I. Zur Vor- und Frühgeschichte des Islam
Neue Forschungsergebnisse zu den Anfängen des Islam
Eine Einführung
Karl-Heinz Ohlig
Die mittlerweile recht zahlreichen und veröffentlichten Einzelstudien sowie die aus den Kontakten entstandenen Gespräche von Wissenschaftlern aus aller Welt und aus unterschiedlichen Disziplinen zur Frühzeit des Islam und zum Koran lassen sich noch nicht zu einem in allen Punkten gemeinsamen Konzept harmonisieren. Gemeinsam aber ist allen, dass die historisch-kritischen Methoden der Geschichtswissenschaften und exakte philologische und sprachwissenschaftliche Methoden angewendet werden. Aus diesen Untersuchungen scheinen sich einige Grundlinien immer deutlicher aufzeigen zu lassen, bei aller (noch) bleibenden Unsicherheit im Detail auf Grund der oft defektiven Quellenlage. Diese Linien will ich hier kurz vorstellen.
1. Konsens ist, dass der Koran keine belastbaren Anhaltspunkte bietet, die Entstehung der später Isl?m genannten Bewegung auf einen arabischen Propheten mit Namen Mu?ammed oder auch überhaupt auf Anfänge in Mekka und Medina oder auf der Arabischen Halbinsel zurückzuführen. Traditionell in diesem Sinn gedeutete koranische Passagen sind – innerkoranisch gedeutet – anders zu verstehen. Alle diesbezüglichen Aussagen finden sich erst in den Schriften der sogn. Traditionsliteratur des 9. und 10. Jahrhunderts, die einen Anfangsmythos entwerfen und – vergleichbar der apokryphen Evangelienliteratur und den apokryphen Apostelakten – ein großes Interesse an detaillierten Erzählungen haben und diese auch schaffen.
Dieses reichhaltige Material kann nicht zur Erklärung von Ereignissen, die zwei- bis dreihundert Jahre zurückliegen und für die es keinerlei Quellen gibt, herangezogen werden. Schon Ignaz Goldziher hat vor mehr als 100 Jahren vor einem solchen Vorgehen, das er „vorsintflutlich“ nannte, gewarnt.
Die aus der Not geborene Behauptung, es habe eine zuverlässige mündliche Tradition gegeben, die nach zwei- bis dreihundert Jahren noch Informationen über Ereignisse bieten könne, die so lange zurückliegen, ist schlichtweg naiv. Schon das vierzig Jahre nach dem Tod Jesu abgefasste Markusevangelium sowie die noch früheren Paulusbriefe werfen schwierige Fragen zum Historischen Jesus auf. Dies gilt umso mehr für Quellen wie die islamischen, die so weit von den Ereignissen entfernt sind. Dieses Problem wurde auch im Islam schon früh erkannt: Mittels der Konstruktion der Isn?dketten und zahlloser fiktiver Biogaphien für die behaupteten Gewährsmänner der Überlieferungen sollte die Zuverlässigkeit des Berichteten untermauert werden – ein nach historisch-kritischen Maßstäben gescheiterter Versuch.
2. Zeitgenössische und überprüfbare Quellen lassen – trotz ihrer Fragmentarität – Abläufe erkennen, die von den Erzählungen der Traditionsliteratur abweichen. Zu diesen Quellen sind zu zählen: die quantitativ beeindruckende zeitgenössische christliche Literatur, die im 7. und 8. Jahrhundert unter arabischer Herrschaft verfasst wurde, die Gestaltung von Münzen und Inschriften damaliger arabischer Herrscher, die religionsgeschichtlichen Kontexte und der Koran selbst. Nirgendwo ist in zeitgenössischen Quellen von einer Expansion arabischer und erst recht islamischer Gruppen von der Arabischen Halbinsel aus die Rede. Wohl aber lässt sich zeigen, dass nach den Siegen des byzantinischen Kaisers Heraklius über die Perser ab dem Jahr 622 und dem bald folgenden Zusammenbruch der sassanidischen Dynastie zunehmend arabische Stämme, die schon vorher Hilfstruppen gestellt hatten, die Herrschaft übernahmen.
Die christlichen Quellen berichten nicht von einer neuen Religion ihrer neuen Herren. Wenn sie – angesichts der Fülle dieser Literatur ganz selten und in wenigen Sätzen – auf deren Anschauungen eingehen, werden sie als christliche Variante (in der damaligen Sprache: Häresie) mit einer spezifischen Gottesauffassung und Christologie wahrgenommen: sie lehnen die Bini- bzw. Trinitätslehre und ein Gottsein Jesu ab.
Dies entspricht auch den koranischen Aussagen und der Gestaltung der Münzprägungen und Inschriften arabischer Herrscher. Diese weisen sie als Christen mit spezifischer Theologie und Christologie aus. Auch diese aber sind keine Neuschöpfungen der Araber, sondern führen in allen Details die Tradition eines vornizenischen syrischen und darüber hinaus persisch inkulturierten Christentums fort. In der Christologie werden, wie in der syrischen Tradition, die heilsgeschichtlichen Hoheitstitel Jesu benutzt (Jesus (??s? (bn Maryam)) ist Messias (mas??), Prophet (nab?), Gesandter (ras?l all?h), der Gepriesene (mu?ammad)) – im Unterschied zum griechischen Christentum mit seinem Interesse an naturalen Würdenamen Jesu (er ist inkarnierter Gottessohn) -. Von diesen heilsgeschichtlichen Titeln werden vor allem ras?l all?h und MHMT (ma?met, me?met oder arabisiert mu?ammad = der Gepriesene, der zu Preisende, lat. Benedictus) bevorzugt.
Das christologische Prädikat mu?ammad wurde, darauf weisen eine Münze aus dem Jahr 703 in Merw und die, wenn auch noch ungesicherten Aussagen des Johannes von Damaskus in der ersten Hälfte des 8. Jahrhunderts hin, mehr und mehr von seinem christologischen Bezug zu Jesus gelöst, isolierte sich und wurde zu einem arabischen Propheten dieses Namens historisiert und personalisiert – ein in der Religionsgeschichte nicht seltener Vorgang.
3. Es scheint so, dass in den letzten Jahrzehnten des 8. Jahrhunderts eine stärkere Distanzierung der arabisch-christlichen Herrscher von den übrigen Christentümern eingesetzt hat, wofür das Nachlassen der finanziellen Förderung der bis dahin auffallend intensiven christlichen Kloster- und Kirchenbauvorhaben ein Indiz sein kann.
Am Ende dieses Prozesses steht die Trennung vom Christentum und die Entstehung des Islam als einer neuen Religion, wahrscheinlich um das Jahr 800. Ihre genaueren Konturen in den Richtungen Schiismus und Sunnismus bildeten sich aber erst bis zum Ende des 9. und 10. Jahrhunderts aus, der Islam in seiner heutigen Gestalt wohl erst im 12. und 13. Jahrhundert.
4. Die koranische Bewegung ist älter als der Islam, der aus ihr hervorgegangen ist. Der Koran war, wie neuerdings selbst Angelika Neuwirth einräumt, ein spätantikes religiöses Dokument mit christlich-jüdischer Prägung, bevor es später zum Gründungsdokument des Islam wurde. Eine Rückführung auf judenchristliche Wurzeln ist aber falsch: der Koran vertritt ein frühes ostsyrisches, dem alttestamentlichen Gedankengut sehr nahes Christentum, das darüber hinaus starke Elemente persischer Inkulturation aufweist.
In den ersten neun Jahrhunderten n.Chr. ist der Vordere Orient von einer Fülle unterschiedlicher Religionen und religiöser Bewegungen geprägt. Auffallend ist damals der Drang zur Produktion heiliger Literatur, oft mit eigens entwickelten Alphabeten geschrieben. Christen, Juden, gnostische Richtungen, Mandäer, Manichäer, Zoroastrier schufen in dieser Zeit ihr kanonisches und deuterokanonisches Schrifttum.
In diesen Kontext gehört auch die schriftliche Dokumentation ihrer eigenen Konzepte seitens der koranischen Bewegung. Die Anfänge dieser Verschriftlichung reichen offensichtlich in die Zeit noch funktionierender Sassanidenherrschaft zurück. Wann sie abgeschlossen war, lässt sich noch nicht genau bestimmen. Wie die überlieferten Handschriften zeigen, war dies am Ende des 8. Jahrhunderts noch nicht der Fall; bezieht man die Plene-Schreibung des in einer scriptio defectiva vorliegenden Materials mit ein, ist frühestens das Ende des 9. Jahrhunderts anzunehmen. Es ist kurios, dass die Islamwissenschaft bisher keine nennenswerte Erforschung der frühen Koranhandschriften kennt noch den Abschluss der Koranschreibung aufzeigen kann, z.B. durch Verweis auf die frühesten Gesamtschriften, die in etwa den heute verbreiteten Textbestand bieten.
Die lange Entstehungszeit der koranischen Texte und Sammlung hat, wie nicht anders zu erwarten, zur Folge, dass sich im Koran ideologische Umbrüche und je neue theologische Schwerpunkte erkennen lassen (vgl. hierzu u. den Beitrag von Volker Popp).
5. Der Koran sieht seine Aufgabe, wie er immer wieder selbst formuliert, darin, die Schrift – Thora und Evangelium – zu bekräftigen und richtig zu interpretieren, an wenigen Stellen auch zu korrigieren. Seine Theologie ist die einer christlichen Sondergruppe, die später mit ?Abd al-Malik an die Macht kam.
Für die Frage nach der Region, in der er entstanden sein kann, bzw. nach dem Emergenzterrain des Islam (eine Formulierung von Geneviève Gobillot), sind viele Gesichtspunkte zu berücksichtigen:
5.1 Die Sprache des Koran ist ein frühes Arabisch, das eine starke Beeinflussung durch das Syro-Aramäische verrät, noch nicht das spätere Hocharabisch. Deswegen ist er auch für arabische Muttersprachler in Teilen unverständlich, und Übersetzungen bloß mit Mitteln des Arabischen führen in die Irre. Die dialektale Färbung seiner Entlehnungen weist auf seine Entstehung im ostsyrischen Raum hin. Dort scheint er mit syrischen Schriftzeichen aufgeschrieben und zur Zeit ?Abd al-Maliks und Al-Wal?ds in eine defektive arabische Schrift transskribiert worden zu sein. Hierfür verweise ich auf die publizierten Beiträge von Christoph Luxenberg.
Wie Robert Kerr in seinem unten stehenden Beitrag nachweist, widerlegen auch philologische und sprachwissenschaftliche Beobachtungen die These von einer Entstehung des Koran auf der Arabischen Halbinsel. Seine Sprache wie auch seine spätere arabische Verschriftung verweisen auf eine Verortung im syrischen Raum.
Darüber hinaus finden sich im Koran viele Begriffe und Motive aus der persischen Tradition, die Einlass in diese spezifische christliche Bewegung gefunden haben – wiederum ein Verweis auf den persischen Raum. Gerhard Endres arbeitet schon länger an Untersuchungen zum Einfluss des Hellenismus auf die arabische Sprache; zusammen mit Dimitri Gutas gibt er A Greek and Arabic Lexikon heraus, von dem sieben Faszikel des Werks mittlerweile erschienen sind. Die meisten griechischen Fremd- und Lehnwörter im Arabischen sind späterer Art, aber auch im Koran finden sich schon Einflüsse aus dem griechischen Sprachraum.
Bei der Frage nach dem Emergenzterrain des Koran ist also ein Raum zu suchen, in dem diese sprachlichen Eigentümlichkeiten verbreitet und für die Koranschreiber üblich und auch notwendig waren, wenn sie sich in ihren Gruppen verständlich machen wollten. Die Heimat der Koransprache ist im mesopotamischen Raum zu suchen; darüber hinaus aber kommen auch Regionen weit im Osten des Perserreichs in Frage, wohin in der Sassanidenzeit immer wieder Deportationen großer Bevölkerungsteile, selbst gelegentlich aus Westsyrien, stattfanden.
5.2 Der Koran legt seinen d?n, d.h. seine wahre Glaubensauffassung, seinen Weg und seine Ordnungen dar in einem – wie differenzierte exegetische Untersuchungen koranischer Texte zeigen – intensiven Bezug auf Altes und Neues Testament sowie apokryphe biblische Schriften. Darüber hinaus aber sind viele Vorstellungen, Motive und Begriffe aus anderen damaligen Religionen und religiösen Richtungen in ihm aufgegriffen und verwendet worden: gnostische, mandäische, manichäische Traditionen sowie Begriffe und Raster aus dem Zoroastrismus / Zurwanismus und auch Buddhismus. Er muss also in einer Umgebung entstanden sein, in der diese Religionen nicht nur bekannt waren, sondern zum unmittelbaren Kontext der Schreiber und Adressaten gehörten.
Diese fremdreligiösen Einflüsse führten allerdings im Koran nicht zu so grundlegenden ideologischen Veränderungen, dass der prinzipiell biblische Charakter der Sprüche und die ostsyrische Theologie außer Kraft gesetzt würden. Die unterschiedlichen Motive scheinen meist mehr positivistisch übernommen zu sein, ohne die ihnen ursprünglich zugrunde liegenden Konzepte, etwa einen buddhistischen Monismus oder einen gnostisch-persischen Dualismus. Diese finden sich in dem streng monotheistischen Koran nicht. Das bedeutet, dass seine Anfänge in einer Zeit zu suchen sind, in der das Christentum z.B. die Bedrohung durch einen prinzipiellen Dualismus schon überwunden und die gnostischen Richtungen zurückgedrängt, zugleich aber vieles von ihren Vorstellungen und von ihrem Motivmaterial übernommen hatte. So musste im Koran bei der Verwendung gnostischer Bilder und Motive der ursprünglich mit ihnen verbundene Dualismus nicht mehr bekämpft werden. Diese Situation war im Christentum des Ostens wohl spätestens im 6. Jahrhundert gegeben.
5.3 Über die biblischen Schriften und Apokryphen hinaus ist im Koran eine Fülle weiterer spätantiker Literatur verwendet worden. Ohne den Vergleich mit diesen Referenztexten sind viele koranische Thesen und Argumentationsmuster nicht zu verstehen. So hat Geneviève Gobillot den Einfluss von Porphyrios und des Corpus Hermeticum, von Tertullian, Laktanz, der Pseudoklementinen, des Alexanderromans usf. aufgezeigt, und sie wird diese Beobachtungen in ihrer im nächsten Sammelband erscheinenden bearbeiteten Version des auf dem letzten Symposion gehaltenen Vortrages noch ausweiten; auch andere, wie z.B. Volker Popp, weisen auf solche Referenzen hin: wiederum auf Tertullian oder den Alexanderroman. Und wenn das Projekt des Corpus Coranicum tatsächlich seine Zielsetzung realisieren sollte, werden bei diesen Arbeiten weitere Bezüge entdeckt werden.
Wenn aber die Koranschreiber in Diskussionen standen, in denen spätantike Literatur nicht nur ihnen, sondern offensichtlich auch ihren Zuhörern und Lesern vertraut war – was der Koran ausdrücklich voraussetzt -, so ergeben sich weitere Spezifika, die auf das mögliche Emergenzterrain des Koran hinweisen.
5.4 Alle diese genannten Prägungen machen es zwingend, dass der Koran in einem Raum entstanden ist, in dem diese Kontexte bestimmend waren. Negativ bedeutet das, dass ein nomadisches oder halbnomadisches Umfeld ausgeschlossen werden muss. Literarisch gebildete Nomaden gibt es in der Regel nicht, ihre Vorstellungen und Probleme sind ganz andere. Die Arabische Halbinsel, Mekka und Medina kommen also nicht in Frage, ebenso wenig ein Prophet, der laut Überlieferung Analphabet war. Der Koran kann nur in dynamischen urbanen Ballungsräumen entstanden sein, die im Osten des Persischen Reichs zu suchen sind.
Hier sind mehrere Regionen denkbar, aber nur eine, die alle festgestellten Voraussetzungen bietet: ein grundlegendes syrisch-aramäisches Christentum, das sich auch schon in das persische Denken inkulturiert hat; eine reale Verbreitung gnostischer, vor allem mandäischer und manichäischer Vorstellungen; einen starken Einfluss des Griechischen; die überraschend intensive Kenntnis spätantiker Literatur und auch eine Nähe zum Buddhismus.
Dieses ist die Region Margiana mit Merw als Mittelpunkt und bevölkerungsreicher Großstadt sowie die benachbarte Region Baktrien, lange Jahrhunderte ein stark hellenistisch geprägtes Reich und mit Merw in einer Verwaltungseinheit verbunden.
In diesem Großraum gab es noch lange relevante Gruppen von Zoroastriern – jedenfalls scheint hier noch im 9. Jahrhundert eine wichtige Schrift der Zarathustragläubigen, der D?nkard, entstanden zu sein, noch im 7. und 8. Jahrhundert ist eine Blüte buddhistischer Klöster bezeugt, und von hier aus ist wohl die abbasidische Bewegung ausgegangen. Al-Ma?m?n regierte zunächst von Merw aus, ehe er seinen Regierungssitz nach Bagdad verlegte. Noch in seiner Zeit, also um 800, wurden in Merw ein buddhistisches und zwei christliche Klöster gegründet. Ähnliche Kontexte finden sich auch im Süden, in der Persis, wo koranisches Material anscheinend schon sehr früh verbreitet war; aber nur in dem nördlichen Ballungsraum Merw sind alle Voraussetzungen gegeben, die der Koran für seine Eigenart zwingend nahe legt, vor allem die unbedingt zu berücksichtigende Kenntnis spätantiker Literatur.
Für Merw als Entstehungsort für die Anfänge der koranischen Traditionen finden sich auch weitere Indizien. Im Koran, Sure 2,158, wird von a?–?af? und al-Marwa als Pilgerstätten gesprochen. A?–?af?, syrisch „Fels“, könnte Jerusalem meinen, al-Marwa ist Merw. Hier hat sich wohl eine Reminiszenz an die Geschichte der koranischen Bewegung erhalten.
Wichtiger aber ist die Rolle ?Abd al-Maliks, der laut numismatischem Zeugnis, wie Volker Popp nachgewiesen hat, aus Merw stammt. Auf seinem Weg nach Westen, nach Jerusalem, ließ er datierte und lokalisierte Münzen prägen, die erstmals das Motto MHMT tragen, das auf bilingualen Münzen im Westen des Reichs mit arabisch mu?ammad erläutert wird. In der christologischen Inschrift im Felsendom in Jerusalem dokumentiert er – vielleicht in Konkurrenz zur Ekthesis des Kaisers an der Hagia Sofia in Konstantinopel – die Propagierung der religiösen Konzeption des Arabischen Reichs, die offizielle Geltung der syrisch-arabischen vornizenischen Theologie und zugleich, wie Christoph Luxenberg aufgezeigt hat, den christologischen Würdenamen mu?ammad.
So schält sich in Inârah immer mehr ein Konsens darüber heraus, dass die koranische Bewegung in Merw, Margiana und Baktrien, also im heutigen Süd-Turkmenistan und Afghanistan, ihre Anfänge hat, sich bald in weiteren „arabisch“ sprechenden Gruppen in der Persis und in Mesopotamien verbreitete und erst später unter ?Abd al-Malik zur regierungsamtlichen Konzeption wurde sowie ihre koranischen Texte in arabischer Schrift aufgeschrieben wurden.
6. Die koranischen Sprüche, zumindest die sogn. mekkanischen Verse und Suren, hatten wohl für diese Bewegung eine ähnliche Funktion wie der babylonische Talmud für das Judentum oder der Zand oder D?nkard, vielleicht ebenfalls in Merw entstanden, für den Zoroastrismus. Sie bekräftigen, erklären und erweitern die jeweilige kanonische Tradition im Sinne der eigenen und neuen Konzeptionen. Sie wollten den rechten d?n, durch richtige Schriftinterpretation, durch isl?m (= Übereinstimmung mit der Schrift) darlegen, die die na??r?, also die mit dem Katholikos verbundenen syrischen Christen, vor allem durch die Übernahme neuer theologischer und christologischer Aussagen verlassen hatten: im Jahre 410 hatten sie auf der Synode von Seleukia-Ktesiphon das Symbol von Nizäa (gleichwesentliche Gottessohnschaft Jesu und eine Binitätslehre), später weiterer griechischer Konzilien (Trinitätslehre) angenommen.
Da der Koran in allen seinen Teilen in arabischer Sprache mit stark syro-aramäischen Prägungen abgefasst ist, handelt es sich bei seinen Anhängern und Predigern um Gruppen, für die diese Sprache die „deutliche“ war und deren Gebrauch sie von der vorwiegend syrischen oder auch persischen Umgebung unterschied – trotz aller sprachlichen und literarischen Übernahmen -. In diesen Sondergruppen haben sich offensichtlich recht frühe, wahrscheinlich weithin vorhierarchische Formen von Christentum erhalten, wurden gepflegt und gegen die syrische Großkirche verteidigt.
Im Jahre 553 wurde in Merw ein Bistum gegründet, das dem Katholikos in Seleukia-Ktesiphon unterstand. Damit war sicher eine stärkere Betonung der Formeln hellenistischer Christologie und Theologie verbunden: das Bekenntnis zur Gottessohnschaft Jesu und zur Trinität. Wahrscheinlich verbreiteten sich auch stärker hierarchische bzw. klerikale Kirchenstrukturen. Es scheint so, als haben die „arabischen“ koranischen Gruppen diese neue Entwicklung abgelehnt und dagegen die alte und schriftgemäße Tradition polemisch weiter vertreten sowie mit dem Rückgriff auf das damals in ihrer Umwelt verbreitete religiöse Material und auch der spätantiken Literatur begründet.
7. Bisher gibt es keinen Nachweis, dass ein Grundbestand koranischer Texte schon früh in anderen arabischen Stämmen im Osten Persiens oder auch in Mesopotamien verbreitet war. Vielleicht kann man ein Indiz für eine weitere Verbreitung darin sehen, dass die historisch frühe arabisch-syrische Reichsbildung unter Mu??wiyya auch in der Persis anerkannt war. Aber es scheint so, als habe erst der Siegeszug des ?Abd al-Malik koranische Stoffe in größerem Umfang im ganzen Reich bekannt gemacht und – vor allem – durchgesetzt.
8. Ein Problem ist immer noch die Unterschiedlichkeit der koranischen Texte, die ja zu Recht in mekkanische und medinische Passagen gegliedert werden – wenn auch die Benennung, die fälschlich auf die Predigttätigkeit von Mohammed in Mekka und Medina rekurriert, unzutreffend ist. Letztere Texte sind erkennbar späterer Herkunft. Wann genau sie dazu gekommen sind, lässt sich noch nicht exakt bestimmen: nach der Durchsetzung arabischer Herrschaft seit ?Abd al-Malik, als sich die Konzepte der koranischen Bewegung in festeren Formen, sowohl theologisch wie sozial/praktisch, bis zum Ende des 9. Jahrhunderts? Jedenfalls ist hierbei auch nicht-christliches Material hinzugewachsen.
9. Wer waren die frühesten Schreiber von koranischen Texten, die wohl zunächst kleine Einheiten von Schriftinterpretationen aufgeschrieben haben, die im Lauf der Zeit, wie in einem Zettelkasten, zusammengefügt wurden? Die Frage wird auch in unserer Gruppe kontrovers diskutiert. Vielleicht hat man sich Mönche oder Eremiten vorzustellen, die in den in dieser Gegend zahlreichen Höhlen lebten – die Haruris (vgl. syrisch ?ror? = Höhle). Aber das zeigt die Eigenart des Koran: sie müssen das Eremitendasein, zumindest temporär, verlassen und in die Städte gezogen sein und auf das dort verbreitete religiöse Vorstellungsmaterial geantwortet haben. Vielleicht sahen sie sich, und wurden so gesehen, wie Propheten, die an bestimmten Zeichen erkennbar sind. Später wuchsen weitere Sprüche hinzu, koranische Texte wurden auch, was sich an nicht wenigen Stellen nachweisen lässt, redaktionell überarbeitet.
Vielleicht lassen sich die ersten Anfänge koranischer Sprüche durch das prophetenähnliche Auftreten von Mönchen erklären. In der Folgezeit aber scheint die Formulierung koranischer Aussagen an theologisch informierte, wahrscheinlich kleine Schreibergruppen übergegangen zu sein. Ihnen kam es darauf an, das, was für ihre Gefolgsleute von der Schrift her möglich und richtig ist, quasi „notariell“ schriftlich in arabischer Sprache zu dokumentieren, wobei sich Wandlungen in der theologischen Konzeption erkennen lassen (so Volker Popp, ebd.).
Wie Christoph Luxenberg aufgezeigt hat, haben sie die arabischen Sprüche mit syrischer Schrift (Karschuni / Garschuni) wiedergegeben. Später, zur Zeit ?Abd al-maliks, wurden diese (und weitere?) Texte in arabische Schrift umgeschrieben. Diese arabische Schreibweise orientierte sich am mittelaramäischen Alphabet, wobei die Defizite dieser „Mutterschrift“ für die Schreibung des Arabischen durch diakritische Punkte ausgeglichen wurden (vgl. u. Robert Kerr).
Dass die Koranschreiber aber diese – nachweislich schon in vorkoranischer Zeit verwendeten – diakritischen Zeichen bei der arabischen Niederschrift des Koran nicht oder kaum einsetzten, wie die frühen Fragmente von Koranhandschriften des 8. Jahrhunderts dokumentieren, zeigt, dass diese Aufzeichnungen „nur“ für den Binnengebrauch der Schreiber und Theologen gedacht waren; andere als sie selbst konnten die Texte, die meist nur einen rasm (wörtl. „Spur“, d.h. den arabischen Schriftzug ohne Diakritika und Vokale) boten, nicht oder nur partiell lesen. Bei den Schreibern scheint es sich um kleine Zirkel von „Fachleuten“ gehandelt zu haben, die – vielleicht im Auftrag von Regierenden – den richtigen D?n festlegten und bei Bedarf vortrugen.
Erst als der Koran zum Gründungsdokument der neuen Religion Islam gemacht wurde, also ungefähr vom Jahr 800 an, mussten seine Texte zunehmend „für alle“, vor allem auch für Nicht-Mutterprachler, lesbar gemacht werden: durch Einfügung der (schon bekannten, aber für den internen Gebrauch nicht erforderlichen) diakritischen Punkte und bald auch der Vokalzeichen (Robert Kerr).
Dieser Prozess ist im 9. und 10. Jahrhundert abgelaufen. Das bedeutet, dass ein für die interne theologische Orientierung geschriebener Text jetzt „popularisiert“ und für die Allgemeinheit lesbar gemacht werden musste. Hierbei waren nun Leute am Werk, die die ursprüngliche Zielsetzung und Sprachtradition nicht mehr kannten. Maßgebend für sie waren ein weiter entwickeltes Arabisch und eine islamische Lesung/Interpretation des rasm. In dieser Endversion ist der Koran – abgesehen von den umfangreichen sogn. dunklen Stellen, denen man auf Grund des sprachlichen Missverstehens keinen plausiblen Sinn mehr zuzulegen vermochte – ein islamisches Buch.