt. Die gewagten Emendationen, die er dabei vorschlägt, um seine These zu recht­fertigen, führt er auf Kopistenver­schreibungen zurück. Zusam­menfas­send meint er abschließend:

„I am more than ever convinced that the faw?ti? are indeed old ab­bre­viations of the basmalah that suffered corruption at the hands of later copyists. And after all, what can more properly stand before a surah than the basmalah?“

Selbst wenn Bellamy teilweise in die richtige Richtung gedacht hat, so kön­nen die in frühen Koranhandschriften mehrfach überlieferten Ab­breviatu­ren doch nicht allesamt auf jüngere Verschreibungen zurück­geführt wer­den.

Alle aufgeführten Versuche der westlichen Koranforschung, dem Rätsel der geheimnisvollen Buchstaben im Koran beizukommen, unter­scheiden sich prinzipiell kaum von denen der arabischen Korankom­men­tatoren. Sie alle leiden an einem Defizit von kulturhistorischer Relevanz: den Koran­text in seinem religionsgeschichtlichen Rahmen zu betrachten. Dass der Koran in einem syro-aramäischen Umfeld entstan­den ist, ist inzwischen ein weithin anerkanntes Faktum. Die nachfolgen­den Ausführungen werden diese kulturhistorischen Zusammenhänge konsequent offenlegen und plau-si­bel zu machen suchen, warum die sogenannten geheimnisvollen Buchsta­ben des Koran ursprünglich mit einer der christlich-syri­schen Litur­gie nahestehenden Tradition zu tun hatten.

 

 

3. Die Rahmenbegriffe des Koran

 

Es scheint zunächst nicht unwesentlich zu sein, daran zu erinnern, dass die drei Rahmenbegriffe des Koran (Qur‘?n – S?ra – ?ya) allesamt dem Syro-Aramäi­schen entlehnt sind. Auf deren Etymologie wird im Fol­genden kurz einge­gangen.

3.1 ???? / Qur‘?n < Nyrq / Qery?n

Die Erkenntnis, dass ???? / Qur‘?n, als Name des heiligen Buches des Islam, eine Übernahme aus dem syro-aramäischen kirchlichen Ter­minus  _Nyrq / Qery?n (Lektionar / Lesung) ist, hat sich seit Theodor Nöldeke (1836-1930) in der westlichen Koran­forschung durchgesetzt.[10] Darauf ist der Autor in seiner Studie Die syro-aramäische Lesart des Koran[11] näher eingegangen. Dort wurde bereits darauf aufmerksam ge­macht, dass das Lehnwort Qur‘?n / Koran (eigentlich aber Qery?n) uns den Schlüssel zum Ver­ständnis der Koransprache liefert.

Hinzu kommen zwei weitere Be­griffe, die den Korantext betreffen, von de­nen der eine, ???? /s?ra (Sure = Kapitel), die nächst größere Text­ein­heit, der andere, ??? /?ya (Zeichen), das kleinste Schriftelement (Schrift­zei­chen) bezeichnen.

3.2 ???? /s?ra < atrwx / ??rt?

Die heute mit S?ra geläufige Überschrift der einzelnen Kapitel des Koran ist an sich eine späte Einfügung, da sie in den frühesten Koran­hand­schriften fehlt. Aus den zehn Koranstellen (Sure 2: 23; 9: 64, 86, 124, 127; 10: 38; 11: 13; 24: 1; 47: 20 [2x]), in denen dieses Wort (9x im Singular, 1x im Plural) vorkommt, hat man geschlossen, dass der Koran damit die einzelnen (zu­nächst nicht näher definierten) Textab­schnitte meint. Nach dem einleiten­den Vers zu Sure 24 war die­ses Ver­ständnis gerechtfertigt. Daher die Über-tra­gung dieses Be­griffes in der späteren islamischen Tradition auf sämtli­che Korankapitel in Ver­bin­dung mit den aus dem jeweiligen Text nachträglich ermittelten Su­ren­namen.

3.2.1 Zur Etymologie von ???? /s?ra

Bevor der Begriff S?ra (Sure) zum Te­r­minus technicus der einzel­nen korani­schen Text­einheiten wurde, haben namhafte arabische Philologen und west­liche Koranforscher dessen Etymologie zu klären versucht. Während ?abar? dieses Wort als allgemein bekannt voraussetzt, zitiert der Lis?n (IV, 386a f.) den Lexikographen al-?awhar? (gest. 1005), der dessen Grundbedeutung mit ?? ????? ?? ?????? „jegliches Bauabteil“ erklärt; auf den Koran übertragen, be­deute ???? /s?ra daher „Abteilung, Ab­schnitt„, weil sie die aufeinander folgenden Textabschnitte des Koran  voneinander trenne. Dieser Erklärung gibt der Lis?n gegenüber den volks­etymologischen Erklä­rungsversuchen anderer Philologen den Vor­zug.

Die wesentlichen Ergebnisse der abendländischen Koranforschung zur Ety-molo­gie von s?ra gibt Paret in seinem Korankommentar zu Sure 24:1 (S. 358) wie folgt wieder:

„Die Etymologie des Wortes s?ra („Sure“) ist umstritten. Nöldeke hält eine Ableitung aus hebräisch š?r? „Reihe“ für wahrscheinlich, Bell eine Ableitung aus syrisch sur?? (??rt?, s?rt?) „Schrift“, „Schrift­text“. Siehe Nöldeke, Neue Beiträge, S. 26; Gesch. des Qor. I, S. 30f.; Ho­rovitz, Proper Names, S. 211f.; Bell, Origin of Islam, S. 52, Anmer­kung und Introduction, S. 51f., 131; Jeffery, Foreign Vo­cabu­lary, S. 180-182.“

Unter den vorgenannten Erklärungen kam nur Bell der Wahrheit am näch­sten mit der Ver­mutung, dass s?ra eine Entlehnung aus syrisch atrwx / ??rt? sein könnte, nicht aus afrws / sur??, dem auch Jeffery (S. 182) mut­maßend den Vorzug gibt:

„The most probable solution is that is from the Syr. afrws a wri­ting (n. 2: Bell, Origin, 52; the suggestion of derivation from atrbs preach­ing made by Margoliouth, ERE, x, 539, is not so near. Cf. Horo­vitz, JPN, 212), a word which occurs in a sense very like our Eng­lish lines (PSm, 2738), and thus is closely parallel to Mu?ammad’s use of ???? and ???? , both of which are likewise of Syriac origin.“

Man könnte zwar die beiden syrischen Schreibungen afrws /sur?? und atrwx / ??rt? vordergründig für bloße emphatische Varianten hal­ten, doch in Wirklichkeit unterscheiden sie sich nicht nur formal, son­dern auch der jeweiligen Verbalwur­zel nach. Die maskuline Form afrws / sur?? geht auf die Wurzel  frs / sra? zurück, die sowohl der arabischen Metathesis ??? / sa?ara (eine Linie ziehen, schreiben, auf­schreiben) als auch der syrischen Vari­ante xrt / tra? (gerade sein, gera­de machen)[12] entspricht. Die Feminin­form atrwx / ??rt? ist hingegen von der Verbal­wurzel rwx /?war (Variante ryx /?yar > rx /??r) (bil­den, abbilden, zeich­nen, aufzeichnen) ( > arabisch ???? /?awwar [bil­den, ab­bilden, zeichnen], ???? /?ayyar [machen, tun], ??? /??r [werden]) abge­lei­tet und hat daher die Be­deutung von „Auf­zeichnung = Niederschrift“. Diese Bedeutung ist im Syro-Aramäischen im wohl­be­kann­ten Ausdruck  btk trwx /??ra? k??b? (Niederschrift des Buches = Text der Bibel)[13] reichlich belegt.

Im Koran begegnet die Wurzel ?wr 1x in der heute noch geläufigen Nomi-nal­form ???? /??ra (Bild, Gestalt) (Sure 82:8), 4x im zweiten Verbal­stamm in der Bedeutung „bilden = schaffen“ (Sure 3: 6; 7: 11; 40: 64; 64: 3); in letzteren zwei Stellen ist die Wiederholung des syro-ara­mäischen Infini­tivs (bzw. Verbalsubstantivs arwwx / ?uww?r?) auf Grund der koranischen Defektivschreibung (????? /?wr-km) und der dem arabischen fremden Infini­tivform für einen arabischen Plural gehalten worden. So lautet die kanonische Lesung an beiden Stellen: ?????? ????? ????? (wa-?awwara-kum fa-a?sana ?uwara-kum) „Er hat euch gebildet und eure Bilder schön gemacht“– statt ?uww?ra-kum (nach der syro-aramäischen Infinitivbildung des Inten­siv­stammes Pa??el). Nach dem arabischen Verbalparadigma müsste der Infi­nitiv lauten: ?????? ????? ??????? (wa-?awwara-kum fa a?sana ta-?w?ra-kum) „Er hat euch gebildet und euer Bilden [d.h. die Art und Weise wie er euch gebildet hat] schön gemacht“). Diese syro-aramäische Infi­nitiv­bildung ist bei einigen Substantiven im Arabischen erhalten, ohne dass die arabischen Philologen dies morphologisch erkannt hätten. Dazu gehört das gängige Wort ???? / kutt?b (Schule, insbesondere Koranschu­le), dessen Form man für einen arabischen Plural von ???? /k?tib (Schreiber, Autor) halten würde, das aber das syro-aramäische Verbal­nomen von katteb (= ara­bisch kattaba) getreu bewahrt hat, dem arabisch die Form ????? / ta-kt?b (= das Schreiben lassen) entspricht. Aramäisch verstanden, bezeichnet also kut­t?b eine Schule, in der nicht nur das Lesen, sondern insbesondere das Schrei­ben gelehrt wird.

Eine ähnliche Form bietet der Koran in Sure 108:1, in deren Über­schrift?????? die Koranleser eine aramäische Nominalform vom Intensiv­stamm rtk / kattar (harren, fortbestehen) nicht erkennen konnten, wes­halb sie auch aus dem medialen ? /u, das nach aramäischer Orthographie als ma­ter lectionis für kurzes u in geschlossener Silbe dienen kann (artwk / kut­t?­r?) als Diphthong aw (kaw?ar) verlesen haben. Hätte die morpho­logisch gleiche Form???? /kutt?b (defektiv geschrieben) ein ? / u als mater lectionis für kurzes u (????) gehabt, hätten die arabischen Leser diese ihnen fremde Schreibung nicht anders als kawtab (statt kutt?b) lesen können (so auch „kaw?ar“ statt „kutt?r“).[14]

 

3.2.2 EXKURS

Um nun auf den koranischen Gebrauch der syro-aramäischen Wurzel ?wr / ?yr zurückzukom­men, soll dem Wissbegierigen die außergewöhn­liche Fehl-le­sung und Fehlinterpretation einer zu dieser Wurzel gehöri­gen syro-ara-mäischen Form im Koran nicht vorenthalten bleiben.

Thematisch handelt es sich um die berühmten „satanischen Verse„, in de­-nen die drei Göttinnen al-L?t, al-?Uzz? und Man?t (eigentlich Man­wa) (Sure 53: 19-20) genannt werden. In der kanonischen Koran­fassung werden die Verehrer dieser Gottheiten anschließend gefragt (Vers 21), ob es sich denn gezieme, dass sie sich selbst männli­che Kin­der wünsch­ten, Gott aber weibliche Wesen zuwiesen? Daraus folgert der Koran (Vers 22):

??? ??? ???? ????

(Kanonische Lesung):      tilka i?an qismatun ??z?

Paret übersetzt (S. 53):     „Das wäre eine ungerechte Verteilung“.

Dabei stellt Paret das unterstrichene Adjektiv nicht einmal in Frage, was er sonst bei zweifelhaften Aus­drücken regelmäßig tut. Eine dunkle Stelle vermag er hier (wie die anderen Koranforscher) nicht zu erkennen. Denn auch Blachère und Bell schöp­fen bei diesem ungewöhnlichen Wort kei­nerlei Verdacht und übersetzen ebenso bedenkenlos:

(Blachère, 561):                                 „Cela, alors, serait un partage inique !“

(Bell II, 541):                                                      „In that case it is a division unfair.“

Damit fol­gen die namhaften westlichen Koranübersetzer kritiklos der philolo­gisch unhaltbaren Erklärungen der arabischen Kommentatoren und Lexikogra­phen. Es wäre müßig, auf die im Arabischen nicht existie­rende Wurzel ?a?aza / ?ayaza einzugehen, so redlich sich auch ?abar? (XXVII, 60 f.) um die Erklärung dieser Fehllesung bemüht und sich dabei auf die klas­sischen arabischen Auto­ritäten beruft. Ein unwiderleg­bares Argument ist dann für ihn ein Vers aus der (nachkoranischen) arabischen Poesie, in dem das verlesene koranische Wort in der erdach­ten Partizi­pi­alform ????? / ma???z (ohne nähere Erklärung) vorkommt, und den sich ?abar? aus dritter Hand angeblich von al-A?faš[15] vorsagen lässt.

Die unterschiedlichen Lesarten, die ?abar? von manchen „Arabern“ vernom­men haben will, sind ebenso willkürlich wie die ersonnenen Bedeu-tun­gen. Schon was die Vokalisierung dieses sonderbaren Wortes an­geht, sind sich die vermeintlichen „Araber“ uneinig. So sollen die einen das koranische Wort ?ayz?, andere ?a?z?, und wiederum andere ?u?z? gespro­chen haben. Da aber die Ko­ranleser diese „dialektalen“ Varianten nicht ge­kannt hätten, spricht sich ?abar? für die traditionelle Lesung ??z? aus, die er morphologisch für eine sekundäre Form des femininen Adjektivs ??z? hält. Widerlegt wird diese Erklärung aller­dings vom berühmten Philologen al-Farr?‘ (aus K?f?, gest. 822), den ?abar? zu Wort kommen lässt. Nach ihm könne ein feminines Adjektiv ?ayz? oder ??z? lauten. Die Aussprache ??z? sei nur beim Nomen mög­lich. Dabei hat al-Farr?‘ nicht erkannt, dass diese Form dem syro-ara­mäischen Partizip Passiv nach dem Schema p??l / p??l? entspricht.

Zur Bedeutung dieses formal umstrittenen Wortes führt ?abar? zum korani­schen Ausdruck „qismatun ??z?“ fol­gende vier durch Traditions­ket­ten gestütz­te Bedeu­tungen an: a) eine krumme Zuteilung; b) eine ungerechte Zu­tei­lung; c) eine mangelhafte Zuteilung; d) eine wider­sprüchliche Zutei­lung. Zu letzterer Deutung zitiert ?abar? Ibn Wahb, der Ibn Zaid erklä­ren lässt, a???z? bedeute im „Sprachgebrauch der Araber“ der Wider­spruch. ?abar? lässt aber einleitend alle vorzitierten Deutungen der „Araber“ gelten.

In der abendländischen Koranforschung scheint man sich indessen auf die Bedeutung „ungerechte Teilung“ (englisch „unfair division“, französisch „partage inique„) geeinigt zu haben. Ungeachtet der Tatsa­che, dass dieses von Anfang an falsch gelesene und falsch verstan­dene Hapax legomenon im Koran sich im „Sprachgebrauch der Araber“ nie durchgesetzt hat, glaubte Hans Wehr allen Ernstes, dass dieser für klassisch gehaltene Ausdruck in seinem „Arabischen Wörterbuch für die Schrift­spra­che der Gegenwart“ nicht fehlen dürfte, zumal in der bisheri­gen Koranforschung keiner dessen Echt­heit je angezweifelt hat. Und so bringt er unter der vermuteten (aber nicht genannten) Wurzel ?yz die Redewendung „???? ???? qisma ??z? ungerechte Teilung“, als wäre diese geradezu ein geflügeltes Wort geworden. Dabei ist jeder Araber befremdet, wenn er das absolut unarabisch klingende Wort ??z? hört, oder es löst bei ihm gar ein Kopfschütteln und ein verhalte­nes Lächeln aus wegen der Assoziation, die die­ses Wort in Anknüpfung an ein ähn­liches, im Volksmund derb klin­gen­des Wort bei ihm erweckt.

Diese wie zahlreiche andere Fehllesungen im Koran führen die traditio­nelle Legende von einer „mündlichen Überlieferung“ des korani­schen Tex­tes (die für manche Arabisten und Islamwissenschaftler als Dogma gilt), ad absur­dum. Auch die in der islamischen Tradition dokumentierte Lesarten-Li­teratur ist kein Argument für eine mündliche Überlieferung, wie man­cher Ko­ranforscher meinen möchte, sie spricht vielmehr für eine redak­tio­nel­le Vielfalt.

 

3.2.3 Die Entschlüsselung des änigmatischen ???? / ??z?

Die syro-aramäische Lesart des Koran wird an diesem Beispiel ihre Effizienz konsequent unter Beweis stellen. Hierzu brauchen wir uns bei ???? nur die zwei Oberpunkte wegzudenken, die von inkompetenter Hand nachträglich einge­fügt wurden und zu dieser Fehllesung geführt haben. So be­reinigt, er­gibt der Schriftzug die Schreibung ???? (unter Beibehaltung der korani­schen Vokalisation): ??r?.

Für einen Araber mag die Lesung ??r? nicht weniger fremd klingen als ??z?. Zu Recht. Denn er wird auf den ersten Blick die ihm geläufige Ver­­balwurzel ?wr (bilden, zeichnen) deswegen nicht erkennen, weil ihm die Ortho­graphie von ???? völlig fremd erscheint.

Tatsächlich lässt sich diese Orthographie morphologisch nur vom syro-aramäischen Verbalparadigma erklären. Danach bilden nämlich die Verba mediae w /y (wie auch die übri­gen dreiradikaligen Verben) das Partizip Pas­siv vom ersten Stamm nach dem Schema p??l.[16] Die kora­ni­sche Schreibung lässt demnach auf die syro-aramäische Wurzel rwx / ?war > rx /??r (bil­den, zeich­nen) schließen, der arabisch ??? /?wr entspricht. Da aber im Arabi­schen der erste Verbalstamm nur noch in der kontrahierten Sekundärform ??? / ??ra (Grundbedeu­tung werden) gebräuchlich ist, konnte auf die Wur­zel ??? / ?wr (Grundbedeutung bil­den) nicht geschlossen wer­den, zumal diese nur noch im zweiten und fünften arabischen Verbal­stamm (?awwara / ta-?awwara) (bilden, zeich­nen / sich vorstellen, sich einbilden) gebräuchlich ist.

Zur Entschlüsselung der ungewöhnlichen arabischen Schreibung von ???? / ??r? erweist sich daher die syro-aramäische Grammatik als unent­behrlicher Schlüssel.[17] So gibt uns der Thesaurus (II, 3384) unter der sy­ro-aramäischen Partizipialform aryx / ??r? (im Status emphaticus) die arabi­sche Entsprechung mit ????? / mu-?awwar wieder. Semantisch gibt uns Mann? (632b) zu rx (??r) die hier zutreffende arabische Bedeutung unter (4) wieder: ????? (ta-?awwara), ????? (ta-?ayyala) „sich vorstellen, sich einbil­den“.

Fazit: Am Beispiel des falsch gelesenen und falsch gedeuteten Wor­tes ???? / ??z? erweist sich das Syro-Aramäische sowohl morpholo­gisch als auch semantisch als unabdingbare Voraussetzung zur Klärung eines bisher nicht als „dunkel“ erkannten Ausdrucks im Koran. Danach ist der in Sure 53: 22 bisher so verlesene und missdeutete Schriftzug:

??? ??? ???? ????

(kanonische Lesung):                      tilka i?an qismatun ??z?

(bisheriges Verständnis):                „Das wäre eine ungerechte Verteilung“,

nunmehr so zu lesen:                        ??? ??? ???? ????

(neue Lesung):                                   tilka i?an qismatun ??r? [18]

und so zu verstehen:                                         „Dies (ist) also eine erdichtete[19] Zuteilung“.

Ins heutige Arabisch übertragen, wäre dieser Vers so zu verstehen:

??? ??? ???? ?????? = ?????? = ??????

tilka i?an qismatun mu-?awwara = mu-?ayyala = ?ay?l?ya

 

3.2.4 Zur koranischen Schreibung von ???? /s?ra

Nach Erörterung des Wortfeldes der Wurzel ??? / ?wr im Koran kom­men wir abschließend zu der koranischen Schreibung von ???? /s?ra (mit ?? /s) gegenüber der syro-aramäischen Schreibung atrwx / ??rt? (mit empha-tischem ? / ?).

Der Wechsel zwischen dem stimmlosen Sibilanten ? /s und dem em-phatischen ? / ? ist im Semitischen keine Seltenheit. Man denke an syro-aramäisch rbys /saybar (erdulden, ertragen) und arabisch ??? / ?abara (geduldig sein, ausharren). Bekannt ist auch die fakultative Schreibung des koranischen ???? / ?ir?? (Linie, Weg) mit ? oder mit s ???? / sir??, hier allerdings, durch das emphatische ? / ? bedingt, ohne phonetischen Unterschied. Im Falle von s?ra gibt der Lis?n (IV, 387a) einen in­te­ressanten Hinweis auf die Bewohner von Basra (im heutigen Süd-Irak), die den Plural von ???? /s?ra und ???? / ??ra gleich bil­de­ten, wenn auch ohne nähere Angabe zu einem etwaigen Sinn­unter­schied.

Es dürfte aber kein Zufall sein, dass wir den entscheidenden Beleg für die Schreibung von s?ra mit ? /s statt mit ? / ? gerade im südli­chen Baby­lonien finden, nämlich im Mandäischen. So liefert uns das mandä­ische Lexi­kon[20] folgenden Beleg (S. 323b):

sura 2 for ?ura ? in surh udmuth d-gabra Gy 391:6 the image (?) and like­ness of a man.“

Das Fragezeichen erübrigt sich. Der Koran liefert uns einen weiteren Beweis dafür, dass in Mesopotamien das Wort s?ra alternativ mit ? /s oder ? / ? geschrieben werden konnte. Der überraschende mandäische Beleg bringt zudem ein Detail mehr für die These, dass der koranische Text im ostsy­risch-meso­potamischen Raum entstanden ist.

Religionshistorisch von Belang ist schließlich die Frage, wie es dazu kam, dass der Koran seinen Text mit s?ra bezeichnet. Die Antwort wur­de oben (Anm. 13) vorweggenommen:

unde atrwx (??rt?) etiam sine btk (k??b) valet textus Scripturarum, B.O.iii. i. 87, 97, 153, 166, 174, 261; atrwx (??rt?) „Vetus et Novum Testa­mentum,“ Ass. C.B.V. iii. 280 ult.;

Danach bezeichnet das Wort atrwx / ??rt? (> arabisch ???? / ??ra = ???? /s?ra = Niederschrift) in der christlich-syrischen Tradi­tion, wie die „Schrift“ für die „Bibel“, den gesamten Text des Alten und Neuen Testaments. Mit dem Begriff s?ra versteht sich also der Koran ur­sprünglich, wie er es wieder­holt zum Ausdruck bringt, als teilweise Wiedergabe der syrischen atrwx / ??rt?, nämlich: der „Schrift“ = der „Bibel“. Dass der Koran aber mit s?ra seine einzelnen Texteinheiten meint, ändert nichts an seiner Grundkonzep­tion, wonach er sich als Teil der biblischen Ganz­schrift verstanden wissen wollte.

3.3  ??? / ?ya <  ata / ???

Als dritter Rahmenbegriff bezeichnet schließlich das Wort ??? / ?ya das kleinste Element der koranischen s?ra (= Niederschrift, Text, Wor­t­laut): den einzelnen Buchstaben. Wenn Gott im Koran von seinen ???? /?y?t (im Plural) spricht, so meint er damit den Inhalt der Schriftzeichen, die seine aufge­zeichneten, nie­der­geschriebenen Worte bilden, so dass ?ya (das im Syrischen auch Wun­derzeichen bedeutet) zum Synonym zu ???? ????? / kalimat All?h, zum „Wort Gottes“ schlechthin geworden ist. Daher auch der wiederholte Gebrauch von ????? ???? / ?y?t All?h (die Schriftzeichen Gottes) im Koran.[21]

Eine Innovation ist die Anwen­dung von ??? / ?ya im Sinne von „Vers“ zur Bezeichnung der von der späteren islamischen Tradition (nach biblischem Vorbild) eingeführten Einteilung der koranischen Su­ren in einzelne Satzab­schnit­te. Spricht aber der Koran von ??? ????? / ?y?t mu?kam?t und ???? ?????? / wa-u?ar mutaš?bih?t in Sure 3:7, so meint er damit nicht „bestimmte und mehrdeutige Verse“ im modernen Sinne, wie Paret (44) übersetzt, sondern „präzise, getreue“ bzw. (nach syro-aramäi­schem Verständnis) „wohlbekannte, der Mutterschrift (= der Bibel ent­sprechende) Textabschnitte und andere (nicht kanonische, die­sen aber inhaltlich) vergleich­bare (Abschnitte)“.[22]

3.3.1 Zur Etymologie von ??? / ?ya

Eher als von hebräisch ??? / ?? hält es A. Jeffery[23] unter Verweis auf A. Min­gana für wahrscheinlicher, dass die Araber dieses Fremd­wort von den syrisch­sprechenden Christen übernommen haben. Doch auch dem Ostsyrer Min­gana scheint nicht aufgefallen zu sein, dass syrisch ata / ???[24] im ko­rani­schen rasm nicht ??? / ?ya (nach traditioneller Ausspra­che), sondern ??? / ??a lauten müsste. Er konnte aber deswegen nicht da­ran zweifeln, weil die koranische Fehllesung schon längst ins christliche Arabisch über­nommen wurde, namentlich in die arabische Bibelüber­setzung. Kein Wunder also, dass auch namhafte deutsche Semitisten wie Th. Nölde­ke,[25] C. Brockel­mann,[26] W. Gesenius [27] wie auch der Thesau­rus[28], um nur diese zu nennen, in der koranischen Fehllesung ??? / ?ya ohne den geringsten Verdacht die ety­molo­gisch adäquate klassisch-arabi­sche Ent­sprechung des syro-aramä­ischen bzw. hebräischen Be­griffs gesehen haben. Doch das Fehlen die­ses Ausdrucks in den ara­bischen Dialekten macht dessen unmittelbare Entleh­nung aus dem Syro-Aramäischen im Koran, wie es A. Jeffery richtig ver­merkt,[29] besonders deutlich. Was aber A. Jeffery abschließend zu dessen Vor­kommen in der sogenannten altarabischen Dichtung an­geht,[30] so wäre diese entweder nachkoranisch, oder das Wort wäre bei dessen Verschriftli­chung im 9./10. Jahrhundert ebenso verlesen worden wie im Koran, was in beiden Fällen einer mündlichen Überlieferung wider­spräche.

Den Beleg für die Aussprache ??? / ??a liefert uns zunächst der Koran selbst. Die Koranforscher in Ost und West haben nämlich bisher überse­hen, dass der Koran die etymologisch richtige Schreibung der Plural­form (nach syro-aramäischer Aussprache) in Sure 19:74 erhalten hat. Dort heißt es näm­lich (nach kanoni­scher Lesung) :

??? ?????? ????? ?? ??? ?? ???? ???? ????

wa-kam ahlakn? qablahum min qarnin hum a?sanu a???an wa-ri?ya

(Paret, 252): „Aber wieviele Generationen haben wir vor ihnen zugrun­de gehen lassen, die besser ausgestattet waren und mehr vorstellten (als sie)!“

Die beiden Ausdrücke ???? /a???an und ??? / ri’y? (eigentlich ru’y?) sind Synonyme, die einander erklären. Während ???? / a???an die syro-aramäische Pluralform atwta / ??w??? (nach Schwund des unbetonten medialen Halbvokals w vor dem betonten langen ? > ?????)[31] in kontra­hierter Form wiedergibt, ist ??? / ri’y? (ru’y?) eine Lehnüber­setzung aus syro-aramäisch atzj / ?z???. Für beide Ausdrücke gibt Mann? die fol­genden arabischen Entspre­chungen an: a) (S. 46a): ata / ??? (unter 8): ???? /?ibra (Beispiel, Vorbild); b) (S. 230b): atzj / ?z??? (neben der Grundbe­deu­tung Sehen, Sicht, Aussehen, unter 4): ???? . ???? . ???? / qudwa, mi??l, ?ibra (Muster, Beispiel, Vorbild).

Nach den 14 von ?abar? (XVI, 117 ff.) zitierten Überliefererketten werden die vorgenannten Ausdrücke von den traditionellen Kommenta­toren wie folgt erklärt: a) ???? /a??? bedeute Besitz bzw. Ausstat­tung (daher „Mobiliar“ im modernen Arabisch), b) mit ??? / ri?y? (ru?y?) sei das Aus­sehen gemeint. Die arabischen Philologen seien sich allerdings nicht einig darü­ber, ob es sich bei ???? / a??? um einen Singular oder einen Plural handelt. Während al-A?mar die Meinung vertrat, es sei ein Plural, des­sen Singular ????? / a???a sei, sah al-Farr?‘ darin eine Art Kol­lektiv und meinte, davon gäbe es keinen Singular; würde nämlich ???? / a??? einen Plural bilden, erklärte er ferner, würde dieser ??? / ???a bzw. ??? / u?u? lau­ten.

Der Lis?n (II, 110 f.) konnte (auf Grund der koranischen Auto­rität) nicht umhin, aus diesem dunklen Wort eine im Arabischen nicht exis­tie-rende Verbalwurzel ??? / a?a?a abzulei­ten, die er mit der gleichlau­tenden Wurzel mit der Grund­­­bedeutung „viel sein[32] ansetzt und hierzu Redens­ar­ten bringt, die phraseologisch mit dem koranischen Lehnwort nichts zu tun haben.

Auf Grund der mutmaßenden und unschlüssigen Erklärungen der arabischen Kommentatoren und Philologen hat Paret, im Gegensatz zu Blachère und Bell, die beiden erörter­ten Ausdrücke aus Sure 19:74 als dunkel erkannt. Im Vertrauen auf ?abar? übersetzen die letztgenannten den zitierten Vers wie folgt:

(Blachère, 335): „Combien [pourtant], avant eux, avons-Nous fait périr de générations qui en imposaient davantage par les biens et l‘apparence ?

(Bell, I, 290, 75) : „But how many a generation have We destroyed before them, better both in goods and in repute !“

Die dargelegte philologische Analyse hat methodologisch gezeigt, dass beide dunklen Wörter dank der syro-aramäischen Lesart durch zwei verschiedene Schritte geklärt werden konnten: a)  morphologisch konnte ???? / ???? als sekundäre aramäische Pluralform, semantisch in der Bedeu­tung „Vorbilder“ geklärt werden; b) durch Rückübersetzen ins Syro-Ara-mäische konnte die Bedeutung des arabischen ??? /ru?y? im koranischen Kontext über die Semantik des lexikalisch ent­sprechenden syro-aramä­i­schen Ausdrucks als Syno­nym des vorherge­henden korani­schen Wortes erschlossen werden.

Auf Grund dessen ist der missverstandene Vers 74 aus Sure 19 nun­mehr so zu lesen:

wa-kam ahlakn? qablahum min qarnin hum a?sanu ????? wa-ru?y?

und so zu verstehen:

„Wieviele Generationen vor ihnen haben wir zugrunde gehen lassen, die (vergleichsweise) bessere Vorbilder und (geradezu) beispielhaft (wört­lich: Beispiel) waren!“

3.3.2 Konjektur von  ??? / ?ya in ??? / ??a

Es mag auf den ersten Blick zu gewagt erscheinen, das im Koran in Sure 19:74 richtig überlieferte syro-aramäische Hapax lego­menon ???? / ????? (< atwta / ??w???) zur Grundlage dafür zu machen, an nicht we­niger als 382 Koranstellen die seit Jahrhunderten durchgesetzte und nicht nur in der islamischen Welt eingebürgerte Lesung ??? / ?ya (in Sin­gular und Plural, mit und ohne Perso­nalsuffix) in ??? /??a ändern zu wol­len. Doch die Tatsache, dass dieses Wort im Arabischen keine Wurzel hat wie auch die zahlreichen anderen nachgewiesenen Fehl­lesungen im Koran (darunter echte arabische Wörter) schließen eine nachträgliche inkompetente Set­zung der diakri­tischen Punkte bei diesem Fremdwort nicht aus. Es soll dennoch nicht voreilig auf eine irrige Lesung geschlos­sen werden, ohne zuvor das syro-aramäische Wortfeld sorgfältig analy­siert zu haben.

Legen wir zunächst die koranische Pluralform ???? / ????? (< atwta / ??w???) zugrunde, so würde die syro-aramäische Singularform ata /??? = arabisch ??? /??a und nicht ??? /?ya lauten. Wird demgegenüber erwo­gen, ob nicht vielleicht die Pluralform ????/????? verlesen ist, so ist diese Eventualität morphologisch auszuschließen, weil der äußere (regel­mäßige) feminine Plural im Arabischen kein End-alif (?) annehmen darf. Wollte man nämlich in der koranischen Schreibung ???? einen arabischen Ak­kusativ der Spezifikation (tamy?z) sehen (etwa ????? / ?y­­?­tan statt ?????), so wäre das End-? nicht zulässig. Die koranische Ortho­graphie gibt daher die syro-aramäische Pluralform mit End-? getreu wieder.

Zieht man weitere syro-aramäische Derivate aus dem ursprünglichen Verbum awh /hw? (sein), das hier anzusetzen ist, heran, so lassen sich aus den primären No­min­albildungen folgende Formen feststellen (Thes. I, 987 f.): aywh / hw?­y? (existentia, nativitas, generatio, creatio); atwywh /hw?y???, atwnywh / hawy?n??? (creatio, ductio ad existenti­am); aus der im Neusyrischen belegten Form atywh /hw?yt? (creatio, formatio) ist eine nicht belegte Nebenform *atywh/ hw??? (> arabisch ???? / huw?ya (dia-lektal haw?ya) [We­sensart, Identität]) anzunehmen. Aus dieser ist durch Lautverschie­bung der Exis­tenzaus­druck tya / ?? (*atywh / hw??? > *atya / ??? > tya / ??) und die weitere Nebenform aty/ y??? (essentia, existentia, natura) ent­stan­den. Für die syrische emphatische Form aytya / ??y? bzw. *atya / ??? ist als Status abso­lutus im Reichsaramäischen ?y? anzusetzen. Diese Form ist als ??? / ?y? ins Ara­bische eingegangen und wird als bloße Partikel [33] in Ver­bindung mit dem Per­sonalsuffix zur Bezeich-nung des Ak­kusativs ge­braucht, so in Sure 1:5: ???? ???? ????? ?????? / ?y?ka na?budu wa-?y?ka nasta??n (Dich beten wir an und Deinen Beistand erbitten wir). Dialektal wird ??? / ?y? in Ver­bin­dung mit dem Personalsuffix präposi­tional (nach der Konjunk­tion ? /w) im Sinne von und / mit gebraucht (so z.B. ??? ?????? / an? w-?y?-k : ich unddein Wesen“ = ich und du / ich mit dir). Von dieser Par­tikel ??? / ?y? kann das Substan­tiv ??? /?ya aber nicht abgeleitet sein.

Ein Substrat aus der syrischen Nebenform aty/ y??? (Wesen, Wesen­heit, Sein, Dasein) (> arabisch y?t) findet sich zwar im heutigen Um­gangs-arabischen des Vorderen Orients in Verbindung mit kull / k@ll (Gesamtheit = alle) wie folgt: kull + y?t + n? = kully?tn? (wörtlich: die Gesamtheit unseres Wesens = wir alle), kull + y?t + kon = kully?tkon (ihr alle), kull + y?t + (h)on = kully?t(h)on (sie alle); in nordmesopo­tamischen Dia­lek­ten auch kontrahiert: k@ll@tn? (wir alle), k@ll@tk@n (ihr alle), k@ll@t@n (sie alle); doch von diesem y?t findet sich in der arabi­schen Literatur keine Spur. Es ist also kaum anzunehmen, dass die hy­pothetische koranische Lesung ??? /?ya von der syrischen Nebenform aty/ y??? oder gar vom dialekta­len arabo-aramäischen y?t abgeleitet sein könnte.  

Nicht nur aus diesen Erwägungen kann geschlossen werden, dass die Unterpunkte bei ??? /?ya im Koran an 382 Stellen falsch gesetzt sind. Eine Überprüfung des koranischen Gebrauchs von ??? /?ya zeigt, dass je nach Kontext die gleichen semantischen Nuancen vorkommen wie beim syro-aramäischen ata / ???.[34] So z.B. in Sure 3:41, wo Zacharias Gott um ein „Zeichen“ (??? /?ya) für das bittet, was Gott ihm verkündet hat, nämlich die Geburt des Johannes, und Gott ihm als „Zeichen“ ankün­digt, er werde drei Tage lang mit den Menschen nur per Zeichensprache (???? /ramzan < syro-aramäisch azmr / rm?z?, remz? – Lk 1:22) kommunizieren. In der Peshitta (der syrischen Bibelversion) gibt der Engel den Hirten auch ein „Zeichen“ (ata / ???), das darin besteht, dass sie ein in Windeln ein-gewickeltes Kind in einer Krippe liegend finden werden (Lk 2:12).

Eine typische Lehnüberset­zung finden wir jedoch in Sure 17:12 in den Ausdrücken ??? ???? /?yat al-layl und ??? ?????? / ?yat an-nah?r, die Paret (228) wörtlich mit „Zeichen der Nacht“ und „Zeichen des Tages“ über-setzt. Obwohl der Sinn klar ist, sind diese Ausdrücke dem Arabi­schen fremd geblieben. Im Syro-Ara­mäischen bezeichnet aber atwta /??w??? (Zeichen) u.a. die Himmelskörper (vgl. deutsch Zeichen = Stern­zeichen, Tierkreiszeichen), da­runter „Mond“ und „Son­ne“.[35]

Durch den Nachweis solcher Lehnübersetzungen wird besonders deut­lich, dass der Koran mit der Transkription der syro-aramäischen Ortho-graphie ata / ??? arabisch ??? / ??a meinte und nicht das später falsch punktierte und falsch gelesene ??? / ?ya, zumal dieses Wort in dieser Aus-sprache in keinem arabischen Dialekt bekannt ist. Die Konjektur von ??? / ?ya in ??? / ??a ist daher philologisch und sprachhistorisch begründet. Der Plural lautet dem­nach nicht mehr ???? /?y?t, sondern ???? / ???t bzw. (ge-mäß der aramäi­schen Spirantisierung des End-t und entsprechend der in Sure 19:74 getreu über­lieferten Form) ???? / ????.

Zwei weitere Koranstellen wären hinzuzufügen, deren Schriftzüge in gleicher Weise verlesen sind. In Sure 44:36 heißt es:

????? ??????? ?? ???? ?????

fa-‚t? bi-?b?‚in? in kuntum ??diq?n

Dieser Vers wird von den Koranübersetzern so verstanden, wie ihn ?abar? (XXV, 128) kurz erklärt:

(Paret, 414): „Bringt doch unsere (verstorbenen) Väter (wieder) herbei, wenn (anders) ihr die Wahrheit sagt!“

(Blachère, 527): „Faites revenir nos pères, si vous êtes véridiques ! „

(Bell, II, 500, 35): „Produce our fathers, if ye speak the truth.“

Dabei geht es im koranischen Kontext um Zweifler, die Beweise für die Auferstehung am Jüngsten Tag für sich selbst fordern, und nicht um die sofortige Rückkehr ihrer ver­storbenen Väter bitten, von denen hier gar keine Rede ist. Der verlesene Schriftzug ??????? / bi-?b?‚i­n? wäre nach bis­heriger Fehllesung ??????? / bi-?y?tin?, nunmehr aber ??????? / bi-???tin? (bzw. aramäisch ??????? / bi-????in?) zu lesen und so zu verstehen:

„So bringt (doch) die uns (überzeugenden) Beweise (wörtlich: unsere Be­weise),[36] wenn ihr die Wahrheit sprecht ! „

Entsprechend ist der in Sure 45:25 gleichermaßen falsch punktierte Schriftzug wie folgt richtigzustellen:

??? ???? ????? ??????? ???? ?? ??? ????? ??? ?? ?????

????? ???????? ?? ???? ?????

wa-i? tu-tl? ?alayhim ???tun? bayyin?t(in) m? k?na ?u??atuhum ill? an q?l? ayt? [37] bi-???tin? in kuntum ??diq?n

Bisheriges Verständnis:

(Paret, 417): „Und wenn ihnen unsere Verse [w: Zeichen] als klare Beweise (baiyin?t) verlesen werden, haben sie keinen anderen Be­weisgrund (anzuführen), als daß sie sagen: ‚Bringt unsere (verstorbe­nen) Väter (wieder) herbei, wenn (anders) ihr die Wahrheit sagt!'“

(Blachère, 531): „Quand Nos claires aya leur sont communiquées, ils n’ont d’autre argument que d’objecter : « Ramenez-nous nos pères, si vous êtes véridiques ! »“

(Bell, II, 505, 24) : „And when Our signs are recited to them as Evi­dences, their only argument is: „Produce our fathers, if ye speak the truth.“

Neues Verständnis:

„Und wenn unsere Schrift­zeichen (d.h.: unsere niedergeschriebenen Worte) ihnen erläuternd [38] vorgetragen werden, haben sie keine an­de­re Einwendung, als dass sie sagen: ‚Bringt (doch) die uns (über­zeu­gen­den) Beweise (wörtlich: unsere Beweise), wenn ihr die Wahr­heit sprecht ! „

Mit den beiden Konjekturen in Sure 44:36 und 45:25 sind es insge­samt 384 Stellen, die im Koran bei ein und demselben Schriftzug (plene und defektiv geschrieben) verlesen sind. Beträgt aber der Koran nach der geltenden Kairiner Verszählung inzwischen bis zu 6.236 Verse, die mit dem ver­lesenen Wort „?ya“ bezeichnet werden, kann man sich vor­stellen, wie schwer es sein würde, die neue Lesung ??? durch­zusetzen. Um der Rea-lität Rechnung zu tragen, wird man sich deswegen damit bescheiden müssen, mit der traditio­nellen Fehllesung zu leben, sie aber als sprachhis­torischen Irrtum zu erklären. Denn schließlich stört sich auch kein Sprachhistoriker mehr an dem Umstand, dass das Wort Qur‘?n eine will­kürliche Entstellung des ursprünglich syro-aramäischen Qery?n ist.



[1] a?-?abar?, Ab? ?a?far Mu?ammad b. ?ar?r, ??mi? al bay?n ?an ta?w?l ?y al-Qur??n (Korankommentar), 30 Teile in 12 Bd., 3. Aufl., Kairo 1968, I, S. 86-96.

 

[2] Der Koran, hrsg. von Rudi Paret, Wege der Forschung Band CCCXXVI, Darmstadt 1975.

[3] Einen Nachtrag jüngeren Datums hat James A. Bellamy seinem Artikel „Some Proposed Emendations to the Text of the Koran„, JAOS 13 (1993), 562-573,

unter 12. mit der Überschrift „Again the Mysterious Letters beige­fügt (s. Wie­dergabe in What the Koran Really Says, Language, Text and Commentary, edi­ted with translations by Ibn Warraq, Prometheus Books, Amherst, New York, 2002, S. 508-510).

[4] Paret, op. cit., II, 330-335 ; ZDMG 75 (1921), S. 1-20.

[5] Paret, op. cit., 336-373 ; Der Islam. Zeitschrift für Geschichte und Kultur des islamischen Orients. 13 (1923), S. 191-226.

[6] Theodor Nöldeke, Geschichte des Korans. 2. Aufl. von F. Schwally II, Berlin 1919, 68 f.

[7] Paret, op. cit., 374-378 ; Akten des 24. Internationalen Orientalisten-Kongresses; München vom 28. August bis 4. September 1957. Hrsg. von Herbert Franke. Deutsche Morgenländische Gesellschaft; Wiesbaden: Franz Steiner Verlag in Komm. (1959), S. 276-279.

[8] Paret, op. cit., 379-385 ; Studia Islamica 16 (1962), pp. 5-11.

[9] Encyclopedia Britannica (9th ed.), article on the „Koran“.

[10] Siehe hierzu Arthur Jeffery, The Foreign Vocabulary of the Qur‘?n, Baroda, 233 f.

[11] Christoph Luxenberg, Die syro-aramäische Lesart des Koran. Ein Beitrag zur Entschlüsselung der Koransprache, Berlin 2000, 54 ff.; 2. überarbeitete und erweiterte Aufl., Berlin 2004, 81 ff.; 3. Aufl., Berlin 2007, 83 ff.

[12] Vgl. deutsch Trasse, Trassee aus französisch tracer (eine Linie ziehen), angeblich aus dem Vulgärlatein < lateinisch tractum; die lautliche Nähe von tracer zu syro-aramäisch tra? (mit gleichem semantischen Inhalt) müsste ebenso ein Zufall sein wie die syro-aramäische Metathesis afrs (sr??? /Linie) > koranisch ???? / ???? (?ir?t/ sir??) zu lateinisch strata ; siehe hierzu die etymologische Neu-deutung des Autors in der englischen Ausgabe The Syro-Aramaic Reading of the Koran. A Contribution to the Decoding of the Language of the Koran, Berlin 2007, S. 226 ff. (bei A. Jeffery, Foreign Voca­bu­la­ry, 195 f.).       

[13] Mann?, 633b; Thesaurus Syriacus (Thes.) II, 3386 penult., Spec. btk trwx (??ra? k??b) textus, btk trwxb (b-??ra? k??b), Eus. Hist. Eccl. iii. 37 (38); (3387)  atdjdw atqyt[d btk trwx hSlk (kull?h ??ra? k??b d-?attiqt? w-?a??att?) totus textus Veteris et Novi Test. (der gesamte Text des Alten und des Neuen Testaments), Chr. Eccl. § ii. 215; ib. 481…; unde atrwx (??rt?) etiam sine ?btk (k??b) valet textus Scripturarum, B.O.iii. i. 87, 97, 153, 166, 174, 261; (??rt?) „Vetus et Novum Testamentum,“ Ass. C.B.V. iii. 280 ult.; afslgnwad atrwx (??rt? ?-ewangelis??) textus evangeliorum, Syn. ii. Eph. 149. 2. 

[14] Näheres zu dieser Schreibung siehe The Syro-Aramaic Reading of the Koran, S. 295 f., insbesondere Anm. 353.

[15] Es handelt sich um den Beinamen von drei namhaften arabischen Philologen: der früheste gest. 793, der mittlere gest. 830, der jüngste gest. 920.

[16] Die im Arabischen bei Adjektiven und Substantiven vielfach bezeugte Form  ???? / fa??l ist wohl zu einem früheren Zeitpunkt in einem aramäischen Sprachum­feld entstanden. Denn diese Form gehört nicht zum arabischen, sondern zum aramäischen Verbalpara­digma. Das Partizip Passiv des ersten Verbalstammes bildet das Arabische bekanntlich mit einem m-Präfix auf ????? / ma-f??l. Die arabischen Philologen haben allerdings die entsprechende Bedeutung der Form ???? / fa??l gelegentlich je nach Kontext erkannt. So erklärt der        Lis?n diese Form des öfte­ren mit: ???? ????? ????? / fa??l im Sinne von ma-f??l

[17] Siehe Carl Brockelmann, Syrische Grammatik, Paradigma der Verba med. und, Part. pass., S. 142.

[18] Wenn al-Farr?‘ eine solche Form nur auf Nomina eingeschränkt wissen wollte, so mag er an ein arabisches Substantiv wie ???? /m?za (Auszeichnung, Eigen­schaft) gedacht haben. Dabei konnte er nicht erkennen, dass auch dieses Wort ein sub­stanti­vier­tes Partizip Passiv ist nach dem syro-aramäischen Para­digma und dass es sich insoweit morpholo­gisch vom korani­schen Partizipial­adjektiv ???? /??r? nicht unterscheidet.

[19] Dieses Verständnis wird im nachfolgenden Vers 23 bestätigt, der ein Kom­men­­tar zu den Versen 19-22 zu sein scheint. Darin heißt es:

„Das sind ja nichts als Namen, die ihr und eure Väter genannt habt, bezüglich derer Gott keinerlei Autorität (durch eine offenbarte Schrift) herabgesandt hat. Sie (die angesprochenen Menschen) folgen (darin) ausschließlich (ihrer) Mutmaßung (???? / a??ann) und dem, was die Seelen (d.h. ein jeder nach eigenem Empfinden, Gutdünken) sich ausdenken. Dabei haben sie von ihrem Herrn die rechte Leitung (die rechte Lehre) erhalten“ (wörtlich: Dabei ist die rechte Leitung zu ihnen gekommen). Die Redewendung ?? ???? ?????? /m? tahw? l-anfus ist ein Aramaismus und geht zurück auf syro-aramäisch Ywha /a-hw? (schaffen, erfinden) und acpn / na?š? (Seele) in der Bedeutung „das, wonach es einen gelüstet“ = Begehren, Gutdün­ken (s. Mann?, 460a zu acpn / na?š?, unter (5): ???? . ???? / šahwa, ra?ba). Danach hat der anonyme Kommentator (in Vers 23) das in der kano­nischen Koran­ausgabe verlesene Wort (???? / ??z?) in Sure 53:22 seinerzeit syro-aramäisch (??r?) richtig gelesen und richtig verstanden, was ?abar? und die Autoritäten, auf die er sich beruft, übersehen haben.

[20] A Mandaic Dictionary, by E. S. Drower and R. Macuch, Oxford 1963.

[21] Die von A. Jeffery, Foreign Vocabulary, 73, Anm. 1, angegebene Stelle in Daniel iii, 33 zum Gebrauch von biblisch-aramäisch ?? (??) im Sinne von „a sign wrought by God“ trifft nicht zu. Der Doppelausdruck ???h? w-?imh?h? (Peshitta: ??w??eh w-?e?mr??eh) („seine Zeichen und seine Wunder„) macht im biblischen Kontext die Bedeutung von ?? (??) im Sinne von „Wunderzeichen“ deutlich.

[22] Näheres hierzu s. The Syro-Aramaic Reading of the Koran, 106 ff.

[23] Foreign Vocabulary, 72 f.

[24] Eine jüngere Diminutivform von ata /??? scheint atwta / ????? (Buchstabe, Zeichen) zu sein; siehe hierzu Th. Nöldeke, Kurzgefasste syrische Grammatik, 78, Diminutiva, § 134: „Vergl. ferner § 112, sowie die durch Wiederholung des 3. Rad. gebildeten Diminutiva § 122.“ Zu den folgenden, von Nöldeke genann­ten Beispielen wäre atwta / ????? hinzuzufügen. Nicht auszuschließen wäre aber auch die Möglichkeit, dass dieses Wort eine jüngere Rückbildung ist aus der Pluralform atwta / ??w???.

[25] Mandäische Grammatik, S. 110 mitte.

[26] Lexicon syriacum, S. 53b.

[27] Hebräisches und aramäisches Handwörterbuch, S. 19b.

[28] Thesaurus syriacus, I, 412.

[29] Op. cit., 72: „The struggles of the early Muslim philologers to explain the word are interestingly set forth in LA, xviii, 66 ff. The word has no root in Arabic, and is obviously, as von Kremer noted [n. 6: Ideen, 226 n.; see also Sprenger, Leben, ii, 419 n.; Cheikho, Na?r?n?ya, 181; and Margoliouth, ERE, x, 539], a borrowing from Syr(iac). or Aram(aic).“

[30] Op. cit., 73: „The word occurs in the old poetry, e.g. in Imr?’ul-Qais, lxv, 1 (Ahlwardt, Divans, 160), and so was in use before the time of Mu?ammad.“

[31] Auf solche wohl im Gemeinaramäischen durch Kontraktion von steigenden Diphthongen entstandene Pluralformen, wie wir sie im Arabischen vorfinden, hat bereits Franz Praetorius (in ZDMG 56, 1902, 688 f.) aufmerksam gemacht. Diese zutreffende Beobachtung war seinerzeit auf die negative Kritik Th. Nöldekes gestoßen, der in seinen Beiträgen zur semitischen Sprachwissenschaft (Strass­burg 1904, 55, unter II) dazu wie folgt Stellung genommen hatte:

„Wenig Zustimmung dürfte Praetorius finden bei seiner Identifizierung von (klassisch-arabisch) ???? (ru??t), ???? (?us?t), ???? (suq?t) mit (syro-aramäisch) atw[R  (r??aww???), atwsa (?saww???), atwqc (š?qaww???) (Hirten, Hei­ler /Ärzte, Schenken)…“ Dabei zeigte Nöldeke, dass ihm diese Lautverschiebung durch Kontraktion nicht aufgefallen war, wie es seine folgende Argumentation zeigt. Richtig ist allerdings, dass eine Zwischenstufe zwischen der klassisch-syrischen und der arabischen Form vorauszusetzen ist, die die unmittelbare Vorstufe zu der arabischen Form gewesen sein muss. Ausgehend von der klassisch-syrischen Form kann man sich demnach die dreistufige Lautver­schie­bung am Bsp. von ???? (ru??t) wie folgt vorstellen: a) syrisch r??aww??? > b) ge-meinaramäisch *r??w??? > c) arabisch ru??t. Letzterem Schema entspricht auch regelrecht der Übergang von syro-aramäisch atwta / ??w??? (Zeichen, Buch­staben) zu kora­nisch-arabisch (in Pausalform) ???? /???? (also: ??w?? > ????).

[32] Die im Arabischen fremd klingende Verbalwurzel ??? / a?a?a geht offensichtlich auf die syro-aramäische Variante tty / yatte? (Mann?, 319a: ???? . ???? . ???? / kaw­wana, aw?ada, abda?a [bilden, schaffen, hervorbringen]) zurück; diese scheint wiederum eine sekundäre Denominativbildung vom „Existenzaus­druck“ tya / ?? bzw. ty / y?? zu sein; dafür spricht der Bezug im Lis?n (II, 110b) auf eine „üppige, dichte“ Vegetation, wie in einem Vers von Imru‘ al-Qays (???? / a???) bezeugt, was wiederum dem von Mann? (319a) zitierten syro-aramäischen Adjektiv atyty / yatt??? bzw. ya???? (üppig) genau entspricht. Die weiteren Bei­spiele, die der Lis?n zitiert, bestätigen die Herkunft dieser Wurzel vom Syro-Aramäischen und bezeugen einmal mehr, dass das „Altarabische“ dem Aramäi­schen viel näher stand, als manche Arabisten heute wahrhaben wollen.

[33] Der Lis?n (XIV, 61b f.) zitiert Ab? Man??r, der hierzu erklärt: „Bezüglich der Deutung und der Herkunft von ??? / ?y? habe ich nichts zu hören bekommen“; ferner, nach versuchter volksetymologischer Erklärung: „In Wirklichkeit ist das Wort schleierhaft (???? / mubham), es dient zur Bezeichnung des Akkusativs

(???? ?? ?? ??????? ). Dem entspricht im Hebräischen die Partikel ?? /e?, die eine kontrahierte Nebenform des aramäischen ??? / ?? zu sein scheint (vgl. dazu W. Gesenius, Hebräisches und aramäisches Handwörterbuch, 76a, penult., 1. Zeichen des determinierten acc.).

[34] Zwar erkennt der Lis?n (XIV, 62a f.) die Bedeutung des falsch gelesenen ??? /?ya nach dem koranischen Kontext richtig im Sinne von Zeichen, Beispiel, Vorbild und Wunder, ohne jedoch dessen Herkunft zu erklären. Interessant ist dabei ein anonymes Zitat, wonach ??? /?ya deswegen ?ya genannt wurde, weil damit eine Summe der Buchstaben (bzw. der einzelnen Worte) des Koran (????? ????? ?? ???? ??????) gemeint seien.

[35] Thes., I, 413, 4) constellatio, aymcd atwta (??w??? ?a-šmayy?) constella­tiones coeli, Jer. x. 2, Did. Ap. 87.16. It. signa quibus sol, luna et planetae ab astronomis designantur, quae omnia descripta inveniantur ap. Laud. cxxiii. 245 v.

[36] Zu dieser Bedeutung von syrisch ata /??? siehe Thes., I, 413, unter ?): indici­um, argumentum, amyqd ata / ??? ?a-qy?m? (Zeichen = Beweis der Auferste­hung), Gen. ix. 12, 2 Cor. xii. 12. Damit liefert uns der Thesaurus zugleich den Beleg für das richtige Verständnis der Fehllesungen in Sure 44:36 und 45:25.

[37] Anders als die Schreibung ????? / fa-t? (I. arabischer Verbalstamm) in der Paral­lelstelle von Sure 44:36, gibt der koranische Schriftzug ????? hier eindeutig die syro-aramäische Afel-Form (wtya / aytaw) wieder und ist dementsprechend ara­bisch ayt? zu le­sen. Die Kairiner Koran­ausgabe neutralisiert aber das präfi­gierte Alif des Afel durch ein wa?la, setzt ein unzu­lässiges hamza auf den fol­genden y-Träger und liest das Verbum als stünde es im I. arabi­schen Verbal­stamm: (q?l?)t?. Die arabischen Grammatiker nen­nen eine solche Falschbe­le­gung von Schriftzügen ????? /ta???f (im Lis?n häufig zitiert, da dieses Phäno­men auch im nachkoranischen Arabisch nachzuweisen ist). Zwar heißt „brin­gen“ im klassischen Arabisch ??? ?? /at? bi- (im I. Verbalstamm), im Syro-Aramäischen ist es aber die Afel-Form (entsprechend dem IV. arabischen Ver­bal­stamm; vgl. Mann?, 45b: Ytya /ayt?: ??? ?? / at? bi-). Davon abgesehen, dass arabisch ??? (at?) dem Syro-Aramäischen entlehnt ist, würde der Imperativ des IV. arabi­schen Verbalstammes in der 2. Person Plural ????? (?t? bzw. ut?) lauten, was hier nicht der Fall ist. Die koranische Schreibung gibt daher die syro-aramäische Afel-Form getreu wieder. Solche Schwankungen zwischen dem arabischen und dem syro-aramä­ischen Verbalsystem begegnen nicht selten im Koran. Eine eingehende Analyse der koranischen Orthographie würde einiges  mehr an den Tag bringen.

[38] Als Entlehnung aus syro-aramäisch öyb / bayyen hat arabisch ???? / bayyana die entsprechenden semantischen Nuancen, wie bei Mann? (56a: erklären, verdeu­t­lichen; verständlich machen, lehren) angegeben.

 

Die geheimnisvollen Buchstaben im Koran – 2. Teil