Thomas: Frühe Spanische Zeugnisse zum Islam – 1. Teil

Johannes Thomas

Frühe spanische Zeugnisse zum Islam

Vorschläge für eine differenziertere Betrachtung der Konflikte und der religiösen Gemeinsamkeiten zwischen dem Osten und dem Westen des arabischen Reiches

Zusammenfassende Vorbemerkung

 

Die Darstellungen der frühmittelalterlichen Geschichte Spaniens leiden nicht nur unter dem Mangel an Dokumenten, sondern auch und vor allem daran, dass die religiösen Verhältnisse nicht differenziert genug betrachtet wer­den. So spricht die Al-Andalus-Propaganda vom friedlichen Zusam-menle­ben der Christen, Juden und Muslime, ohne sich klar zu ma­chen, dass es sehr verschiedene Christen und Muslime gab, sogar Bewegun­gen, die beiden Religionen zugerechnet wurden, wie etwa die gnostischen Strö-mungen, bei denen die Zuordnung zum Islam nicht gerade offensicht­lich ist. Es wird auch nicht unterschieden zwischen kulturellen Traditionen und Sprachräumen. Dass etwa Ibn Rushd auf Arabisch geschrieben hat, bedeutet nicht, dass er einer Tradition arabisch-islamischer Auseinanderset­zung mit der griechischen Philosophie zuzurechnen wäre. Vielmehr stammt die philosophische Tradition aus dem syro-aramäisch-persischen Raum. Be-rücksichtigt wird auch nicht, dass die Berberstämme im Wesentlichen christianisiert waren. Welche christlichen Traditionen bei ihnen und dann auch in Spanien lebendig waren, ergibt eine Betrachtung der frühen arabi­schen Geschichtsschreibung, obwohl diese dank der abbasidischen Neudeu­tung der Geschichte des Islam die realen Verhältnisse zu kaschieren ten­diert. Sie orientiert sich nicht nur an den Topoi der älteren arabischen Erobe­rungsliteratur, sondern vor allem an bis heute gerne übersehenen bibli­schen Vorstellungen, die im Übrigen auch die lateinischen Quellen stärker geprägt haben, als bislang angenommen worden ist. Deren Schilde­rung der arabischen Geschichte lässt syro-aramäische Einflüsse ebenso wie die Orientierung an einer abbasidischen Sicht der Geschichte erkennbar werden. Es leuchtet ein, dass darin von religiös motivierten Konflikten keine Rede ist. Die darin als „arures“ geschmähten Kharidjiten, angeblich die erste islamische Sekte, erscheint als christliche Sekte. Die Präsenz ebenso islamischer wie christlicher heterodoxer Bewegungen ist in Spanien durch die Jahrhunderte hindurch belegt. Dabei fällt für die christliche Seite auf, welch große Bedeutung in den Konzilsakten insbesondere den gnostisch-manichäischen Strömungen zugesprochen worden ist, die auch für die islami­sche Heterodoxie eine größere Rolle gespielt haben. Jenseits der unhistori­schen Trennlinien zwischen Christentum und Islam wird so erkenn­bar: Die Verhältnisse im Westen des arabischen Reiches gleichen weitgehend denen im Osten. Hier wie dort herrschte jenseits und unbescha­det der sich jeweils um Verfestigung und Stabilisierung bemühten Orthodo­xie ein heterodoxer islamisch-christlicher Synkretismus

 

 

1. Spanien als Ziel des Dschihad und die Bodenlosigkeit der Al-Andalus-Propanda

Seit einigen Jahrzehnten wird Spanien, arabisch Al-Andalus, regelmäßig als eine Art gelobtes Land des Islam für die Religion des Propheten reklamiert. Nachdem es dort eine Zeit kultureller Blüte gegeben habe wie nirgends sonst im Mittelalter unter islamischer Herrschaft, sei seine Bevölkerung nun der Dekadenz verfallen und müsse wieder dem rechten Glauben zugeführt werden. Nachdrücklich und regelmäßig wird deshalb die Wiedereroberung des Landes von al Qaida eingefordert. Sie wurde aber auch vom Begründer der Muslim-Brüder, Hassan al-Bannah, postuliert. Bei allen Rückforderun­gen wird natürlich regelmäßig vergessen, dass die Christenheit mit gleichem Recht die Restitution der Türkei und des Vorderen und Mittleren Orients, vor allem aber Nordafrikas verlangen könnte, Weltregionen, in denen es eine blühende spätantik-christliche Kultur gegeben hat, bevor sie in Jahr-hun­derten islamischer Herrschaft völlig austrocknete.1 Obwohl bisher niemand auf den Gedanken einer solchen Wiedereroberung ehemals christ-li­cher Gebiete gekommen ist, wird dem Westen eine Kreuzzugsmentali­tät vorgeworfen, die man selbst, auf den Halbmond umge­münzt, ganz un-geniert betreibt und dabei dank einer internationalen Al-Andalus-Propa-ganda auch noch breiteste Unterstützung im Westen, insbesondere in Spa-nien findet.

So wird auf den dem „Intercultural Dialogue« gewidmeten Webseiten der UNESCO2 Al-Andalus als Modell einer Gesellschaft mit freiem und friedlichem interreligiösem und interkulturellem Dialog präsentiert: Die »fruchtbare Dialektik zwischen den drei großen monotheistischen Religio­nen« und ihre Koexistenz hätten zum Aufkommen eines Universalismus geführt, in dessen Licht »das rationalistische, philosophische und wissen-schaftli­che Denken des alten Iran und Griechenlands« neu formuliert wor-den seien, so etwa Haïm Zafrani. Auf der gleichen Webseite unter­streicht Pierre Philippe Rey (»Al-Andalus: Scientific Heritage and European Thought«) die Bedeutung von Andalusien als Ursprung des europäischen Rationalismus. Danach steht keine Gestalt so eindeutig für diesen Ursprung wie „Ibn Rushd, Averroes, Arzt, Jurist und Philosoph“, oder auch sein Zeitge­nosse „Ibn Maymun, ein Jude von der Religion her (im mittelalterli­chen Europa bekannt als Maimonides)“. «Auch die Toleranz und die Quali­tät des interkulturellen Dialogs in Andalusien werden auf der UNESCO-Seite in den höchsten Tönen gepriesen. Mohamed Benchrifa etwa meint:

„Während der ganzen Zeit der islamischen Herrschaft war Andalu­sien (…) die Heimat von Formen der Toleranz, wie man sie bis zu mo­dernen Zeiten nicht mehr beobachtet hat. Es war ein genuines Land des Dialogs, eines Dialogs, der zugleich heiter und lebhaft war.“

Solche blanke, ganz und gar realitätsfremde Propaganda wird nicht nur auf UNESCO-Seiten gepflegt, sie gehört auch zum rhetorischen Rüstzeug spani­scher Politik. So wird die Kulturministerin Carmen Calvo mit folgenden Ausführungen (im Rahmen eines Kongresses in Granada, Andalusien, 28.-31. 10. 2002, zum Thema »Clash of Civilisations or Clash of Perceptions. In Search of a Common Ground for Understanding«) mit den Worten zitiert:

„Andalusien war der Platz vieler Städte, Kulturen und Religionen, von seiner Kolonisierung durch die alten Griechen bis zur Invasion durch die Karthager und dann der Entwicklung einer iberisch-arabi­schen Kultur -, einer Kultur, die mehr durch ihre aufwendige Architek­tur, ihre poetischen Metaphern und friedlichen Gärten gekenn­zeichnet war als durch irgendeine religiöse Orthodoxie.“

Abschließend drückte sie ihre Hoffnung aus, dass Granada und insbeson­dere die Alhambra den Teilnehmern des Kongresses „jene Weisheit einge­ben möge, die wir benötigen, um Ideen zu entwickeln, die dazu beitragen können, unsere gemeinsame Freundschaft und Solidarität zu verstärken.“

Der Direktor der andalusischen Stiftung »Legado andalusí«, Jerónimo Páez López, fügte den Worten der Ministerin hinzu, dass Andalusien ein Modellfall von Pluralismus gewesen sei. Er fasste kurz die Geschichte der Region zusammen, wobei er mit der Invasion im 8. Jahrhundert begann, die dann 800 Jahre islamischer Herrschaft auf der iberischen Halbinsel zur Folge gehabt habe. Während dieser Zeit hätten Christen und Muslime fried­lich zusammen gelebt…Es habe einen spielerischen (»ludic«) Islam in Andalu­sien gegeben, der spätere Generationen inspiriert habe. Abschlie­ßend rief er die Einwohner Andalusiens auf, stolz zu sein auf das islamische Erbe Andalusiens. „Die Stiftung ‚Legado andalusí‘ arbeitet zusammen mit dem Bürgermeister von Granada daran, eine positive Einstellung zu Grana­das muslimischem Erbe zu befördern“.3

Dass solch pauschaler Lobgesang realitätsfremd sein muss, ergibt sich schon daraus, dass eine durchgängig friedliche und freundliche Herrschafts-aus­übung über 800 Jahre hinweg jeder menschlichen Erfahrung wider-spricht. Dass die Wirklichkeit in der Tat ganz anders ausgesehen hat, als es die UNESCO-Seiten oder spanische Politiker suggerieren, ist aber längst durch die historische Forschung erwiesen. Nahezu jedes Nachschlage­werk kann einen darüber informieren, dass die als Resultat des friedlich-freund-lichen Dialogs zwischen den Kulturen gepriesenen Denker Averroës4 oder Moses Maimonides in Córdoba ihres Lebens nicht sicher waren und ihre Schriften verboten wurden. Moses Maimonides rettete sich durch Flucht, zunächst nach Fez, wohin auch schon Ibn Rushd ins Exil gegan­gen war. Maimonides trat dort zum Schein, um sein Leben zu retten, zum Islam über, floh dann weiter nach Alexandria in Ägypten, wo er sich wieder zum Judentum bekannte und deshalb einen Apostasieprozess durch­lebte, bei dem er nur knapp der Todesstrafe entging. Averroës‘ Schriften lebten und wirkten nur fort dank ihrer lateinisch-christlichen Rezeption. Die Verfol-gung dieser Persönlichkeiten war, wie weiter unten ausgeführt, nicht etwa eine Ausnahme, sondern der Normalfall im arabischen Spanien.

Wie der renommierte spanische Arabist Serafín Fanjul feststellt5, konnte im arabisch beherrschten Spanien weder von Toleranz noch von Dialog in irgendeinem modernen Sinne die Rede sein, sondern eher von einem Sys­tem, das der Apartheid glich. Und wenn man über eine gewisse Vertrautheit mit der andalusischen Lebensweise verfüge und gleichzeitig einiges über die Kultur und das tägliche Leben in arabischen Ländern wisse, dann verspüre man „eine beachtliche Dosis Scham angesichts der aktuellen Suche nach den arabischen Wurzeln Andalusiens“. Das „sei eine mehr emotionale als begrün­dete Tendenz, eher von der Phantasie getragen, als durch Fakten gestützt“.6 Im Übrigen hätten auch die Araber ein „völlig irreales Bild von Spanien, das sie mit inexistenten Mezquitas und phantasmagorischen poeti­schen Überhöhungen von Al Andalus bevölkern“.7

 

1.1. Zur politisch begründeten Herkunft des Al-Andalus-Mythos in Spanien

Dennoch pflegen viele Vertreter von Politik, Wissenschaft8 und Medien weiterhin den Mythos »Andalusien«. Dabei dürfte im Grunde jedem geläu­fig sein, der mit der spanischen Kulturgeschichte halbwegs vertraut ist, wo­her dieser Mythos stammt. Die in Großbritannien auf die arabische Bevöl-ke­rung Spaniens übertragenen frühromantischen und romantischen Vor-stellungen von »edlen Wilden« und einem »verlorenen Paradies« sind, verspätet und hauptsächlich über Frankreich vermittelt, im 19. Jahrhundert auch nach Spanien gelangt. Als dann in der Franco-Zeit eine ganz einseitige Reconquista-Propaganda betrieben wurde9, war es für die von diesem Re­gime Verfolgten, für alle Anti-Franquisten und überhaupt für die meisten Intellektuellen nur natürlich, eine Gegenposition zu beziehen.

So ist es kein Wunder, dass bis heute viele Hispanisten insbesondere zur Verfolgungs- und Vernichtungspraxis des christlichen Spanien gegenüber Juden und Arabern kenntnisreiche Studien vorlegen, während sie zugleich ohne weitere Forschung die romantischen Klischees von der glücklichen Zeit unter muslimisch-arabischer Herrschaft pflegen oder zumindest gelten lassen.

Ein herausragender Protagonist dieser Geisteshaltung ist der spanische Lite­raturnobelpreisträger Juan Goytisolo, der unter Franco nach Paris ins Exil ging und heute in Marrakesch und Paris lebt. Er hat der Verarbeitung der arabischen Legenden in seinem Werk keinen geringen Raum einge­räumt, so etwa in dem Roman „Rückforderung des Conde Don Julián“, wo sich der anonyme Erzähler in der Erinnerung an den Verrat Don Juliáns am Westgotenkönig Roderic in Hasstiraden auf das aktuelle Spanien ergeht und des­sen franquistische Kultur dank eines neuen Verrats und einer erneuten Eroberung von Marokko aus ganz aus der Geschichte tilgen möchte. Das­selbe Thema greift Goytisolo auch in den Crónicas sarracinas auf, wobei er diesmal jedoch betont, um Missverständnisse zu vermeiden, dass er seinen Aufruf zur Eroberung und Vernichtung Spaniens an ein nur erdachtes, imaginä­res Marokko richte und es in Wirklichkeit um einen innerspani­schen kulturellen Konflikt mit dem Islam gehe.10

 

1.2. Al-Andalus war nicht die Wiege des europäischen Rationalismus.

Der Mythos Spaniens als Geburtsort aufgeklärten Denkens und der Wissen­schaft, für den immer wieder Namen wie Averroës oder Maimonides be­müht werden, ist schon vor weit mehr als hundert Jahren von Ignaz Goldzi­her demontiert worden. Goldziher, einer der bis heute international ange-sehe­nen Begründer einer kritischen Orientalistik, fasste die Ergebnisse seiner Forschungen zu diesem Thema 1877 vor der Ungarischen Akademie der Wissenschaften wie folgt zusammen:

„Der erste spanische Kalif, der die Wissenschaften gefördert und ge­pflegt hat, war Hakam II im 4./10. Jahrhundert (4. nach arabischer, 10. nach christlicher Zeitrechung, J. Th.); er war selbst auch ein Gelehr­ter ersten Ranges.“

Aber schon unter seinem Nachfolger habe dessen Majordomus, Ibn abî Amir, die Gunst des Volkes und der islamischen Religionsgelehrten durch die Zerstörung der Bibliothek und aller wissenschaftlichen Ergebnisse Ha­kams gewonnen.

„Da aber Andalusien im 4./10 und 5./11. Jahrhundert noch gar keine be­deutenden und frei denkenden Philosophen hervorgebracht hatte, zer­störte der Fanatismus von Ibn abî Amir nur die östliche philosophi­sche Literatur. Als dann im 6./12. Jahrhundert in Gestalt von Ibn Rushd (Averroës), Obm Baja (Avempace), Ibn Tufayl (Abuba­cer) und Ibn Zuhr (Avenzoar) einige wenige Philosophen un­ter den spanischen Arabern auftauchten, konnte für eine kurze Zeit we­nigstens ihre persönliche Sicherheit durch den Almoraviden (Almoha­den, J. Th.)-Kalifen Yusuf ibn Tashfin, der selbst ein Freund der Gelehrsamkeit war, gewährleistet werden. Später jedoch, nach ei­nem ‚goldenen Zeitalter‘ von wenigen Jahrzehnten, wurden Philoso­phen und Gelehrte auf Druck der ‚ulama‘ und des Proletariats gezwun­gen, sich zurückzuziehen. Ihre Verfolgung setzte der gesam­ten philosophischen Bewegung im islamischen Spanien ein Ende. Aver­roës, der seinen Ruhm in der Geschichte des Aristotelismus sei­nem überragenden Einfluss auf die christliche Scholastik und die jüdi­sche Religionsphilosophie verdankt, geriet bei den Arabern fast voll­ständig in Vergessenheit (…) Sein Werk wurde nicht weiter ge­führt, wobei zu sagen ist, dass es sich nicht der Entwicklung des spani­schen Islam verdankt, sondern eine Fortsetzung der Philoso­phie des östlichen Islam darstellte, die sich dort organisch über Jahrhun­derte hinweg fortentwickelt hat. Aus diesen beiden Umstän­den geht eindeutig hervor, dass das arabische Spanien kein geeigne­ter Boden für die Philosophie gewesen ist, eine Tatsache, die auch der Historiker des arabischen Spanien, al-Maqqari, einräumt, wenn er schreibt: ‚Philosophie ist eine in Spanien verhasste Wissenschaft, die man nur im Geheimen studieren kann…'“

„Das Phänomen, dass sich zahlreiche liberale Bewegungen, sowohl in der Wissenschaft wie im praktischen Leben, im östlichen Islam manifes­tiert haben, während wir im westlichen Islam vergebens da­nach suchen, ist den unterschiedlichen Umständen und Bedingun­gen der Herausbildung beider Zweige des Islam geschuldet (…) Die Ge­schichte der arabischen Wissenschaften beginnt mit ihrem Kon­takt und ihrer Vermischung mit den Persern, und die Initiatoren die­ser wissenschaftlichen Bewegung, die sich später zu einer eigenen Diszip­lin des Islam entwickelte, waren zumeist nichtarabische Fremde, insbesondere Perser…“11

Die geringe philosophische Fruchtbarkeit des arabischen Spanien hängt auch mit den Besonderheiten der Geschichte des Islam zusammen. Insbe-son­dere im Westen hat sich eine besonders rigide Rechtsschule, die der Malikiten, durchgesetzt. Das soll schließlich sogar zur Vernachlässigung der Koranlektüre und der Hadithen-Literatur zugunsten allein der juristi­schen Handbücher geführt haben.12

Die Privilegierung der Beschäftigung mit Rechtsverhältnissen ist aller­dings keine spanische Besonderheit. Sie hängt damit zusammen, dass das islamische Ideal des Gelehrten in seiner Rolle als authentischer und vertrauens­würdiger Übermittler jenes Wissens gesehen wird, das als Über-liefe­rung des Propheten und seiner frommen frühen Mitstreiter gilt. Im Vergleich dazu musste die Philosophie als eine „fremde Wissenschaft“, als unarabisch und nicht-muslimisch erscheinen.13 Ein beträchtlicher Teil der muslimischen Geschichtsschreibung hat so nicht unwesentlich zur Förde­rung des Misstrauens gegenüber allem spekulativen Denken in Philoso­phie und dann auch in der Theologie beigetragen. Durch die Fixie­rung auf Tradierung und Recht wurde die Fiktion eines theologischen Den­kens als eines seit den Anfängen durch nichts verfälschten, durch keinerlei fremde Einflüsse modifizierten Denkens überhaupt erst möglich.14

Eine ähnliche Fiktion stellt naturgemäß auch das Bild der Geschichte der Araber und des Islam dar. Sie soll hier am Beispiel der Geschichte der Erobe­rung Spaniens näher betrachtet werden.

 

 

2. Die ‚Eroberung‘ von 711: Probleme der spanischen Historiographie

2.1. Ein Vertrag zwischen Theodemir und Abd al-Aziz: der angeblich früheste arabische Text aus al-Andalus

Als frühester arabischer Text, ja, als frühester Text überhaupt nach 711 gilt ein Vertrag, den der Sohn von Musa ben Nusayr, Abd el-Aziz, mit dem goti­schen Feudalherren Theodemir abgeschlossen haben soll. Dieser Vertrags­text dient bis heute dazu, den großzügigen Umgang der muslimischen Sie­ger mit den besiegten Christen zu belegen, obwohl er ausdrücklich auf die vorteilhafte Vertragsgestaltung zugunsten eines besonders bewundernswer­ten Feudalherren, nämlich Theodemir, abhebt. Im Einzelnen legt er fest, dass Theodemir kapituliert, die Schutzherrschaft und das Klientelverhältnis mit Gott und seinem Propheten akzeptiert, und zwar unter der Vorausset­zung, dass er und seine Schutzbefohlenen persönlich, mit ihrem Besitz und in ihrer Religionsausübung geschützt und keine Kirchen verbrannt würden. Ferner wird festgelegt, welche Tribute an Geld und landwirtschaftlichen Produkten zu errichten seien. Datiert ist der Text auf das Jahr 94 A.H., auf April 713 nach christlicher Zeitrechnung.

Seit seiner ersten Veröffentlichung im 18. Jahrhundert durch Miguel Casiri fehlt dieser Text in kaum einer Darstellung der Geschichte Spaniens nach 711.15 Gefunden hat ihn Casiri in einer Handschrift des 12./13. Jahr-hun­derts. Was in den Jahrhunderten zwischen 713 und 1200 von Schreibern alles verändert worden ist, lässt sich kaum feststellen. Der Text ist also alles andere als verlässlich. Gleichwohl stellt kaum jemand seine Authentizität in Frage. Das hat seinen Grund vielleicht zum einen darin, dass er gut zur späte­ren Al-Andalus-Propaganda passt, zum anderen darin, dass er in weite­ren, für relativ früh gehaltenen Texten erwähnt wird. So etwa beim „Moro Rasis“.

Die Chronik von Ahmed al Rasi-Atariji reicht aber bis zum Jahre 976, kann also frühestens gegen Ende des 10. Jahrhunderts geschrieben worden sein. Eine solch große Zeitspanne zwischen dem angeblichen Vertragsda­tum und der frühesten möglichen Abfassung der Chronik entwerten natür­lich diesen Text als historisches Zeugnis. In noch früheren arabischen Chroni­ken, also etwa bei al-Hakam, ist der Vertrag nicht belegt.16

Auch ist die Tatsache, dass er in der lateinischen „Chronik 754″, die in ei­nem Manuskript des 9. bzw. 10. Jahrhunderts (teilweise) vorliegt, erwähnt, wenn auch nicht inhaltlich näher beschrieben wird, noch kein schlüssiger Beleg für seine Qualität als Urkunde aus dem Jahre 713. Dabei hätte der Teil des Vertrages, in dem davon abgesehen wird, christliche Kirchen abzubren­nen, jeden Leser stutzig machen müssen. Wenn selbst in der Hauptstadt Córdoba Neuankömmlinge und bisherige Bewohner sich mehr als 60 Jahre nach der ‚Invasion‘ die Kirche San Vicente geteilt haben, wie die Überliefe­rung meint, dann konnte die Gefahr von Kirchenverbrennungen nicht allzu groß sein.

Skeptisch gegenüber dem Vertragstext ist Ignacio Olagüe. Olagüe meint, dass der Hinweis auf die Hidschra des Propheten wohl nur mit der Redak­tion des Textes im 12. Jahrhundert zu erklären sei, denn im 8. Jahrhundert sei die Biographie des Propheten in Andalusien noch unbekannt gewesen.17 Olaguë ist insofern Recht zu geben, als man damals mit ziemlicher Sicher­heit noch nichts von einer Auswanderung Mohammeds von Mekka nach Medina gewusst hat. Man zählte die Jahre „nach den Arabern“, zum ersten Mal erwähnt in einer Inschrift von Mu’awiya in Gadara. Das Jahr der Ara­ber aber war der Sieg der byzantinischen Kaisers Herkleios über den Perserkö­nig Chosrau II., der mit Hilfe christlich-arabischer Truppen errun­gen wurde. Mit diesem Sieg und dem Rückzug der Byzantiner aus dem Vorde­ren und Mittleren Orient begann die Selbstherrschaft der Araber.18 Dass „Hidschra“ zur damaligen Zeit die Auswanderung eines Propheten von Mekka nach Medina hätte meinen können, ist auch schon deshalb ganz und gar unwahrscheinlich, weil der gleiche Terminus zur Omaiyadenzeit für alle Umzüge von Arabern an irgendwelche Militärstützpunkte verwendet wurde.19

Es war auch vollkommen unüblich, außer dem Jahr noch den Terminus „Hidschra“ anzuführen. Hierbei kann es sich in der Tat nur um eine später geschriebene Angabe handeln.

 

Der Text der Urkunde insgesamt kann angesichts der gewaltigen zeitli­chen Differenz zwischen angegebenem Datum und überliefertem Zeugnis nicht als Originaldokument akzeptiert werden, sondern er hat als literari­scher Text zu gelten. Und so verwundert es auch nicht, dass er getreu dem Modell der auch sonst in der arabischen Traditionsliteratur gängigen literari­schen Modelle für Urkunden gefertigt ist. Nach der Basmala folgt die formelhafte Verknüpfung von Vertragsgewährer und Empfänger, dann die ebenso formelhafte Überleitung von der Sicherheitsgarantie zu den Be-dingun­gen. Dazu gehört in der Regel die Festsetzung der Abgaben, die Ver-pflichtung, den Muslimen gegen ihre Feinde beizustehen, die Bezeu­gung. Die Datierung erfolgt regelmäßig ohne besonderen Hinweis auf die Hidsch-ra. Schließlich werden die Zeugen des Vertrags namentlich erwähnt.20

Folglich weicht dieser Vertrag nur dank der expliziten Erwähnung der Hidschra von dem bei Noth geschilderten literarischen Modell ab. Solchen literarischen Modellen folgen aber die arabischen Geschichtserzählungen insgesamt.

2.2. Arabische Geschichtsschreibung: Märchenerzählungen?

Die älteste Schilderung der Eroberung von Nordafrika und Spanien in arabi­scher Sprache verdanken wir Ibn Abd al-Hakam, einem Ägypter, der sie um die Mitte des 9. Jahrhunderts geschrieben haben soll. Aus welchem Jahrhundert der früheste Textbeleg stammt, wurde nicht erforscht. Seit der bedeutende niederländische Arabist Piet Reinhart Dozy über diese Ge­schichte schrieb, sie habe gewiss keinen größeren Wahrheitsgehalt als die Märchen aus Tausendundeiner Nacht, gilt sie als wenig zuverlässig.21 Gleich­wohl stimmt al-Hakams Erzählung ihrer groben Tendenz nach mit allen späteren arabischen Erzählungen, gegenüber denen er keine ähnlich abwertende Kritik vorgetragen hat, überein, inklusive der verwendeten orientali­schen Anekdoten und Topoi.

Diese arabischen Erzählungen bilden bis heute, teilweise ergänzt durch Be­richte der lateinischen Chronik von 754 oder späterer Kompilationen, die Ba­sis und das Gerüst der spanischen Geschichtsschreibung. Die spätere Sicht auf die Ereignisse führt zu einer ideologischen Fixierung auf die soge­nannte Invasion von 711 als einer radikalen Epochenwende. Die gesamte Vorgeschichte wird in eine Art abgeschlossene Kiste mit der Aufschrift „christli­ches Westgotenreich“ gepackt, die Ereignisse ab 711 unter der Rub­rik „arabisch-muslimische Herrschaft“ verhandelt, gerade so, als handele es sich um jeweils in sich homogene Zeiträume, eine Praxis, die bis heute weit­hin alles Reden über den Islam in Spanien auszeichnet. Man tut so, als sei der Islam, den wir heute kennen, die gleiche Religion wie die eines Abd al-Malik, wie die der ibaditischen Berber oder die des 8. Jahrhunderts in Al-Andalus. Die Selbstverständlichkeit, mit der heute von einer islamischen Herrschaft in Spanien über 8 Jahrhunderte hinweg gesprochen wird, hat mit Ge­schichte nichts, mit Propaganda aber viel zu tun.

Um eine „saubere“ Epochentrennung plausibel zu machen, berichten arabi­sche wie lateinische Geschichtserzählungen davon, dass die Christen, soweit sie nicht getötet wurden, die Städte verlassen hätten und „in die Berge“ geflohen seien. Plausibel wird durch diese Erzählungen aber rein gar nichts. Nichts ist unwahrscheinlicher als eine Flucht der gesamten Bevölke­rung von Córdoba, Granada, Sevilla oder Mérida in die asturischen Pyre­näen oder auch nach Galizien.

Die „tabula rasa“-These erlaubt es, alle späteren Entwicklungen als Ergeb­nisse der arabisch-islamischen Herrschaft darzustellen. Für eine sol­che Umdeutung liefern auch einige spanische Archäologen erstaunliche Beispiele. Sie möchten Gebäude und Dekorationen, die Übereinstimmun­gen mit entsprechenden Architekturprinzipien und Gestaltungsmustern östlicher Omaiyaden-Paläste aufweisen, unbedingt als Ergebnis islamischer Einflüsse hinstellen, selbst wenn sie nach bisher einhelliger Auffassung aus westgotischer Zeit stammen. Übereinstimmungen mit eindeutig spätrömi­schen, byzantinischen oder westgotischen Funden werden bewusst umgedeu­tet. Damit nehmen sie in Kauf, dass etwa ein Bodenmosaik, das bislang aufgrund entsprechender Münzfunde mit guten Argumenten dem 4. oder 5. Jahrhundert zugerechnet wurde, dem 9. Jahrhundert zugerechnet werden muss, obwohl diese Zurechnung zugleich bedeutet, dass die älteste Ausgrabungsschicht die jüngste sein müsste.22 Ebenfalls nehmen sie in Kauf, dass man unter der Voraussetzung ihrer Zurechnung von Kirchen zum 9. Jahrhundert Widmungstafeln mit früherer Indikation ohne weitere Argu­mente als Fälschung ansehen, ja, die kirchliche Bautätigkeit während der letzten beiden Jahrhunderte westgotischer Herrschaft schlicht leugnen muss.23 Dabei stellt sich gar nicht Frage, ob die archäologischen Befunde entweder auf spätantik-byzantinische Traditionen oder auf omaiyadische Einflüsse verweisen. Auch die Omaiyaden stehen kulturell in vielfacher Konti­nuitätsbeziehung zu Byzanz. Byzantinisches wird auch über Omaiya­den weiter vermittelt. Noch im 10. Jahrhundert werden beim Ausbau der Mezquita von Córdoba byzantinische Mosaikspezialisten, die im Übrigen auch das Arbeitsmaterial mitbringen, die Cordobeser Arbeiter anleiten24.

Entgegen einer bis heute vorherrschenden, ost-westliche Kontinuitäten ebenso wie Wandlungen in der Geschichte verdeckenden Darstellung der Eroberung Spaniens und der Araberherrschaft soll es hier darum gehen, gerade solche Kontinuitäten und Veränderungen sichtbar zu machen. Dazu muss aber zuallererst die mangelnde Plausibilität der traditionellen Invasionser­zählung dargestellt werden.

 

Eine umfassende und gründliche Kritik an der traditionellen Erzählung der Ereignisse hat bislang nur Ignacio Olagüe vorgelegt25. Olagüe zeigt: schon die militärische Seite der Unternehmung ist nicht nachvollziehbar. Dafür liefert er eine Fülle von Argumenten, die nicht zuletzt von französi­schen Militärs mit Erfahrungen in Nordafrika und im Vorderen Orient beige­steuert worden sind. Aber die Eroberungserzählung ist, so Olagüe, insgesamt völlig unglaubwürdig. Sie behaupte nämlich, dass Spanien von Leuten erobert und arabisiert worden sei, die nicht Arabisch sprachen, denn die Bewohner des Maghreb hatten noch keine Zeit gehabt, diese Sprache zu erlernen. Ebenso absurd sei die Vorstellung, Spanien sei islamisiert worden von Leuten, die aus den gleichen Gründen den Koran nicht kennen konn­ten.26 In Wirklichkeit sei aufgrund von klimatischen Veränderungen und religiöser Opposition zur byzantinischen Orthodoxie eine Revolution in Nordafrika und Spanien ausgebrochen, die sich an der damals erfolgreichs­ten neuen Lehre, dem Islam, entzündet habe. Die Abwendung vom byzanti­nisch-römischen Christentum zugunsten des Islam sei durch die Nähe des in Spanien immer noch lebendigen Arianismus zur Lehre des Propheten Mohammed vorbereitet worden.

Olagües Kritik ist in der Geschichtsschreibung kaum rezipiert worden. Da­für findet sie begreiflicherweise in islamischen Kreisen viel Interesse und Anerkennung, vor allem, weil sie die Vorstellung von einem aggressiv erobern­den Islam zurückzuweisen hilft. Inzwischen gibt es sogar eine arabi­sche Zusammenfassung von Ismail al-Amin, der das Buch zugleich „von den Irrtümern der Orientalisten“ gereinigt haben will, was immer das hei­ßen mag.27

Olagües Einwänden gegen die traditionellen Erzählungen kann ich mich nur sehr teilweise anschließen. Seine Kritik an der Idee, die aus der Wüste herandrängenden Nomaden hätten im Handumdrehen ein Weltreich errich­ten können, ist gewiss einleuchtend. Allerdings wird sie weitgehend gegenstandslos, wenn man neueren Forschungen folgt, die den Ausgangs­punkt dieser Eroberungsbewegungen im syrisch-persischen Raum, eben nicht in der Wüste des Hejaz verorten. Ich meine insbesondere die Studien von Volker Popp.28 Auch wird zwar zu Tariqs Heer erzählt, es habe außer aus Berbern aus Angehörigen aller möglichen Nationalitäten bestanden, am wenigsten aus Arabern, aber der von Olagüe ignorierte arabische Gouver­neur von Ifriquiya soll durchaus auch mit Arabern nach Spanien gekommen sein.

Allerdings teile ich Olagües Einschätzung, dass man die Ereignisse in Spa­nien nicht verstehen kann, ohne die kulturellen und religiösen Entwicklun­gen im Mittelmeerraum und im Orient seit der Spätantike zu beachten. Doch auch hier ist weiter zu differenzieren. Sein Versuch, christli­che Kirchen wie Santa Maria de Quintanilla de la Viñas arianisch zu interpretie­ren29, obwohl es für eine Anbindung an byzantinische Traditio­nen reichlich Argumente gibt, ist nicht überzeugend. Auch die Meinung, es hätten gar keine Araber an den Umwälzungen zu Beginn des 8. Jahrhun­derts teilgenommen, ist nicht zu akzeptieren. Wenn er meint, der arabische Eroberer Musa ben Nusayr sei wahrscheinlich ein Fabelwesen30, übersieht er die in seinem Namen geprägten Münzen in Nordafrika, die das staatsreligi­öse Symbol des Omaiyaden-Herrschers Abd al-Malik tragen. Seine Mei­nung, die Revolutionäre in Spanien hätten mit der Berufung auf Damaskus eine möglichst mysteriöse Anbindung konstruieren wollen,31 ist damit eben­falls hinfällig. Allerdings trifft es zu, dass es erst ab 9. Jahrhundert zu religionsgeschichtlich schweren Verwerfungen kommt, als der Druck auf die Christen zunimmt, der Islam sich als Konkurrenzreligion zum Christen­tum geriert und er umgekehrt von orthodoxen Christen im Gefolge byzanti­nisch-syrischer Mohammed-Kritik als Verkörperung der apokalyptischen Bestie im Sinne der Daniel-Apokalypse verstanden wird. Zugleich verschär­fen sich die auch schon im 9. Jahrhundert zu beobachtenden Konflikte zwi­schen einer sich allmählichen verfestigenden islamischen Orthodoxie und den christlich-griechisch-iranisch geprägten heterodoxen Strömungen.

Meine Auseinandersetzung mit der Geschichte bis zu dieser Umkehr der Verhältnisse soll die Notwendigkeit einer Neubewertung der Geschichte der Er­oberung Spaniens durch die Araber anhand einiger historiographischer Beispiele begründen. Für diese Untersuchung greife ich zunächst zurück auf die Habilitationsschrift von Albrecht Noth „Quellenkritische Studien zu Themen, Formen und Tendenzen frühislamischer Geschichtsschreibung“.32 Noths Schrift ist in der spanischen Historiographie bis heute nicht rezipiert worden.

Gleichwohl lässt sich immerhin eine Entwicklung hin zu einem distanzierte­ren Umgang mit den arabischen Quellen beobachten.

 

 

3. Ausgewählte Beispiele spanischer Historiographie

3.1. Die „arabische“ Sichtweise

In Band IV der monumentalen „Historia de España“ von Ramón Menén­dez Pidal, der der „España musulmana hasta la caída del califato de Córdoba (711-1031 de J. C.)“ gewidmet ist, kommt mit Évariste Lévi-Provençal ein herausragender Arabist und einer der besten Kenner der arabischen Schrif­ten über Spanien zu Wort. Er weist schon darauf hin, dass zumindest die Figur des letzten Gotenkönigs Roderich Gegenstand romanesk anmutender Berichte der Araber geworden sei. Er hält solche Legenden also nicht für sehr vertrauenswürdig, aber er erzählt sie dann doch weitgehend nach, weil er zugleich davon überzeugt ist, dass sie einen wahren, wenn auch verborge­nen Hintergrund hätten.33 Das sagt ihm einfach sein Gefühl.

Zu den allzu legendenhaften Ausschmückungen zählt er etwa die schon bei al-Hakam belegte Geschichte vom Aufbrechen eines verschlossenen Raums im Königspalast von Toledo, in dem man eine Darstellung von Ara­bern, begleitet von einer schriftlichen Erläuterung, gefunden haben soll. Die Erläuterung besagte, dass in dem Augenblick, in dem Roderich die hier darge­stellten Araber erblicke, sie sein Land beträten. Eine weitere Erzäh­lung, die dem Autor allzu romanesk erscheint, behandelt die Verführung bzw. Vergewaltigung der Tochter des Grafen Julián durch den König. Zur Strafe habe Julián dann den Arabern den Weg nach Spanien geöffnet. Das sei ganz offensichtlich eine romanhafte Anekdote.

Andererseits meint er, auch diese Erzählung könne man nicht einfach über­gehen und nimmt sie folglich in seine eigene Darstellung auf.34 Noch weniger Skrupel bei der Nutzung arabischer Quellen hat er bei deren Berich­ten über die Araber. So stützt er sich auf arabische Quellen, um das Zögern des Kalifen al-Walid vor seiner Genehmigung der Invasion zu erläu­tern und zitiert sogar wörtlich aus einer Jahrhunderte später geschriebenen Quelle dessen Warnung, man dürfe die Muslime nicht den Gefahren eines wegen seiner Stürme gefährlichen Meeres aussetzen. Auch bei weiteren Detail­schilderungen folgt er unbesehen der arabischen Traditionserzählung, ohne viele Fragen zu stellen. So wundert er sich etwa nicht, dass der Heerfüh­rer Tariq nur vier Boote zur Verfügung hatte, um seine 7000 bzw. 12000 Mann überzusetzen, und dass dieses Manöver auf spanischer Seite nicht bemerkt wurde. Er wendet lediglich ein, Tariq habe wahrscheinlich sehr viel stärkere Truppen zur Verfügung gehabt. Ihre Zahl sei von den arabi­schen Autoren nur deshalb relativ niedrig angesetzt worden, um die kriegerische Leistung der Muslime deutlicher hervortreten zu lassen. Umso problematischer wäre dann die Beschränkung auf vier Boote gewesen.

Auch wundert er sich nicht darüber, dass nur sehr wenige Araber bei Ta­riq gewesen seien. Das Gros seines Heeres habe aus Berbern und frei-gelasse­nen Gefangenen aller Nationalitäten bestanden. Die von den Ber­bern bewohnten Gebiete Nordafrikas seien aber erst wenige Jahre zuvor erobert worden. Sie konnten also weder durchgängig arabisiert noch islami­siert sein. Dennoch spricht der Autor wie selbstverständlich davon, dass „armas musulmanes“ König Roderich besiegt hätten.

Der hatte angeblich kurz zuvor bei Pamplona im Norden Spaniens ge­gen fränkische Truppen gekämpft. Bei der Niederlage gegen die Muslime hätten, arabischen Quellen zufolge, Anhänger oder Brüder von Akhila, ei­nem Sohn des früheren Gotenkönigs Witiza, eine entscheidende Rolle ge­spielt. Sie hätten nämlich in verräterischer Absicht die beiden Flügel des Gotenheeres befehligt, um dann beim Angriff der Araber die Flucht anzu-tre­ten und ihren König untergehen zu lassen.35

Immerhin weist unser Autor stets darauf hin, dass er jeweils bestimmten arabischen Chronisten folge und es eben deren Schilderungen seien, die er wiedergebe.

 

3.2. Jenseits der arabischen Legenden? ‚Modernere‘ Ansätze

Neuere Autoren sind einerseits etwas zurückhaltender, was die Nutzung arabischer Quellen angeht, und sie greifen gerne auch auf lateinische Texte zurück, sie sind aber andererseits von weniger Zweifeln an der Verlässlich­keit ihrer Quellen geplagt, etwa Juan Abellán Pérez in dem Kapitel „La pérdida de Hispania y formación de al-Andalus“ aus der von Álvarez Palen­zuela herausgegebenen „Historia de España de la edad media“. Auch bei ihm erscheint Julián als verräterischer Kollaborateur, und auch bei ihm ist regelmäßig von den „musulmanes“ die Rede, wenn von der Invasion gespro­chen wird, obwohl er selbst meint, dass die Zahl der an der Invasion beteiligten Araber nur symbolisch habe sein können. Die zuvor als roma­nesk qualifizierten möglichen Motive für den Verrat don Juliáns werden hier aber erst gar nicht erwähnt, sondern es wird nur über dessen politische und wirtschaftliche Interessenlage spekuliert, wie es eben „modernerer“ Geschichtsschreibung eher entspricht. Das Übersetzen der Muslime in nur vier Booten scheint unserem offenbar um solche moderne Rationalität bemüh­ten Autor allerdings sehr suspekt. Aber dann beendet er seine zweif-leri­schen Überlegungen doch auch energisch mit der Feststellung, sie seien, auf welche Weise auch immer, jedenfalls Anfang Juni 711 auf spani­schem Boden angekommen. König Roderich kämpft nach dieser Darstel­lung zur Zeit der Invasion, anders als bei dem vorher zitierten Autor, nicht gegen die Franken, sondern gegen die Basken. In tendenzieller Übereinstim­mung mit Lévi-Provençal wird aber auch hier behauptet, dass Söhne Witi­zas die beiden Flügel des Gotenheeres befehligt und dann ihren König verra­ten hätten, und es wird nun sogar eine Begründung für den Verrat aus einer arabischen Quelle des 11. Jahrhunderts, dem Ajbar Machmuâ, nachgelie­fert. Danach sollen die Söhne Witizas mit Tariq ausgehandelt ha­ben, dass sie wieder in den Genuss des Feudalbesitzes ihres Vaters kämen, wenn sie mit ihm kooperierten.36 Auch für eine Absprache zwischen Julián und Tariq zitiert der Autor aus einer späten Quelle, der Chronik 1344, ge­rade so, als habe man im 14. Jahrhundert ein Gespräch vom Beginn des 8. Jahrhunderts getreu wiedergeben können. Ähnliches gilt für seine Schilde­rung der Eroberung Córdobas, für die er sich auf die angeblich präzise und minuziöse Darstellung von Rodrigo Jiménez de Rada aus der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts stützt, der seinerseits arabische Geschichtserzählungen weiter ausgemalt hat. Danach soll ein gefangen genommener Hirte den Erobe­rer Mogeyt auf eine Lücke in der Stadtmauer aufmerksam gemacht haben, durch die man unbemerkt in der Nacht in die Stadt eindringen konnte.37

Im Vergleich zu Lévi-Provençal lässt Abellán Pérez also zwar konse­quent alle Berichte aus, die allzu romanesk wirken, aber andererseits äußert er keine grundsätzlichen Bedenken gegenüber der Verlässlichkeit arabischer und spanisch-christlicher Quellen, sondern zitiert selbst aus Texten, die viele Jahrhunderte nach den Ereignissen entstanden sind, ohne ihren Wert auch nur im geringsten anzuzweifeln. Beide Autoren erwähnen im übrigen nicht, dass es zur Existenz Juliáns und Tariqs keine unabhängigen Belege gibt. Durch Münzen bestätigt ist lediglich die Existenz der Gotenkönige, der Omaiyaden-Kalifen sowie des Statthalters von Ifriquiya, Musa ben Nusayr.

 

3.3. Skepsis und blindes Vertrauen

Trotz beharrlichen Ignorierens der Argumente Olagües in der Geschichts-schrei­bung scheint seine nicht unbegründete Skepsis gegenüber der traditi-onellen Erzählung gewisse Spuren hinterlassen zu haben, wenn sie auch nicht zu einem konsequenten Umdenken auf breiterer Front geführt hat. So hält Pedro Chalmeta, der als einer der führenden Arabisten Spaniens gilt, eine militärische Invasion und Besatzung schon angesichts der Zahlenver­hältnisse für wenig plausibel. Er plädiert für eine Erklärung der Ereignisse als eine Art Unterwerfung, als Anerkennung der hegemonialen Macht der angreifenden Araber.38 In seiner Studie zur Invasion und Islamisie­rung Spaniens stützt er sich im übrigen auf neuere Ergebnisse der orienta-listischen Forschung, um Zweifel an der Verlässlichkeit von Informatio­nen arabischer Chronisten nicht nur an ihren immanenten Wider­sprüchen, son-dern an ihrer Grundhaltung festzumachen, die nach Fred Donner und Albrecht Noth in deren Interesse begründet ist, be­stimmte Ereignisse mit bestimmten Personen oder Gruppen zu verknüpfen, um deren Position und Einfluss zu stärken.39 Chalmeta meint dann aber erstaunlicherweise, er müsse nur die Angaben zu den handelnden Personen ausblenden. Ansonsten könne man angesichts der weitgehenden Übereinstim­mung zwischen den Berichten auf die arabischen Chroniken vertrauen.40 Alle weiteren u.a. von Noth beschriebenen literarischen Topoi arabischer Geschichtserzählungen werden von Chalmeta ignoriert. Gradmes­ser für die Verlässlichkeit der arabischen Berichte soll nun einfach ihr Maß an Über-einstimmung sein. Bei widersprüchlichen Aussagen läuft diese Prüfung dann schlicht darauf hinaus, einer Quelle mehr Glaubwürdig­keit als einer anderen zuzusprechen, ohne für die Entscheidung unabhän­gige Beweis-mittel anführen zu können. Wenn Zitate einzelner, auch lateini­scher Auto-ren als besonders interessant zitiert werden, liegt die Begründung für ihre besondere Wertschätzung meist in ihrem Reichtum an Details. Des­halb kommt neben den Arabern und der Chronik 754 öfter auch der bereits erwähnte Jiménez de Rada zu Wort, dessen Geschichte Spaniens und der Araber aus dem 13. Jahrhhundert stammt. Es gilt dann schließlich alles als historisch, was einen seiner Meinung nach nicht allzu legendenhaften Charak­ter offenbart, ohne Rücksicht auf die chronologische Nähe der jeweili­gen Quelle zu den berichteten Ereignissen. So beruft er sich für die Schilderung eines erfolgreichen Überfalls der spanischen Küste durch Tariq, ohne zu zögern, auf die prächtige Erzählung eines al-Haza’ini, obwohl die nur aus der Kompilation von al-Maqqari, also aus dem frühen 17. Jahrhun­dert bekannt ist. Auch sonst folgt er den meisten arabischen Erzählungen bis in die Details hinein. Dazu gehört natürlich die erste Expedition unter Tarif nach Tarifa, die Betonung des unabhängigen Handelns von Tariq, nach dem auch Gibraltar benannt sei (¹abal Tariq), das Ausbleiben goti­schen Widerstands, die alles entscheidende einzige große Schlacht, die am rio Barbate, nach anderen Autoren am rio Guadalete stattgefunden haben soll; dazu gehören ferner die Geschichten vom Hirten, der den Invasoren einen Weg durch einen Riss in der Stadtmauern von Córdoba weist41, die Erzählungen vom Kollaborateur Julián42, vom Kommando über die beiden Flügel des westgotischen Heeres der auf Verrat sinnenden Witiza-Anhänger – nicht der Söhne Witizas, die zu jung gewesen seien – usw.43. Selbst der Fund des reich verzierten Tisches von König Salomon ist für Chalmeta nicht ganz aus der Luft gegriffen44. Als unhistorische Legenden bleiben so, ähnlich wie bei Lévi-Provençal, nur Geschichten übrig wie die vom ver-schlosse­nen Zimmer im Königspalast und der Weissagung über die An­kunft der Araber.

Auch die Schilderungen zu Musa ben Nusayr folgen getreu den arabi­schen Erzählungen. Danach ist Musa erzürnt über die Eigenmächtigkeit von Ta­riq und plant nun seinerseits eine Eroberung in geordneten Bahnen, wes­halb er sich zunächst ausführlich mit den edelsten Arabern berät. Denn bei ihm tauchen nun auch Angehörige des Stammes des Propheten, der Qu­rayšies, auf,45 und bevor er selbst an den Hof des Kalifen reist, schickt er, um seine Erfolge mitzuteilen, den ehemaligen Sklaven Mogeyt zusammen mit einem al-Lahmi nach Damaskus. Ihm selbst droht dort die Todesstrafe, weil er einen großen Teil der dem Staat zustehenden Beute unterschlagen habe. Er kommt aber am Ende mit einer Geldstrafe davon46, wobei nach den arabi­schen Quellen nicht zu entscheiden ist, ob er von al-Walid oder dessen Nachfolger Suleyman bestraft wurde usw. usw.

 

3.4. Topoi arabischer Geschichtserzählungen

Zweifel in die Zuverlässigkeit der von Chalmeta benutzten Berichte sind nicht allein wegen deren zeitlicher Distanz und der vielen Widersprüche angebracht. Wie Chalmeta in den zuvor referierten Ausführungen zur Ero-be­rung Spaniens bemerkt, kann man nach den Untersuchungen von Donner und Noth nicht von einem originären Interesse an wahrheitsgemä­ßer, faktengerechter Darstellung ausgehen, jedenfalls dann nicht, wenn es um Namen von Personen und Stämmen geht.

Nimmt man diesen Einwand ernst, muss man aber, anders als Chalmeta und alle anderen spanischen Historiker, selbst hinter die Existenz der Figur Tariqs ein Fragezeichen setzen. Schließlich gibt es für sie keine unabhängi­gen Zeugnisse, etwa Inschriften oder Münzen mit seinem Namen. Die geogra­phische Bezeichnung ‚Gibraltar‘ liefert jedenfalls keinen schlüssigen Be­leg für Tariqs Existenz, sondern lässt vielmehr an die in arabischen Erzählun­gen beliebten Erklärungen von Ortsnamen durch Eigennamen denken. Noth hat Beispiele dafür geliefert, dass Ortsnamen mittels der Erfin­dung von Personen, die an diesem Ort gewesen sein sollen, nachträg­lich erklärt werden. Tariq ist im übrigen ein „sprechender“ Name, d. h. er verweist auf den „Weg“. „Tariq“ kann so auf eine ganz andere Weise in Zusam­menhang mit arabischen Münzinschriften aus Tanger gebracht wer­den, welche die „sabil Allah“-Formel aufweisen, als die spanische Numisma­tik im Gefolge von Walker meint, der sie ganz selbstverständlich als Dschi­jad-Münzen gedeutet hat.47 Nicht zuletzt dank der Dissertation von Gerd-R. Puin wissen wir, dass diese Formel in den mekkanischen Suren keinerlei kriegerische Bedeutung hat und der neutestamentlichen Formel vom Weg Gottes entspricht.48

Ein weiteres Beispiel für die mögliche Erklärung von Ortsnamen durch Ei­gennamen liefert etwa auch die Geschichte von Tarifs Expedition an die spanische Küste, wo Tarifa nach ihm benannt sein soll, während es mög-licher­weise zuerst den Ort und dann die Erfindung einer ihn erklären­den Figur gegeben hat.49

Eine Erklärung ganz anderer Art kann man für den von Chalmeta erwähn­ten al-Lahmi beibringen, der als Bote nach Damaskus gesandt wor­den sein soll. Al-Lahmi, ein Name, der z.B. in Ajbar Majmuâ häufiger und stets mit positiver Konnotation vorkommt, bezeichnete die christlich-arabi­sche Dynastie von Hira.50 Ich werde darauf bei den Erläuterungen zu Ajbar Machmuâ näher eingehen.

Folgt man Donner und Noth, so sind freilich nicht allein die Namen von Personen und Gruppen dubios. Dubios ist der Informationswert der frühen arabischen Quellen insgesamt. Sie haben in aller Regel kein oder sehr wenig Interesse an der Chronologie gezeigt. Datierungen unter Nennung der Hidschra sind alle deutlich später nachgeliefert worden, auch Kausal-verknüp­fungen und sogar die Rolle von Recht und Verwaltung wur­den offenbar als sekundär angesehen.51 Schließlich sind diese Erzählungen durch eine Fülle literarischer Topoi gekennzeichnet.

Es dürfte inzwischen nicht mehr überraschen, wenn ich feststelle, dass sich viele dieser Topoi auch in den arabischen Erzählungen über die Erobe­rung Spaniens wiederfinden. Nahezu alle zuvor erwähnten Ausführungen der spanischen Geschichtsschreibung beinhalten die von Noth erforschten orientalischen Topoi und Anekdoten.

Ein Topos scheint etwa das in allen Berichten erwähnte Zögern Musas bzw. des Kalifen vor der Invasion zu sein. Das sorgenvolle Zögern und Warnun­gen vor allzu stürmischem Vordringen werden besonders dann hervorgehoben, wenn zum Zwecke der Invasion Wasser überquert werden muss. Für solche Sorgen liefern insbesondere die Schilderungen des Aus­baus von Fustat, für die Gründung von Kufa oder für die Ansiedlung in Giza in den arabischen Geschichtserzählungen sprechende Beispiele.52 Dass dann übereinstimmend immer nur vier Boote für die Überfahrt angegeben werden, was sie erheblich verzögert haben dürfte, könnte angesichts der Bedeutung der Vierzahl in früheren arabischen Eroberungsgeschichten auch das Wiederaufgreifen eines Topos sein.53 Ebenfalls ist die Unsicherheit über den Grad an Eigenmächtigkeit von Heerführern, hier etwa von Tariq, aus dieser Tradition geläufig. So handelte etwa, wie Noth nachgewiesen hat, der Eroberer Ägyptens nach manchen Quellen ganz eigenständig, nach ande­ren auf Befehl des Kalifen. Noth kann aber plausibel herleiten, dass nur der Bericht von der Eigenmächtigkeit des Heerführers mit den übrigen Informa­tionen zusammenpasst.54 Eine ähnliche Unsicherheit besteht auch hinsichtlich des Verhältnisses von Tariq zu seinem Vorgesetzten Musa bzw. zum Kalifen. Während bei den beiden zunächst referierten Historikern Ta­riq auf Befehl Musas handelt, der seinerseits wiederum die Zustimmung des Kalifen eingeholt haben soll55, hält Chalmeta aufgrund seiner Auswertung arabischer Quellen eine Bitte um Zustimmung al-Walids zur Invasion für wenig plausibel. Für ihn handelte Tariq eigenmächtig. Die Genehmigung durch Musa und den Kalifen hält er mit gut nachvollziehbaren Gründen für nachgeschoben.56 Die Planung der Eroberung nicht-islamischer Länder (fu­tuh) durch die zentrale Kalifatsgewalt ist einfach ein Topos der späteren Literatur.57

Bei der Schilderung der Truppenaufstellung durch König Roderich erwäh­nen alle hier angesprochenen Darstellungen, dass die beiden Flügel seines Heeres von Anhängern (bzw. Söhnen) Witizas befehligt worden seien. Auch hier könnte es sich insofern um eine Übernahme eines Topos aus der arabischen Tradition handeln, als auch dort gerne die Bedeutung des Kommandos über zwei Flügel eines Heeres hervorgehoben wird. Sie werden immer von wichtigen Persönlichkeiten kommandiert, auch wenn dabei Personen genannt werden, die man gar nicht kennen konnte und de­ren Fiktivität selbst den Tradenten bekannt war.58

Die Schlacht zwischen Tariq und Roderich wird allenthalben als die alles entscheidende Schlacht hingestellt. Das mag so gewesen sein, aber auch bei der Hervorhebung einer alles entscheidenden Schlacht, des Siegs der Siege, hat man zugleich auch wieder einen Topos der orientalischen Geschichts-erzäh­lung vor sich.59 Das gilt offensichtlich auch für die Erzählun­gen über die Eroberung von Städten. Hier mag das Beispiel der Eroberung Córdobas als besonders aufschlussreich gelten. Córdoba wird erobert, weil ein Hirte den Invasoren einen Riss in der Stadtmauer zeigt, durch den sie unbe-obachtet in die Stadt eindringen können. Ganz ähnliche Erzählungen gibt es zur Eroberung von Damaskus und Caesarea in Syrien, von Babilyun-Fustat und Alexandria in Ägypten oder zu Tustar in Khu­zistan.60

Zu deren Traditionen gehört nicht zuletzt auch die Bestrafung von Heerfüh­rern oder Gouverneuren, die durch finanzielle Unregelmäßigkeiten aufgefallen sind, meist durch Unterschlagung von Geldern, die dem Kalifen zustehen.61 In unserer Geschichte ist es Musa, dem die Unterschlagung ei­nes Teils der Beute vorgehalten wird, wobei schon die Unsicherheit darüber, welcher Kalif über Musa erzürnt gewesen sei, die mangelnde Verlässlichkeit dieser Information hinreichend deutlich offenlegt.

Schließlich gehört die seit Ibn Abd al-Hakam erzählte Geschichte von der Auffindung des Tisches von Salomon in oder bei Toledo zu den etwa auch von Chalmeta noch überlieferten orientalischen Anekdoten, wie sie schon bei dem byzantinischen Historiker bzw. Anekdotensammler Prokop im 6. Jahrhundert auftauchen.62

Das Vorkommen übereinstimmender Topoi in den Geschichtserzählun­gen des Ostens wie des Westens ist also ganz unbestreitbar. Aber was war der Grund für eine solche, die historischen Phänomene homogenisierende Geschichtskonzeption? Sie muss zentral gesteuert worden sein, also durch die abbasidischen Kalifen, und sie muss bestimmte Ziele verfolgt haben, d.h. es ging darum, ein Geschichtsbild durchzusetzen, das die Abbasiden ebenso wie ihre Religionspolitik ins rechte Licht setzte. Angesichts des Gewichts der re­ligiösen Komponente musste man nicht mehr und nicht weniger als eine neue Art biblischer Erzählung erfinden.

 

1 Gustavo de Arístegui, La Yihad en España. La obsesión por reconquistar Al-Andalus, Madrid 2005, 125-148.

2 http://unesdoc.unesco.org/images/0011/001144/114426eo.pdf

3 http:/islamuswest.org/pdfs_Islam_and_the_West/report.pdf

4 Verharmlosend zur Verfolgung von Averroës/Ibn Rushd und zum Verbot seiner Schriften äußert sich auch der „liberale“ Muslim Muhammad Kalisch, erster deutscher Professor für die Ausbildung von Islamlehrern: „Dieser Philosoph hat übrigens einen weitaus größeren Eindruck im christlichen Abendland als in der islamischen Welt hinterlassen.“ Muhammad Kalisch, Perspektiven islamischen Denkens in Europa, in: Thomas, Bauer, Lamya Kaddor und Bernd Mussinghoff (Hg.), Zukunft der Religion in Europa, Münster 2007, 24. Angesichts solcher Verharmlosungsbereitschaft wundert es nicht, dass er auch Andalusiens arabo-muslimischer Geschichte insgesamt das beste Zeugnis ausstellt: „In Andalusien gab es, wie oben erwähnt, eine blühende muslimische Kultur…“ (Ibid., 23).

5 Serafin Fanjul, Al-Andalus contra España. La forja del mito, Madrid 2000.

6 Ibid., XXI.

7 Ibid., 204.

8 So zuletzt der an der New York University lehrende Historiker und Pulitzer-Preis-Gewinner David Levering Lewis, God’s Crucible. Islam and the Making of Europe, 570-1215, London/New York 2008. Dieses Buch zeichnet sich ebenso durch weitestgehende Unkenntnis der historischen Fakten wie durch einen blinden antichristlichen Affekt und eine ebenso blinde Bewunderung für die Leistungen „der“ Muslime aus.

9 José Maria Ridao, Contra la Historia, Barcelona 2000.

10 Juan Goytisolo, La reivindicación del Conde Julián, Madrid 1999; id., Crónicas sarracinas, Barcelona 1982, 41-42.

11 Ignaz Goldziher, The Spanish Arabs and the East. The Place of the Spanish Arabs in the Evolution of Islam as Compared with the Eastern Arabs, published by the Hungarian Academy of Sciene, Budapest 1877; hier zitiert nach der Reprint-Ausgabe: Ignaz Goldziher, Gesammelte Schriften, hg. von Joseph Desomogyi, t. 1., Hildesheim, 1967, 414-418.

12 Art. Ibn Tumart, in: Handbuch des Islam, Leiden 1941, 191.

13 Claude Gilliot, Al-Dahabi contre la „pensée speculative“, in: ZDMG, 150/1, 2000. 60-70.

14 Ibid., 104-105.

15 Miguel Casiri, Bibliotheca arabico-hispana Escurialensis sive librorum omnium mss quos arabice ab auctoribus magnam partem arabo-hispanis compositos bibliotheca coenobii Escuralensis complectitur recensio et explanatio, 2 t., Madrid 1760-1770, II, 106. Ich verwende hier die Ausgabe von Francisco Javier Simonet, Historia de los mozárabes de España, t. IV, Apendices I, Madrid 1983, 797-798.

16 García Villada zählt sogar 5 arabische Chroniken auf, in denen der Vertrag erwähnt wird: Zacaría García Villada, Organización y fisionomía de la iglesia española desde la caída del imperio visigótico en 711 hasta la toma de Toledo en 1085, Madrid 1935, 31. Da aber keine dieser Chroniken früher als im 11. Jahrhundert bezeugt ist, garantiert auch die Mehrfacherwähnung keine Authentizität des Vertragstextes. Man schrieb auch damals schon voneinander ab, zumal dann, wenn der unmittelbare Zugang zum Geschehen durch eine Kluft von Jahrhunderten unmöglich war. Der meist zitierte arabische „Historiker“ ist im übrigen al-Maqqari, der das, was er für seine Informationen hielt, zu Beginn des 17. Jahrhunderts zusammengeschrieben hat.

17 Ignacio Olagüe, La revolución islámica en Occidente, Guadarrama 1974, 413-441.

18 Volker Popp, Die frühe Islamgeschichte nach inschriftlichen und numismatischen Zeugnissen, in: Karl-Heinz Ohlig/Gerd-R. Puin (Hg.), Die dunklen Anfänge. Neue Forschungen zur Entstehung und frühen Geschichte des Islam, Berlin 2006, 2. Aufl., 22-39; Id., Von Ugarit nach Sâmarrâ. Eine archäologische Reise auf den Spuren Ernst Herzfelds, in: Karl-Heinz Ohlig (Hg.), Der frühe Islam. Eine historisch-kritische Rekonstruktion anhand zeitgenössischer Quellen, Berlin 2007, 50-59.

19 Julius Wellhausen, Das arabische Reich und sein Sturz, Berlin 1960, 2. Aufl., 16-17.

20 Albrecht Noth, Quellenkritische Studien zu Themen, Formen und Techniken frühislamischer Geschichtsschreibung, Bonn 1973, 60 ff.

21 Piet Reinhart Dozy, Recherches sur l’histoire et la littérature des arabes d’Espagne pendant le Moyen Âge, 2 vol., Leiden 1881, t. 1., 36-38.

22 Luis Caballero Zoreda, La arquitectura denominada de época visigoda. Es realmente tardoromana o prerrománica?, in: L. Caballero Zoreda y P. Mateos Cruz (Hg.), Visigodos y omeyas. Un debate entre la antigüedad tardía y la alta edad media, Madrid 2000, 219-225, 336-337.

23 Bei diesem Einwand folge ich Achim Arbeiter, der zur Position von Caballero Zoreda u.a. kritisch die Fortdauer byzantinischer Einflüsse hervorgehoben hat. Achim Arbeiter, Alegato por la riqueza del inventario monumental hispanogodo, in: L. Caballero Zoreda.y P. Mateos Cruz (Hg.), op. cit. 249-265.

24 Juan Antonio Souto und Pedro Marfil, Primera mesa rotonda, in: L. Caballero Zoreda y P. Mateos Cruz (Hg.), op. cit., 171-172.

25 Ignacio Olagüe, op. cit.

26 Ibid., 16.

27 Ismail al-Amin, The Arabs did not conquer Spain. A Different Historical Perspective, London 1991.

28 Volker Popp, Die frühe Islamgeschichte, op. cit., 16-123; Id., Von Ugarit nach Sâmarrâ, op. cit., 13-222.

29 Ignacio Olagüe, op. cit., 198.

30 Ibid., 278.

31 Ibid., 38-39

32Albrecht Noth, op. cit.

33Evariste Lévi-Provençal, España musulmana hasta la caída del califato de Córdoba (711-1031 de J. C.), Historia de España, dir. por Ramón Menéndez Pidal, t. IV, Madrid 1987, 6.

34 Ibid., 9.

35 Ibid., 13-14.

36 Juan Abellán Pérez, La pérdida de Hispania y la formación de al-Andalus, in: Vicente Ángel Álvarez Palenzuela (coord.), Historia de España de la edad media, Barcelona 2007, 61-62.

37 Ibid., 63.

38 Pedro Chalmeta, Invasión y islamización. La sumisión de Hispania y la formación de al-Andalus, Madrid 1994, 112.

39 Fred Donner, The Early Islamic Conquest, Princeton 1981; Albrecht Noth, Futuh History and futuh Historiography, in: AQ, X (1989).

40 Pedro Chalmeta, op. cit., 110-111.

41 Ibid., 151.

42 Ibid., 118 ff.

43 Ibid., 139-140.

44 Ibid., 155-157.

45 Ibid., 169-171.

46 Ibid., 181-209.

47 John Walker, A Catalogue of the Arab-Byzantine and Post-Reform Umaiyad Coins, London 1956, 127.

48 Gerd-R. Puin, Der D?w?n von Umar Ibn Al-Hatt?b. Ein Beitrag zur frühislamischen Verwaltungsgeschichte, Bonn 1970, 43-49.

49 Albrecht Noth, Quellenkritische Studien…, op. cit., 169 ss.; Thomas F. Glick, Islamic and Christian Spain in the Early Middle Ages, Leiden-Boston 2005, second, revised edition, 20.

50 Volker Popp, Von Ugarit nach Sâmarrâ…, op. cit., 43-50.

51 Albrecht Noth, Quellenkritische Studien…, op. cit., 57.

52 Ibid., 24-25, 159.

53 Ibid., 177.

54 Ibid., 162 ff.

55Evariste Lévi-Provençal, op. cit., 11-13. 15; Juan Abellán Pérez, op. cit., 61, 64; Pedro Chalmeta, op. cit., 123 ff.

56 Pedro Chalmeta, op. cit., 123 ff.

57 Albrecht Noth, Quellenkritische Studien…, op. cit., 163-164.

58 Ibid., 102-103.

59 Ibid., 118 ssg; dass der Sieg über Roderich aus arabisch-omaiyadischer Sicht von großer Bedeutung gewesen ist, zeigt seine Darstellung zusammen mit anderen unterworfenen Königen auf einem Fresko in der Omaiyaden-Festung von ?Amr? aus den 740er Jahren; allerdings geht daraus nicht hervor, auf welche Weise der Sieg zustande gekommen ist: Jan M.F. van Reeth, La représentation du ciel et du Zodiaque dans le palais omayyade de ?Amr?, in: Acta Orientalia Belgica, 12, 1999, 137-150.

60 Albrecht Noth, op. cit., 24.

61 Ibid., 26.

62 Prokop, Vandalenkriege. Griechisch-deutsch, ed. Otto Veh, München 1971, 224-225 („Judenschatz“); id., Gotenkriege, Griechisch-deutsch, ed. Otto Veh, München 1966, 102-103 („Dazu gehörten auch die sehenswerten Geräte des Judenkönigs Salomon, die einst die Römer aus Jerusalem mitgenommen hatten“).