Gobillot: Die „Legenden der Alten“ im Koran

Die „Legenden der Alten“ im Koran

Die Erzählung von den Schläfern in der Höhle und der Alexander-Roman anhand von Sure 18[1]

Geneviève Gobillot[2]

übersetzt von Werner Müller

  1. Heilige Texte, inspirierte Textsammlungen und volkstümliche Erzählungen im Koran

Wir haben in zwei früheren Beiträgen für Inârah in den Jahren 2008 und 2009[3] mehrere Arten und Weisen der Stellungnahme des Korans zu frühe­ren Texten herausgearbeitet, die er erwähnt oder auf die er mehr oder weniger explizit anspielt.

Es ergab sich zunächst, dass diese Textcorpora in zwei Hauptkategorien unterteilt werden können.

Die erste, die der biblischen und parabiblischen Texte, enthält besonders Apokryphe des Alten und Neuen Testaments und hat gemeinsam, dass sie sich als geoffenbart präsentieren, was der mit dem koranischen Begriff  tanzīl (Herabsendung) bezeichneten Qualität entspricht.

Die zweite Kategorie bildet eine Literatur, die man als „nachbiblisch“ qualifizieren kann, obwohl sie teilweise der gleichen Zeit wie Teile der ersteren angehört. Sie umfasst vor allem Kommentare: Midrasch, Mischna, Targume,  Exegesen christlicher Theologen und von Kirchenvätern, ebenso  Tex­te wie etwa die pseudoklementinischen Homilien und Recognitiones, die, auch wenn sie den Titel „Roman“ tragen, einen beträchtlichen Lehranteil ent­halten. Der grundlegende gemeinsame Punkt all dieser unterschiedlichen Texte ist, dass sie sich als inspiriert präsentieren, was dem arabischen Begriff ilhām entspricht.

Obwohl diese Unterteilung die Mehrheit der Fälle erfasst, muss man sich dennoch bewusst halten, dass die Grenzlinie zwischen diesen beiden Text­typen selbst nach Ansicht der Spezialisten hauchdünn oder gar nicht wahr­nehmbar ist.

Sodann haben wir ganz grundsätzlich im Koran zwei Arten der Stellung gegenüber diesen Texten unterschieden.

Die erste besteht in der Bestätigung oder, im Gegenteil in der Berichti­gung, der Aufhebung, ja sogar der völligen Ersetzung mancher ihrer Inhalte, sei es durch Zitate, Wiederholungen oder implizite Anspielungen. Sie be­zieht sich fast ausschließlich auf Textkorpora, die sich als geoffenbart prä­sen­tieren oder von bestimmten religiösen Gemeinschaften als solche ange­sehen werden. Sie geht aus der Idee hervor, dass Gott durch den Koran manches in früheren Texten abändert und berichtigt.

Die zweite Haltung besteht darin, gewisse Schriften oder Teile daraus als „hermeneutische Schwellen” zu nehmen, das heißt einige ihrer spezifischen Züge – ihren Stil, einzelne Ausdrücke, den theologischen Inhalt oder auch Bewertungskriterien – mehr oder weniger offen zu verwenden. Dieses Ver­fahren geschieht meist bei Texten, die sich als inspiriert ausgeben, und ist von der Absicht getragen, den zeitgenössischen Adressaten des Korantextes eine ihnen zugängliche Theologie vorzustellen.

Diese Klassifizierung kann im Blick auf die allermeisten Referenztexte im Großen und Ganzen als zutreffend angesehen werden. Sie weist jedoch bemerkenswerte Ausnahmen auf, bestimmte Kompositionen, die ihren Inspirationscharakter klar zu erkennen geben und im Koran genau so behandelt werden wie Offenbarungstexte, und umgekehrt.

Hier ist nun ein dritter Typ von Texten zu untersuchen, die nicht restlos unter eine der beiden genannten Kategorien fallen, obwohl sie mit jeder von ihnen Gemeinsamkeiten aufweisen. Es handelt sich um Kompositionen, Exzerpte, Erzählungen oder Symbole, die in den Augen ihrer spätantiken Leser selbst entweder von vornherein als profanen Ursprungs gelten oder gar als früher mit polytheistischen Kulten in Verbindung stehend – wobei ihre Gemeinsamkeit, wie es scheint, eine gewisse Verbreitung in der popu­lären Kultur ist. Das trifft typischerweise für die Alexander-Legende zu.

Das Ziel des vorliegenden Beitrags ist genauerhin, die vom Koran ange­wandten Vorgehensweisen im Umgang mit Vorgaben solcher Art zu be­stim­men, gegebenenfalls im Vergleich mit dem jeweiligen Stellenwert, der ihnen in den verschiedenen Verbreitungsmilieus zu seiner Entstehungszeit zukam.

Wir möchten noch erwähnen, dass in dieser Studie dieselbe Methodo­logie wie in unseren vorhergehenden angewandt wird. Nach dieser soll an den Koran unter der Voraussetzung herangegangen werden, dass er, seiner eigenen Auffassung nach, nichts Unnützes noch Überflüssiges enthält  und folglich keine Synomien, keine zufällige Wiederholungen und keine neben­säch­lichen Details; mit anderen Worten: dass alles, was er aussagt, aus­drück­lich gewollt ist und dass er sich gegenüber früheren Texten, die er ins Spiel bringt,  aktiv und nicht wie ein passiver Empfänger verhält. Obendrein haben etliche Beispiele es uns notwendig erscheinen lassen, sich zum ver­tief­ten Verständnis mancher Bedeutungen auf eine verbale Analogie zu be­ziehen, das heißt: auf eine Regel, die gründet in der

„Intentionalität einer jeden Entscheidung des Schreibens, die als Prin­zip ansetzt, dass jedes Vor­kommen eines Wortes notwen­diger­weise an der Hervorbringung eines kohä­renten Sinnes beteiligt ist, eines Sinnes, der sich nur voll erfassen lässt nach In-Beziehung-Setzung aller in einem Text verstreut vorkommenden Wörter.“[4]

Außerdem konnten wir feststellen, dass sich der Koran sehr oft um  Erklä­rung, ja sogar um Rechtfertigung seiner Vorgehensweisen bemüht. In die­sem Zusammenhang  kommt es bisweilen vor, dass er auf Kritiken von Sei­ten verschiedener Gegner eingeht. Darunter findet sich auch, dass er zur Ver­breitung der „Fabeln der Alten“ (asāṭīr al-awwalīn) beitrage. Dieser Aus­druck hat unterschiedliche Bedeutungen je nach den betreffenden Ver­sen. An mehreren Stellen ist es das Phänomen der Auferstehung selbst, das von Ungläubigen oder Skeptikern als Fabel behandelt würde, an anderen der Koran als ganzer und seine Vorgehensweise[5]. Demgegenüber spricht zum Beispiel Vers 25, 5 in präziser Weise frühere Textkorpora an, die zuerst transskribiert und dann mündlich weiterüberliefert wurden:

„(Es sind) die ‚Schriften der früheren (Generationen), die er (der Prophet) sich aufgeschrieben hat. Sie werden ihm morgens und abends diktiert’“.

Diese Vorstellung vom Verschriftlichungsvorgang legt nahe, dass es sich um mündliche volkstümliche Legenden handeln würde, die aus Gründen der Bequem­lichkeit für den Propheten in schriftlichen Sammlungen zusam­men­getragen und ihm dann, zweifellos auf Arabisch, diktiert worden wären. Die folgenden Verse werfen ihm dann auch, recht kursorisch, vor, dass ihm die typischen Merkmale eines Propheten fehlen würden, unter anderem, dass er keinen Engel als Begleiter habe:

„Warum ist (denn) kein Engel zu ihm herabgesandt worden, um mit ihm (zusammen) ein Warner zu sein ?“(25, 7).

Die Antwort des Koran ist klar: Ohne die Begründetheit der Bemerkung sei­ner Gegner bezüglich mancher angesprochenen Inhalte zu leugnen, hebt seine Argumentation auf den von Gott gewollten, authentischen Charakter des Inhalts selbst ab, wie auch immer er zustande gekommen sein mag:

„Sag: ‚(Nein!) Der hat ihn herabgesandt, der (alles) weiß, was im Himmel und auf Erden geheimgehalten wird (G.: d. h. diesen genauen Inhalt des Korandiskurses und nicht einen anderen)“[6].

Der Grundgedanke, der aus diesen Versen hervorgeht, ist, dass Textpassa­gen, die manche als bloße Legenden der Alten nehmen können, im Koran nur ihren äußeren Anschein beibehalten, ebenso wie der Prophet, der diese Botschaft übermittelt, nur dem Anschein nach ein gewöhnlicher Mensch ist (25, 7). Wir befinden uns hier also im Zentrum der im Titel dieses Beitrags angekündigten Problematik, nämlich dem profanen Ursprung bestimmter Inhalte des Koran.

Wie mehrfach festgestellt werden konnte, verhehlt der Koran nicht, dass er sich auf frühere Textkorpora bezieht; im Gegenteil, er gibt meist zu ver­stehen, dass sein Leser diese Situation zu erfassen und ihre Umstände zu verstehen imstande ist. Nur wenn ein derartiges Procedere relativ wenig Probleme bietet, insofern man im Bereich der Offenbarung oder wenigstens göttlicher Inspiration verbleibt, hat die Erwähnung von Texten, die mit Recht als „Fabeln der Alten“ bezeichnet werden können, wie beispielsweise der Alexander-Roman, oder von mit altägyptischen Glaubensvorstellungen verbundenen Symbolen, offenbar das Erstaunen zahlreicher Koranexegeten erregt [7].

Wenn man jedoch den Status dieser Texte laut Koran genauer untersucht, wird man feststellen können, dass er, ebenso wie er einige hermeneutische Schwellen aufnimmt, ohne seine eigene Originalität zu ver­lieren, sich auch der Korpora bedient, deren Vorkommen in einem heiligen Text auf den ersten Blick unangemessen erscheint, indem er sie nämlich durch die Behandlung, die er ihnen angedeihen lässt, in ein zusätzliches Instrument seiner eigenen Botschaft verwandelt. Diese Vorgehensweisen wollen wir im vorliegenden Beitrag untersuchen.

Da wir im beschränkten Rahmen dieser Untersuchung nicht alle Texte und Symbole vorstellen können, die in die Kategorie „Fabeln” und „Legen­den” im Koran fallen, werden wir uns bemühen, hier vor allem die metho­do­logischen Prinzipien herauszuarbeiten, denen er auf die eine oder andere Weise folgt.

Dazu erweist sich das Zeugnis von Sure 18 als wesentlich, insofern sie wenigstens drei wesentliche Informationen zur Klärung dieser Fragestellung enthält:

Die erste bezieht sich auf die Art und Weise, wie der Korantext seine Beziehung zur Geschichte fasst, verstanden als Wissenschaft sowohl von den Ereignissen als auch der kognitiven Systeme.

Die zweite ermöglicht zu sehen, wie er eine inspirierte religiöse Erzäh­lung aufnimmt, wie jene von den Jungen Leuten der Höhle aus der Predigt des Jakob von Serugh, indem er Elemente des Jenseitsglaubens aus dem pharaonischen Ägypten einführt.

Die dritte zeigt, in welchem Geist er Themen einer anderen Jakob von Serugh zugeschriebenen Predigt, die den apokalyptischen Charakter des Alexander-Epos betreffen, mit unterschiedlichen Elementen biblischen Ursprungs kombiniert.

  1. Koran und Geschichte anhand der Erzählung von den Leuten der Höhle

Es gibt mindestens eine Passage im Koran, in der er nicht nur das Problem der Übermittlung historischer Daten aufwirft, sondern auch das der Bewer­tung der daraus sich ergebenden Konsequenzen auf verschiedenen Ebenen. Dieses Vorgehen findet sich in der Erzählung von den Leuten der Höhle in Sure 18, 9 -26.

Bekanntlich taucht diese Geschichte erstmals auf in einer Predigt Stephans von Ephesus, dem Bischof dieser Stadt von 448 bis 451, die er nach der Auffindung sehr gut erhaltener Leichen von sieben jungen Leuten in einer unweit der Stadt gelegenen Höhle des Berges Cälius (oder Pion, heute Panayır Dağ) im Oktober 448 gehalten hat. Der Bischof äußerte dabei die Vermutung, dass es sich um ein Wunder handeln müsse, und erfand ver­schiedene erzählerische Elemente, um seine Gläubigen zum rechten Glau­ben an die Auferstehung zurückzuführen; dies erfolgte zu einem Zeitpunkt, als der Häretiker Theodor, Bischof von Aegae, seine Theorie vom Ort des Leibes in der Auferstehung verbreitete.

Die älteste Version dieser Geschichte findet sich in zwei Homilien des Jakob von Serugh (gest. 521) in einer erbaulichen Erzählung fiktiven Cha­rakters, die folgendermaßen zusammengefasst werden kann: Zur Zeit des Kaisers Decius (gest. 250) flüchten junge Gläubige vor der heidnischen Verfolgung und schlafen in einer Höhle ein, wobei ihr Geist in den Himmel entrückt wird, während ihr Körper auf wundersame Weise unversehrt bleibt. Ihr Verfolger lässt die Höhle zumauern, aber Arbeiter, die von ihrer Auferstehung überzeugt sind, hinterlassen bei ihnen Bleitafeln, auf die sie ihre Namen eingraviert hatten. Jahrhunderte später kommt, als ein Hirte Steine beiseite räumt, Licht in die Grotte, und sie wachen auf. Einer von ihnen, der weggeht, um Lebensmittel zu kaufen, entdeckt eine christlich gewordene Stadt und erregt dort dadurch Aufsehen, dass er mit sehr altem Münzgeld bezahlen will. Er wird daraufhin von einem weisen alten Mann erkannt. Die jungen Leute aus der Höhle lösen beim ganzen Volk und seinen Führern Enthusiasmus aus. Einige Stunden später sterben sie, nach­dem sie den Umstehenden anvertraut haben: „Euretwegen hat uns Christus, der Herr, auferweckt, damit ihr wirklich an die Auferstehung glaubt“. Man gibt ihnen sodann ein ganz einfaches Grab in eben dieser Höhle.

Zahlreiche Versionen dieser Erzählung fanden danach weite Verbrei­tung. Man hat 18 syrische Manuskripte zwischen dem 7. und 15. Jahrhun­dert ausmachen können, von Autoren aus dem 6. bis 13. Jahrhundert. Dionysos von Tell Mahre erwähnt ein syrisches Buch aus dem 5. Jahrhun­dert. Es gab zweifellos auch viele mündliche Versionen[8].

Auf das Ergebnis dieser Überlieferungsgeschichte bezieht sich der Koran, indem er das Vorhandensein mehrer Versionen mit unter­schied­lichen Details erwähnt.

Eine solche Stellungnahme erscheint ideengeschichtlich recht bemer­kens­wert. Genauer betrachtet beziehen sich die unterschiedlichen Infor­matio­nen, die er anspricht, ausschließlich auf Punkte, die nicht die von Stephan von Ephesus erfundene und von Jakob von Serugh weitergegebene Erzählung betreffen, sondern allein auf Daten, die man als „historisch“ qualifizieren könnte, nämlich auf die Zahl der tatsächlich in der Höhle aufgefundenen Leichen und die Zeitdauer ihres Verbleibens daselbst:

„Man wird sagen: ‚(Es sind) drei (Schläfer), mit ihrem Hund vier‘. Man sagt auch : ‚(Es sind) fünf, mit ihrem Hund sechs.‘ (Das sind) Mutmaßungen, die man über das Verborgene anstellt. Und man sagt auch: (Es sind) sieben, mit ihrem Hund acht‘“ (18, 22).

Bei einem derartigen Problem würde man erwarten, dass der Koran die Frage entscheidet und die richtige Zahl nennt, zumal er von Anfang an seine Absicht kundtut, neues Licht in diese Geschichte zu bringen:

„Oder meinst du, dass die Leute der Höhle und der Inschrift (eines) von unseren Zeichen waren, worüber man sich besonders wundern müsste?“ (9) „Wir berichten dir ihre Geschichte  (naba’ahum) der Wahrheit entsprechend“ (13).

So jedenfalls wurde diese Einlassung von der Mehrheit der Kommentatoren verstanden, nämlich als Versprechen, die richtige Version der Geschichte dieser jungen Leute zu liefern, und dessen, was ihnen geschehen ist. Man muss jedoch anmerken, dass naba’ahum auch bedeuten kann „ihre Ankündigung“, das heißt, die Botschaft, die sie der Welt durch sich selber als göttliche Zeichen, mittels ihrer erbaulichen Geschichte, bringen. Die folgende Untersuchung wird, so hoffen wir, unter anderem auch diesen Punkt klären.

In einem ersten Schritt fordert die Antwort, die vom Koran auf die Frage nach der Zahl der Personen in der Höhle gegeben wird, den Leser durch ihren unerwarteten Charakter heraus:

„Sag: Mein Herr weiß am besten über sie Bescheid. Daher streite über sie nur auf einleuchtende Weise und frag keinen von ihnen [G.: die Widersprüchliches berichten] über sie um Auskunft“ (18, 22).

Der Leser findet sich ja vor der Frage, warum ihm die erwartete Information letztendlich nicht gegeben wird. Wie „historisierend“ auch die a posteriori gegebene Interpretation dieser Situation sein mag, was hier vor allem zählt, ist die Art und Weise, wie der Koran selbst dieses Schweigen interpretiert. Dies tut er in den folgenden Versen.

Die Lehre, die er aus dieser Situation zieht, ist nämlich, dass der Mensch als kontingentes Wesen in Wahrheit nicht fähiger ist, sich in die Zukunft zu entwerfen – „Und sag ja nicht im Hinblick auf etwas (was du vorhast): ‚Ich werde dies morgen tun‘, ohne (hinzuzufügen): ‚wenn Gott will‘“ (18, 23, 24) – als sich über die Vergangenheit exakt zu äußern. Gott ist aufgrund seiner absoluten Transzendenz einzig und allein derjenige, der über die historische Wahrheit verfügt; auf menschlicher Ebene schwankt sie je nach dem Stand­punkt derer, die sie berichten. Ihre Einschätzungen oder Spekulationen bezüg­lich der Ereignisse, vergangene wie zukünftige, müssen infolge dessen als fundamental unzuverlässig betrachtet werden.

Somit lädt ein großer Teil der Passage über die Leute der Höhle in Sure 18 zu einer Reflexion über den Sinn der Nicht-Mitteilung historischer Infor­mationen ein. Dabei ist die Lektion, die der Koran erteilt, dass das Weg­lassen einer präzisen Auskunft durchaus imstande ist, zu einer höheren Erkenntnis zu führen:

„Und gedenke deines Herrn, wenn du vergisst (dies hinzuzufügen), und sage: ‚Vielleicht wird mich mein Herr (künftig) zu etwas leiten, was eher richtig ist als dies!‘“ (18, 23).

Dies bedeutet, dass das Weglassen bzw. ‘Vergessen‘ des Details einer histori­schen Begebenheit, im vorliegenden Fall durch den Propheten – was die berichteten Umstände der Offenbarung von Sure 18 nahelegen könnten[9] –, im Grunde zum Ziel hat, zu einer viel wichtigeren Erkenntnis zu führen, von der dieses ausgelassene Detail sogar hätte wegführen können[10].

Ein anderer Vers, der sich auf die Zeit bezieht, die die jungen Leute in der Höhle geblieben sind, bestärkt diese Sichtweise. Außerdem präsentiert der Koran dieses Thema als den springenden Punkt der Erzählung, indem er präzisiert, dass ihre Erweckung durch Gott zum Ziel hatte, sie aufzuteilen je nachdem, „welche der beiden Gruppen am ehesten errechnen würde, eine wie lange Zeit sie (in der Höhle) verweilt hatten“ (18, 12). Manche, von denen man annehmen muss, dass sie sich auf ihr persönliches Gefühl stützen, antworteten, dass sie einen Tag oder den Teil eines Tages dort geblieben waren. Ihre Antwort ist, nebenbei bemerkt, identisch mit jener, die der Koran Abimelech in Vers 2,259 bei seinem Erwachen nach mehreren Jahrzehnten zuschreibt.:

„ … Da ließ Gott ihn (auf) hundert Jahre sterben. Hierauf erweckte er ihn (wieder zum Leben) und sagte: ‚Wie lange hast du (in deinem Todesschlaf) verweilt?’ Er sagte: ‚Einen Tag oder einen Teil davon.’ Gott (w. Er) sagte: ‚Nein, du hast hundert Jahre (darin) verweilt.’“

Die anderen, die offenbar den tiefen Sinn dieser Frage verstanden hatten, antworteten: „Euer Herr weiß am besten darüber Bescheid, wie lang ihr verweilt habt“ (18, 19). Der Leser seinerseits weiß im Prinzip, dass dieser Aufenthalt mehr als zweihundert Jahre gedauert hat. Aber wiederum gibt der Koran keine präzise Antwort und stellt somit sowohl die Schwachheit menschlicher Einschätzungen als auch die Überlegenheit, unter dem  Gesichts­punkt religiöser Erbauung, des Empfindens der aus einem langen Schlaf Erwachten über die objektive Realität des Zeitablaufs heraus.

Die gleiche Weisung, diese Fragen der Allwissenheit Gottes zu über­lassen, kehrt wieder in Zusammenhang mit a posteriori vorgeschlagenen Hypothesen zu diesem Thema:

„(Man hat gesagt): Und sie verweilten dreihundert Jahre in ihrer Höhle, [G.: und sie (die Melkiten) fügten hinzu:] und neun dazu[11]. Sag: Gott weiß am besten darüber Bescheid, wie lang sie verweilt haben. Er besitzt (mit seinem Allwissen) die Geheimnisse von Himmel und Erde. Wie gut sieht und hört er!“ (18, 25).

Alle diese Passagen konvergieren im gleichen Gedanken, dass historische Wahrheit sich auf menschlicher Ebene immer von Subjektivität befleckt vorfindet, dass sie vollkommen und absolut richtig nur erfasst werden kann von einem außerhalb der kontingenten Schöpfung liegenden Standpunkt aus, das heißt, vom allein idealen Standpunkt Gottes aus. Der Koran insis­tiert jedoch darauf, dass diese objektive Wahrheit, „für sich“ genommen, nicht das Wesentliche ist, sondern dass vor allem die Erbauung zählt, die Gott aus der Geschichte für das Heil der Menschen zieht. Somit lädt er zu der Einsicht ein, dass die tiefe Wahrheit bezüglich der Leute der Höhle nicht von der Kenntnis genauer historischer Details abhängt, die sowieso mensch­licher Wissenschaft kaum zugänglich sind, sondern von der Anerkennung der metaphysischen Wahrheit des göttlichen Zeichens, das sie darstellt, und des Tenors ihrer Verkündigung.

Der Koran stellt somit die Tatsache klar, dass die historische Realität der Erzählung im Grunde eine zweite, nachgeordnete Ebene bildet, da das Zei­chen der unversehrt wiedergefundenen Körper der jungen Leute das ist, was zählt. Deshalb lädt er dazu ein, sich nicht mit den reinen Faktenfragen auf­zuhalten, da sowieso Gott allein die Antworten kennt, und sich der Erbau­ung, die aus der Erzählung gewonnen werden kann, zuzuwenden. Es ist das zu erhellende Zeichen gemeint, wenn er sagt: „naḥnu naquṣṣu ʿalayka nabaʾahum bi l-ḥaqqi – Wir berichten dir ihre Geschichte der Wahrheit entsprechend (18,13)“, was bedeutet: „was sie den Menschen durch ihre Existenz selber, als Zeichen gegeben, verkünden“. Die Wurzel naba’a bezeichnet ja ganz speziell etwas, das mit Prophetie zu tun hat, das heißt hier die die Verkündigung einer überhistorischen Realität, womit die bevorstehende Auferstehung und das Letzte Gericht gemeint sind.

Nach dieser Lektion des Koran ist die Ereignisgeschichte nur von Bedeu­tung aufgrund des Zeichens, das sie aus anderen, metaphysischen und trans­­zen­denten Ereignissen konstituiert. Die Geschichte als solche wird damit zu einer Art Sprungbrett für die Prophetie, während sie für sich selber genommen kein wirkliches Interesse verdient, weil sie keinerlei Nutzen für das Heil der Menschen bringt[12]. So hatten es auch Stephan von Ephesus und Jakob von Serugh verstanden, als sie eine archäologische Entdeckung zum Anlass für eine erbauliche Erzählung nahmen. So versteht es offenbar auch der Koran, indem er sich auf ihre inspirierten Ausführungen stützt, um seine eigene Lehre zu entwickeln. Wenn man sich diese Art und Weise, die Dinge zu betrachten, vor Augen hält, erscheint es weniger überraschend,  dass eine weithin fiktive Erzählung, die sich auf Ereignisse ursprünglich profanen Charakters bezieht, eine ähnliche Funktion haben kann, wie weiter unten bezüglich Alexanders des Großen zu sehen sein wird.

  1. Zahlensymbolik

Die Aufforderung im Koran, Gott die genaue, zahlenmäßige Bewertung zu überlassen, scheint sich übrigens nicht nur auf historische Daten zu be­ziehen, sondern auch auf eine andere Funktion von Zahlen, nämlich die daraus entwickelte Zahlensymbolik der Pythagoreer. In Vers 18,22 wird denn auch die Aufmerksamkeit des Lesers besonders auf die Zahlen gerich­tet, dadurch dass der Hund dreimal wörtlich als „einer von ihnen“ vorge­stellt wird, das heißt, der Leute der Höhle: rābiʿuhum kalbuhum (der vierte von ihnen ist ihr Hund), sādisuhum kalbuhum (der sechste von ihnen ist ihr Hund) et ṯāminuhum kalbuhum (der achte von ihnen ist ihr Hund), anstatt wa maʿahum kalbuhum (und ihr Hund war mit ihnen), was man hier erwarten würde. Die elementarste Logik verbietet ja eigentlich, ein Tier zu Menschen zu zählen. Außerdem verstärkt das dreimalige Vorkommen dieser eigenartigen Rechnung deren Außergewöhnlichkeit. Schließlich wird noch präzisiert, dass diejenigen, die über diese Zahlen spekulieren, in Sure 18,22: „Mutmaßungen, die man über das Verborgene (ġayb) anstellt“. Dieser Ausdruck – „raǧman bi l-ġaybi“ – kann gewiss als einfache Suche nach historischer Wahrheit verstanden warden, wie oben festgehalten wur­de; er kann aber in Verbindung damit auch den Versuch bezeichnen, das Geheimnis der Zukunft aus angeblichen Antworten auf die Rätsel der Vergangenheit zu antizipieren. Diese doppelte Lesart ist umso plausibler, als im folgenden Vers der Begriff der künftigen Zeit angesprochen wird:

„Sag niemals bezüglich einer Sache: ‚Ich werde sie gewiss morgen tun‘ [G.: oder genauer: ‚morgen werde ich sie getan haben‘],

ohne hinzuzufügen:

‚wenn Gott es will‘“ (18, 23, 24).

In dieser Hinsicht könnten die hier genannten Zahlen, neben ihrer ersten Funk­tion, sehr wohl mittels ihrer Symbolwerte auch zu Spekulationen über den Zeitpunkt der (eschatologischen) Stunde dienen.  Dies würde bedeuten, dass auch die Zahl der Leute der Höhle ein Zeichen darstellt, was eine zur damaligen Zeit sehr geläufige Betrachtungsweise war.

Es drängt sich nun die Frage auf, was zur Wahl dieser oder jener Zahl motiviert hat, wohl wissend, dass im Koran nichts grundlos, einfach so, ausgesagt wird:  Warum 3 junge Leute, dann 5, dann 7, anstatt beispielsweise: 3, dann 4, dann 5 oder 5, dann 6, dann 7? Die nächste Überlegung kann also nur die Frage nach der eventuellen Besonderheit der Zahlen von Vers 18, 22 sein. Nun trifft es sich, dass sie just recht eigenartige Charakteristika aufweisen. Wenn man nämlich jedesmal, unter Vernachläs­sigung des Unterschieds zwischen Ordinal- und Kardinalzahl (das heißt, was sie jeweils darstellen, Menschen und den Hund zusammengenommen), die beiden nebeneinander auftretenden Zahlen in jeder Menge addiert, erhält man folgende Serie: 3+4 = 7 ; 5+6 = 11 ; 7+8= 15, das heißt eine Folge ungerader Zahlen mit dem Intervall 4, deren Summe 33 ergibt. Dies ist die Zahl der vollendeten Vollkommenheit und der Schwelle des Eintretens in die künftige Welt nach einer sehr alten Tradition der Torah-Auslegung[13], womit ebenso das Ende der Welt und die Auferstehung als Vollendung der Zeiten angesprochen wird, was ja auch von den jungen Leuten der Höhle angekündigt wird. 33 Jahre ist außerdem das Alter, das Jesus zugeschrieben wird, und durch Ausweitung auch das aller Auferweckten[14], somit auch, so ist zu vermuten, das der Leute der Höhle, die ihrerseits Ausnahmen darstellen als vor dem Ende der Zeiten Auferweckte.

Andererseits führt die mathematische Logik, wenn man die Reihe fortsetzt, zur 19 (7, 11, 15, 19), wohin man auch nach einer anderen Rech­nung gelangt, wenn man eine Einheit hinzufügt, was durch die Erwähnung des folgenden Tages, das heißt, „der kommenden Zeiteinheit“, nahegelegt wird. Diese Rechnung besteht darin, die drei Kardinalzahlen, jeweils ein­schließlich des Hundes, zu addieren. Man erhält sodann : 4 + 6 + 8 = 18 (die Nummer der Sure selbst), und 19, wenn man die nächste Einheit hinzu­nimmt, also die Nummer der Sure „Maryam“ (Maria), in der Jesus selber seine Auferweckung ankündigt:

„Heil sei über mir am Tag, da ich geboren wurde, am Tag, da ich sterbe, und am Tag, da ich (wieder) zum Leben auferweckt werde!“ (19, 33).

Dieses Bündel von Beziehungen lässt die Vermutung zu, dass Spekulationen über die Zahl der Leute der Höhle damals zum Ziel hatten, den genauen Termin der Auferweckung und damit des Endes der Zeiten zu berechnen. An einer anderen Stelle warnt denn auch der Koran vor diesem Wissen als für die Menschen völlig unzugänglich:

„Sag: Die im Himmel und auf Erden sind, haben (alle) keine Kennt­nis vom Verborgenen [G: von der verborgenen Stunde (al-ġayb)], au­ßer Gott. Und sie merken es nicht (dass der jüngste Tag ange­brochen ist), wenn sie (dereinst vom Tod) erweckt werden.“ (27, 65).

Ein solcher Versuch scheint in der Tat völlig dem zu entsprechen, was nach einer anderen Bemerkung heißt „das Geheimnis des Unsichtbaren (ġayb) durch­dringen“, was jene versuchen, die über die Leute der Höhle Speku­lationen anstellen, ein ebenso vergebliches Unternehmen wie die unmög­liche Selbst-Projektion auf den nächsten Tag.

Es ist in dieser Persektive völlig vergleichbar und nach unserem Ver­ständ­nis sogar eine Ergänzung zu Sure 18, wenn in Sure 74, 30 die Zahl 19 ins Spiel kommt; hier wird von den 19 Wärtern des unerbittlichen Sonnen­feuers, des Höllenfeuers (saqar),  gesprochen. Ebenso wie in Sure 18 folgt dieser Zahl ein Ausdruck, der durch verbale Analogie eine Beziehung zu jener herstellt. Es handelt sich um „Zählung“ (ʿidda). Diese ist in Sure 74 ein ausschließlich Gott vorbehaltenes Wissen: „mā ǧaʿalnā ʿiddatahum illā fitnatan” („Wir haben ihre Anzahl nur zu einer Versuchung gemacht“) , genau wie es in Sure 18 das Wissen um die Zahl der Leute der Höhle ist (qul rabbī aʿlam bi-ʿiddatihim): „Sag: Mein Herr weiß am besten darüber Bescheid, wie viele es sind“ (18, 22). In Sure 74 wird sogar noch genauer gesagt, dass die von Gott genannte Zahl 19 zur Versuchung derjenigen genannt worden ist, deren Herz krank ist und die in die Irre gegangen sind. Diese werden sich, im Gegensatz zu den Leuten des Buches und zu den Gläubigen, fragen, was diese Zahl als maṯal bedeutet, das heißt, insoweit sie fähig ist, auf eine andere Realität als sie selbst zu verweisen. Genau dies wird in Sure 74 wörtlich gesagt:

„Wir haben ausschließlich Engel zu Höllenwärtern gemacht. Und wir haben ihre Anzahl nur zu einer Versuchung für diejenigen ge­macht, die ungläubig sind, damit diejenigen, die die die Schrift erhal­ten haben, sich überzeugen lassen würden und diejenigen, gläubig sind, sich in ihrem Glauben bestärken lassen würden, und damit die­jenigen, die die Schrift erhalten haben, und die Gläubigen nicht Zwei­fel hegen würden, und damit diejenigen, die in ihrem Herzen eine Krankheit haben, und die Ungläubigen sagen würden: ‚Was will denn Gott mit einem solchen Hinweis [G.: dem Symbol dieser Zahl]?‘“ (74, 31).

Es kann also im Koran, im Gegensatz zur Auffassung von  Farid Gabteni, dem Verfasser eines Buchs über die Neunzehn im Koran[15], kein esoterisches Zahlenwissen[16] geben, da nach seiner eigenen Aussage nur diejenigen nach der Bedeutung von Zahlen fragen, deren Herz krank ist. Der Koran ist hier völlig klar:  Der esoterische  Sinn der 19 wie aller anderen Zahlen betrifft nur Gott allein: „Über die Heerscharen deines Herrn weiß nur er (selber) Bescheid“ (74,31). Der Koran erklärt mit einem Augenzwinkern, das in der Komplementarität der beiden Textpassagen liegt, so scheint es, dass wer sich der Zahlenwissenschaft/Numerologie anvertraut, um den Zeitpunkt der (eschatologischen) Stunde oder auch nur einfach die Zukunft dieser Welt zu erkennen, und mehr noch, wer die Geschichte zu beherrschen meint, sich in Spekulation verliert, im buchstäblichen wie im übertragenen Sinn.

Nach dieser Überlegung wird die Beherrschung des Geheimnisses der Zahlen, eine weitere für Menschen illusionäre Wissenschaft, anstatt zum Verlassen der Höhle zu führen, wie manche Philosophen meinen (Platons Höhlengleichnis konnte in bestimmten gelehrten Kreisen ein Raster ab­geben), vielmehr ihre Anhänger mit viel größerer Sicherheit an die Pforten der Hölle führen. Laut Koran steht die Wissenschaft von den Zahlen wie die von den historischen Ereignissen ausschließlich Gott zu. Er allein kennt die himmlischen Heerscharen wie die Zahl der jungen Leute der Höhle und ihre eventuelle esoterische Bedeutung. Aus diesem Grund kann man unmöglich sagen: „Ich werde dies morgen getan haben“, eine Spekulation mit einer Berechnung, die ein Sich-auf-Gott-verlassen ausschließt. Wir haben es hier mit dem Fall einer doppelten Bedeutung eines Verses (18,22) zu tun; er scheint nicht nur zur Relativierung der Daten der historischen Wissenschaft aufzufordern, sondern auch die Irrtümer herauszustellen, zu denen die Wissen­schaft der Zahlen führen kann. Eine solche Maßnahme setzt natür­lich, wie man festgestellt hat, eine perfekte Kenntnis dieses Procedere und seiner Methoden voraus. Sie ist schließlich trotz aller Ernsthaftigkeit nicht ohne einen gewissen Humor. Denn die Lektion, die man daraus in Hinsicht auf die Zahl 19 ziehen kann, ließe sich so ausdrücken:

“Veranstaltet Zahlenwissenschaft durch Zusammenzählen von was auch immer, wie von Hunden und Menschen, und ihr werdet vor den Wächtern des Höllenfeuers enden, über deren Zahl ihr immer weiter vergeblich spekulieren könnt“.

  1. Anubis und die Leute der Höhle: ein zweifaches Zeichen der Auferstehung

Was für die Ereignisgeschichte gilt, lässt sich nach koranischer Auffassung auch auf die Geschichte der Ideen und der religiös-kulturellen Symbole anwenden, wie man anhand des Hundes der Leute der Höhle feststellen kann.

Der Korantext fügt dieses Tier der Erzählung Jakobs von Serugh hinzu und schreibt ihm unterschiedliche Funktionen zu. Zunächst ist interessant festzustellen, dass in allen vom Koran angeführten Spekulationen über die Zahl der Leute der Höhle die Erwähnung dieses Hundes so geschieht, dass sie als eine verlässliche Information aufgefasst werden kann. Sie erscheint als die einzige, die allen Mutmaßungen  in Vers 18,22 gemeinsam ist, und ist parallel dazu die einzige, die Evidenz beanspruchen kann, gemäß der Auf­forderung: „Streite über sie nur auf einleuchtende Weise“. Diese Vor­gehensweise macht eine weitere Sicht des Koran bezüglich der histo­rischen Wissenschaft deutlich. Man kann nämlich daraus den Gedanken ableiten, dass eine Konvergenz mehrerer Zeugnisse viel mehr Gewähr für historische Wahrscheinlichkeit bietet als eine individuelle Spekulation, zumal auf reli­giö­sem Gebiet der Konsens eine wesentliche Bedingung für die Aner­kennung einer Glaubensauffassung als Wahrheit darstellt[17].

Somit war die Anwesenheit eines Hundes bei den Schläfern, selbst wenn sie nicht in allen Versionen der Erzählung vorkommen würde, zur dama­ligen Zeit allgemein bekannt, wie ein griechisches Amulett bezeugt, das in Ägypten gefunden wurde und spätestens auf das 5. Jahrhundert zu datieren ist. Es handelt sich um einen heute im Museum von Kairo aufbewahrten Papyrus-Streifen mit einem Gebet gegen Krankheit. Dieses assoziiert, mittels eines Zitats des biblischen Psalms 22 (21), 20 – 22, den Hund mit den sieben Schläfern:

„ Vor der Pfote des Hundes… und [auf Fürsprache] der Märtyrer, die Zeugnis abgelegt haben, … Sabbatios, Probatios, Stephanos, Kuriakos, bewahre deine Dienerin vor aller Krankheit  und du wirst sie befreien von jeder Krankheit der Seele durch den Namen des Herrn. Erlösung des lebendigen Gottes“[18].

Das Vorkommen des Hundes in der Erzählung von den Schläfern von Ephe­sus könnte somit als ein Erbe ursprünglich ägyptischer Traditionen betrachtet warden, die rund ums Mittelmeer verbreitet waren. Diese enthiel­ten die Erinnerung an die Gestalt des Anubis, des Beschützers und Bewah­rers der mumifizierten, auf die Auferstehung wartenden Körper. Anubis (Ägyptisch: Jnpw) wird mit stets mit dem Kopf eines Hundes (oder Schakals) dargestellt. Sein ägyptisches Determinativzeichen æ bezeichnet all­gemein einen „sitzenden Caniden“[19]. Nach ägyptischer Vorstellung wur­den die Seelen der Toten von Hunden, Schakalen und Wölfen in das Toten­reich geführt.

Im Fall von Sure 18 ist es der Koran selbst, der auf den religiös-kul­turellen Kontext des antiken Ägyptens verweist, indem er eine bemerkens­werte Kenntnis der Symbole bezüglich des Weiterlebens der Seele und über die Funktionen des Hundes in den Riten der pharaonischen Epoche an den Tag legt. Es handelt sich dabei um zwei konkrete Details, die ohne Rück­bezug auf den Jenseitsglauben des alten Ägyptens völlig überflüssig erscheinen würden[20]:

„Du meinst sie seien wach, während sie (in Wirklichkeit) schlafen, wobei wir (G.: Gott) sie (G.: die Körper der jungen Leute) (von Zeit zu Zeit) nach rechts und nach links umkehren und ihr Hund mit ausgestreckten Beinen am Eingang liegt“ (18, 18).

Für dieses Umdrehen der Körper nach rechts und nach links findet sich eine Parallele im Pyramiden-Text, die sich genauerhin auf die Auferstehung, auf den Prozess der Erweckung des Toten, bezieht. Dieser muss sich zuerst auf seine linke, dann auf seine rechte Seite drehen, zum Beispiel in TP 412, § 730: „Erhebe dich von seiner linken Seite und begib dich auf seine rechte Seite”; oder auch TP 662, § 1878 : „Richte dich auf deiner linken Seite auf, (dann) drehe dich auf deine rechte Seite“. Weil der Tote auf der Seite liegt, nach links, nach Osten zur aufgehenden Sonne gewandt, und sich aufrich­ten und zur rechten Seite drehen muss, die „die Seite des Essens (Westen, Sonnenuntergang)“ ist.  Es gibt dabei ein Wortspiel zwischen wnmy, rechte Seite, Westen, und wnm, Essen. Das ist in TP 482, § 1002 und 1003, der Fall:

„O, mein Vater N, richte dich auf deiner linken Seite auf, (dann) drehe dich zu deiner rechten Seite, zu dem neuen Wasser, das ich dir gegeben habe! O, mein Vater N, richte dich auf deiner linken Seite auf, (dann) drehe dich zu deiner rechten Seite, zu dem Brot, das ich für dich bereitet habe!“.

Was die hieratische Haltung des Hundes betrifft, entspricht sie genau jener, die Anubis zugeschrieben wird, dem Meister der Mumifizierung und Wäch­ter der Gräber. Er bewahrte nicht nur die Körper, sondern lag auch auf der Schwelle der Grabmonumente, um eines Tages an ihrer Auferstehung teil­zu­nehmen, wie eine andere Passage aus dem Pyramiden-Text zu verstehen gibt:

„deine Würde, hervorgegangen aus dem Mund Anubis‘, ist (jene des) Horus-Khenty-Menouteb“[21];

noch bemerkenswerter:

„der Name des Hunde­gottes Anubis beschreibt die Position, in der er meist dargestellt ist, denn er bedeutet: ‚auf dem Bauch liegen‘“.

Das häufigste Bild von Anubis ist das eines hundeähnlichen Wesens, das aus­gestreckt auf dem Bauch liegt, die Pfoten vor sich, der Schwanz in der Verlängerung des Körpers [22], genau nach der Beschreibung, die der Koran von ihm gibt.

Schließlich ist festzuhalten, dass der Koran Gott den entscheidenden Akt der Bewahrung des Lebens vorbehält: „Wir (Gott) kehren sie nach rechts und nach links um“[23], wobei das Abbild Anubis’ nur auf seine Rolle als Wächter und Zeichen der Auferweckung verweist.

Eine solche Anspielung auf die Seelen-Todes-Bilderwelt altägyptischer Pro­ve­nienz im Koran sollte weder die Geistesgeschichtler noch die Islam­­wissenschaftler erstaunen. Was deren Tradierung betrifft, weiß man, dass zahlreiche apokryphe christliche Texte koptischen Ursprungs – darunter auch welche, auf die sich der Koran in anderen Teilen, beispielsweise auf die Geschichte des Zimmermanns Joseph, einer Homilie des 6.- 7. Jahrhunderts, bezieht – tief geprägt sind von der ägyptischen Todesmythologie und den Bildern Amentis[24]. Außerdem hatte, wie der oben erwähnte Papyrus-Text zeigt, das Symbol Anubis zweifelsohne die griechisch-römische Welt zu Beginn der christlichen Zeit breit durchdrungen. Ein weiterer bemerkens­werter Beweis dafür ist eine Darstellung Anubis’, als Centurio gekleidet, in der Nekropole von Kom el Shoqafa (Kūm al-Šuqāfa) in Alexandria, in der Kapelle neben den Gräbern; hierbei handelt es sich um eine Verschmelzung der ägypti­schen Ikonographie mit der griechisch-römischen Bestattungs­kunst des 1.- 2. Jahrhunderts[25].

Nach dieser Klarstellung sieht man besser, wie der Korantext vorgeht, um durch seine Verwendung des Bildes vom Hund einen zusätzlichen Beleg für seine Überordnung des religiösen Zeichengehalts über die bloße histo­rische Gegebenheit zu gewinnen. Er zeigt hier ja, dass er über einen sehr prä­zi­sen Punkt der altägyptischen Religion wohlinformiert ist. Diese ver­wen­det er nicht, um seine eigene Position uneingeschränkt zu verteidigen – das versteht sich von selbst -, sondern um daran zu erinnern, dass die Alten, trotz ihrer Unkenntnis des wahren Glaubens, eine wirkliche Glaubens­vor­stellung von der Auferstehung hatten und sie mittels ihrer Legenden (asāṭīr) auszudrücken verstanden.

Außerdem scheint der Koran in dieser Sure 18 der Tatsache Rechnung getragen zu haben, dass der Hund nach bestimmten Traditionen mit Elia assoziiert wird, der selbst viele Bezüge zur Auferstehung hat[26]. Sein Auf­tauchen hat traditionell die Funktion, das Kommen dieses Propheten anzu­kündigen, der den Beinamen „der Grünende“ trägt und den die muslimi­sche Tradition mit al-Ḫaḍir identifiziert hat; dieser wird seinerseits als eine unsterbliche Gestalt verstanden, deren arabischer Name „der Grünende“ bedeutet, weil nach einer wohlbekannten Überlieferung auf der Erde Leben entstand, wo er seinen Fuß hinsetzte[27].  Die Person Elias wird nun in der Tat angesprochen mittels des Inhalts einer Mose durch den Diener in den Mund gelegten Initiationslehre, die im folgenden Teil der Sure 18 vorgetragen wird[28].

Somit scheint der als Wächter der Höhle beschriebene Hund, der in Sure 18 zunächst als Gestalt Anubis gesehen wird, dann auch zusätzlich die Rolle zu haben, eine mit Elia in Verbindung stehende Einlassung anzukündigen. Neben seiner symbolischen Funktion richtet er also die Aufmerksamkeit auf die Beziehung zwischen dieser Gestalt und den Themen der Initiationslehre, die Mose zuteil wurde (der nicht nur in einem Teil der Geschichte Alexan­der ersetzt, sondern in der Torah und der rabbinischen Tradition auch in mehrfacher Hinsicht eine Elisäus vergleichbare Rolle einnimmt). Diese Epi­sode ist platziert in einen thematischen Zusammenhang, der auf die Erzäh­lung von den Leuten der Höhle folgt, die ihrerseits konstruiert ist nach einer zweiten Predigt Jakobs von Serugh, der Metrischen Homilie; ihr zentraler Inhalt ist die Reise Alexanders des Großen auf der Suche nach der Quelle ewigen Lebens. In dieser Sicht kann die Zahl 309, die in Vers 18, 25 genannt wird und von den Melkiten übernommen wurde, ebenfalls symbolisch erscheinen, insofern Jesus nach dem syrischen Kindheitsevangelium im Jahr 309 der Ära Alexanders[29] geboren wurde. Sie könnte somit anspielen sowohl auf das bevorstehende Auftreten Alexanders, der im Folgenden unter dem Namen Ḏū-l-Qarnayn erscheint, als auch auf den Zielpunkt seiner Geschich­­te, nämlich die Ankündigung der Letzten Stunde, des Endes der Zeiten, für die laut Koran  (43,61) Jesus das Zeichen ist.

  1. Die zwei Bezugsquellen des Themas Suche nach ewigem Leben im Koran

Im soeben vorgestellten Kontext bezieht sich der Koran auf den Alexander-Roman. Diese Gestalt trug den Beinamen „Mann mit den zwei Hörnern“ (Ḏū-l-Qarnayn) und war, wie  François de Polignac bemerkt, ohne Zweifel für das Arabisch sprechende Publikum der Zeit ein Verweis , wenn nicht auf die ägyptischen Wurzeln dieses Eroberers[30], so doch wenigstens auf „seine Teilhabe, mittels der Judaisierung seiner Legende und seine Annäherung an die Mose-Gestalt, am Werden der Welt“[31].

Nach diesem Spezialisten dürfte die Bedeutung eines Machtsymbols,  das mit dem alten Ägypten in Verbindung stand, zur Zeit der Entstehung des Koran längst vergessen gewesen sein. Seiner Auffassung nach wäre die Quelle für die Verbindung, die der Koran zwischen Mose und Alexander herstellt, nicht nur für ihren Beinamen, sondern auch für die „Konfusion zwischen dem legendären Eroberer und dem Propheten Israels“[32], in jüdi­schen und christlichen Gemeinschaften am Euphrat zu suchen. Diese hatten schon die Darstellung Alexanders mit zwei Hörnern, wie sie durch Münzen im Orient verbreitet war, und das Bild des Mose, der aufgrund von Exodus 24, 29 f. 35 ebenfalls „zweihörnig“ dargestellt wurde, einander angenähert. Daniel de Smet erinnert in diesem Zusammenhang daran, dass das hebräi­sche Verbum qāran sowohl „leuchtend“ als auch „ein Horn wachsen“ be­deu­ten kann und man für Mose die zweite Bedeutung festgehalten hat, und dass andererseits die syrische Version des Alexander-Romans von Pseudo-Kallisthenes den Eroberer sagen lässt:

„Gott hat mir zwei Hörner auf der Stirn wachsen lassen, damit ich alle Reiche der Erde umwerfe“.

Er zitiert schließlich, ohne sich selbst zu ihrer Gültigkeit zu äußern, die Hypo­these von A. Abel, wonach

„Mohammed zunächst einfach Alexander und Mose verwechselt hat, indem er eine Geschichte aus dem Alexander-Roman auf das Konto des biblischen Propheten geschrieben hat. Als er von skeptischen Juden in Medina danach gefragt wurde („Und man fragt dich nach dem mit den zwei Hörnern ((Dhû-l-qarnayn))“ – 18, 83 – ein Vers, den die muslimischen Kommentatoren oft als eine Fangfrage inter­pretieren), habe er eine neue Episode geoffenbart, aber diesmal unter dem Namen  Dhû-l-qarnayn“[33].

Unseres Erachtens kann man sich zu dieser Frage erst nach einer genauen Untersuchung der betreffenden Passage äußern. Denn der Koran trans­portiert, wie wir soeben für Anubis und die Auferstehung gesehen haben, noch andere Referenzen auf die Symbole Altägyptens, die zu kennen eine profunde Bildung erforderlich gemacht zu haben scheint. Andererseits haben uns die seit Jahren betriebenen Studien aus Erfahrung gelehrt, dass in einem solchen Fall a priori von „Konfusion“ zu sprechen, das Risiko mit sich bringt, die Deutung des Korantextes in alte methodologische Sack­gassen zu führen. Es scheint uns also sinnvoller, zunächst das Evidente spre­chen zu lassen, nämlich vorfindliche Annäherungen in den Texten und Kon­struk­tionen und Kombinationen zu einem Thema, da nur eine minu­tiöse Gegenüberstellung der Texte uns zeigen kann, ob dieses Vorgehen des Korantextes innerhalb einer ungewollten Konfusion und Verwechslung geschieht oder einer gewollten Substitution Moses durch Alexander entspringt.

Sicher ist zunächst nur, dass der Korantext eine völlig originelle Version der Erzählung bietet, die sich in mehreren Punkten grundlegend von der Apokalyptischen oder Metrischen Homilie unterscheidet, die Jakob von Serugh (gest. 521)[34] zugeschrieben wird, die ihm als Basisreferenz gedient zu haben scheint. Der Koran gibt jedenfalls die Gesamtstruktur mit den zwei großen Themen Auferstehung und Apokalypse wieder. Seine Adaptation des ersteren sollte darin bestehen, es einerseits extrem zu verkürzen und es andererseits zu verändern durch die Ersetzung Alexanders und seines Kochs durch Mose und seine jungen Begleiter (fatāʾ), und es schließlich zu ver­vollständigen mittels einer Erzählung von der Initiation des Mose in eine „von Gott kommende Wissenschaft“ durch den Diener Gottes, mit dem er bei der Quelle zusammentrifft.

Mit anderen Worten: Der Koran bringt seine die Themen des Alexan­der-Romans betreffende Erzählung nach dem Vorbild der Metrischen Homilie in zwei Hauptblöcken in folgender Ordnung:

  1.   Suche nach der Quelle ewigen Lebens durch Mose und Entdeckung der­selben durch seinen jungen Begleiter, jedoch entsprechend den Etappen, die Alexander und sein Koch in mehreren Versionen des Romans absolviert haben (60-65).
  2.   Gefangennahme und Einsperrung der unreinen Völker (Gog und Magog) durch Alexander und seine Armee bis zum Weltende hinter einer unüberwindlichen Mauer (93-98).

Diese beiden Einheiten werden getrennt durch die Initiation Moses bei einer geheimnisvollen Person, die er am Ort der Quelle ewigen Lebens trifft (66-92).

Bestimmte Elemente des Korantextes, die das Alexander-Epos betref­fen, gaben neuerdings Anlass zu Diskussionen, die teils polemisch geführt wurden, wobei es um die Frage ging, in welchem Textkorpus sie zuerst auftauchten, im Koran oder einigen früheren Versionen des Romans. Ohne hier erschöpfend die Argumente der einen wie der anderen Seite vor­zustellen – was diese Studie zu sehr verlängern würde -, möchten wir etwas Klarheit in die Debatte bringen durch schärferes Achten auf Einzelheiten des Korantextes, die bisher nicht genügend in Betracht gezogen wurden.

Dazu ist es nötig, im Einzelnen die drei oben genannten thematischen Einheiten zu untersuchen. Da jedoch im vorliegenden Beitrag aus Platzgründen nicht alle Facetten dieser Untersuchung ausgebreitet werden können, werden wir uns auf den ersten Themenkomplex beschränken, die Suche nach und die Entdeckung der Quelle ewigen Lebens, der direkt mit dem Thema Auferstehung verbunden ist.

Die Spezialisten stimmen darin überein, dass das Motiv der Entdeckung der Quelle des Lebens durch einen Diener Alexanders, nämlich seinen Koch, nur in der Rezension Beta des Alexander-Roman[35] bezeugt ist, die ungefähr in die Mitte des 5. Jahrhunderts[36] datiert und durch zwei Exem­plare in griechischer Sprache vertreten ist. Sie präsentiert sich als eine Über­arbeitung des hellenistischen Textes, dessen Rezension Alpha, die dem Ori­gi­nal am nächsten ist und um das 3. Jahrhundert datiert wird; sie kennt zwar diese Episode nicht, enthält aber dafür viel mehr Bezüge auf Ägypten, das kulturell und geographisch als das Ursprungsland dieses Werks gilt, auch wenn der Verfasser unbestreitbar Grieche ist. Die Passage über diese Entdeckung der Quelle des Lebens, ein für die Griechen wichtiges Thema, das manche Forscher für babylonischen Ursprungs halten, war somit in der ursprünglichen Schrift des Pseudo-Kallithenes nicht enthalten[37].

Hier der Kern dessen, was die Version Beta zu diesem Gegenstand enthält:

“Im Land der Finsternis, in das Alexander wie ein Einbrecher eindringt, befindet sich die berühmte Quelle, deren wie Blitze glän­zen­den Wasser die Kraft haben, Tote zu erwecken – ein Wunder, das Alexander leider nicht selbst erleben kann. Es ist sein Koch, der beim Waschen eines getrockneten Fisches entdeckt, dass dieser wieder lebendig wird[38]; aus Nachlässigkeit, Dummheit oder Böswilligkeit – was der Erzähler offen lässt – vergisst er, seinem Herrn diese außer­ge­wöhnliche Entdeckung mitzuteilen, so dass Alexander an der Quelle vorbeigeht und sie erst hinterher entdeckt (II, 40-41)“.

Die gemeinsamen Punkte des Koran mit dieser ersten Version der Episode sind folgende:

  1.   Die Peregrinatio des Helden in Begleitung einer Person, von der er zu gegebener Zeit Essen zuzubereiten verlangt.
  2.   Die Auferstehung eines gesalzenen Fisches, nach dem Zeugnis dieser Person, sobald er in Kontakt mit einem Wunderwasser kommt.
  3.   Die dieser Person zugeschriebene Unterlassung, so dass sie ihren Herrn erst später über das Ereignis informiert.

Die Unterschiede andererseits beziehen sich auf folgende Punkte:

  1.   Die Identität des Helden.
  2.   Das Vorgehen, das auf die Quelle stoßen lässt. Im Roman geschieht dies durch Zufall, während im Koran eine Suche stattfindet.
  3.   Die Orte: Im Roman befindet sich die Quelle des Lebens im Land der Finsternis, im Koran am “Zusammenfluss zweier Meere”.
  4.   Die Beschreibung der Quelle: eine Fontäne im Roman, eine Vertiefung in einem Fels nach dem Koran.
  5.   Der Zeitpunkt, an dem dem Begleiter der Befehl zur Zubereitung des Essens gegeben wird. Er liegt vor der Auferstehung des Fisches in der Version Beta des Romans, nach ihr im Koran.
  6.   Das Ergebnis der Suche: im Roman der Zugang zur Unsterblichkeit unmittelbar von diesem Leben aus, welche nur der Koch Alexanders erlangt, im Koran Moses spirituelle Initiation durch den Diener Gottes, den Held der Suche.

Untersuchen wir nun die anderen Versionen zu diesem Thema, die früher als der Koran sind oder von denen man dies annimmt.

Diese Episode findet sich auch im Babylonischen Talmud. Danach entdeckt Alexander die Quelle (oder den Fluss) des Lebens nach Durchquerung der „Berge der Finsternis“ und geht den Flusslauf hinauf, um an die Pforte des Paradieses zu kommen[39] :

“Auf dem Abstieg (von den „Bergen der Finsternis“) setzt er sich an den Rand einer Quelle und isst Brot. Er hat gesalzenen Fisch bei sich. Als er ihn abspült, verströmt er einen angenehmen Duft. ‚Das ist der Beweis, dass diese Quelle aus dem Garten Eden kommt‘, sagt er sich. Nach den einen nimmt er dann etwas Wasser und wäscht sich damit das Gesicht, nach anderen folgt er dem Quelllauf bis zum Garten Eden“[40].

Dieses Thema des Aufstiegs zum Paradies korrespondiert mit den Auf­stiegs­­erfahrungen, die Alexander auf sich genommen hat, um die Höhe des Himmels zu ermessen und die Erde zu betrachten[41] und dem Aufstieg zum Paradies bei gewissen biblischen Gestalten, wie Esra, mit denen bestimmte talmudische Versionen eben gerade Alexander zu identifizieren scheinen. Diese Version des Romans schließt ihrerseits an griechische und syrische Ver­sionen an, im wesentlichen durch zwei Gemeinsamkeiten: die Erwäh­nung der Finsternis (mit dem einzigen Unterschied, dass es im Talmud ein Gebirge, während es in den anderen Varianten des Romans das „Land der Finsternis“ ist) und der Rückkehr des gesalzenen Fisches zum Leben, oder wenigstens einem Anschein davon, was im Talmud nur durch seinen frischen Geruch angesprochen wird, während in anderen Versionen des Romans, wie auch im Koran, dadurch, dass er davonschwimmt.

Was das Brot betrifft, das kurz vor der Entdeckung der Quelle des Euphrat gegessen wird: dieses Thema findet sich auch in der Syrischen Legende, einer syrischen Version des Alexander-Romans, deren Entstehungs­zeit sehr umstritten ist, wobei die Schätzungen von 515 bis 628 – 630 reichen[42]. Hier wird gesagt, dass

„Alexander, als er an den Zusammenfluss der zwei Meere gekommen war, die nur durch einen schmalen Streifen Land getrennt sind, nach Westen schaute und ein Gebirge sah, das der Berg Musa (Mose-Berg) war [43]. Die Truppen stiegen herab und postierten sich auf dem Berg Klaudia, und hier aßen sie Brot. Dann stiegen sie hinab zur Quelle des Euphrat und fanden, dass sie aus einer Höhle hervorkam“(148 f.).

Im Gegenzug findet sich hier nur diese indirekte Anspielung auf die Quelle ewigen Lebens, die nicht eigens gesucht wird. Es ist auch keine Rede von einer Auferweckung des Fisches. Diese Version erinnert nichtsdestotrotz stark an die Episode im Talmud, denn sie fährt mit Folgendem fort:

„Hinter all diesen Bergen erscheint das Paradies Gottes. Jetzt gleicht das Paradies einer schönen, mächtigen Stadt, zwischen Himmel und Erde. Deshalb erscheint sie zwischen beiden (…). Gott hat vier Flüsse gemacht als Zugänge zum Paradies. Da er wusste, dass die Menschen versuchen würden, diesen Flüssen zu folgen, um ins Paradies zu gelangen, hat er sie unter­irdisch verlaufen lassen, durch Täler, Berge und Ebenen und sie auf Bergen entspringen lassen, außer einem, den er sich aus einer Höhle ergießen ließ. Er hat das Paradies mit den Meeren, Flüssen und dem Ozean umgeben, dem übelriechenden Meer. So können die Menschen nicht zum Paradies gelan­gen. Sie können auch nicht sehen, an welcher Stelle die Flüsse in es ein­dringen,sondern nur sehen, dass sie in es eindringen,  sei es von Bergen, sei es von Tälern aus.“[44]

Die christliche Legende verschließt somit in gewisser Weise den Zugang zum Paradies, den der Talmud in Aussicht stellt.

Sie erwähnt außerdem indirekt die Gestalt des Mose mittels einer Anspielung auf den Sinai, auf dem Alexander mit seinen Truppen vor dem Einmarsch nach Ägypten Halt gemacht haben soll[45]. Die Metrische Homilie ihrerseits spielt auf die Besteigung des Mose-Berges durch Alexander an, nachdem er sich vom Zusammenfluss der beiden Meere entfernt hatte:

Er brach auf wegen des Lärms, der von diesem Ort ausging und die Seele des Königs ergriffen hatte. Er wandte sich geradewegs dem Mose-Berg zu. Er bestieg ihn und stellte sich auf den Gipfel, um die Länder zu betrachten“ (V. 100-105).

Diese Beschreibung entspricht augenscheinlich jener des Mose auf dem Berg Nebo:

„Mose stieg auf den Berg Nebo, den Gipfel des Pisga gegenüber Jericho, und der Herr zeigte ihm das ganze Land. Er zeigte ihm Gilead bis nach Dan hin, ganz Naftali, das Gebiet von Ephraim und Manasse, ganz Juda bis zum Mittelmeer, den Negeb und die Jordan­gegend, den Talgraben von Jericho, der Palmenstadt, bis Zoar. Der Herr sagte zu ihm: ‚Das ist das Land, das ich Abraham, Isaak und Jakob versprochen habe mit dem Schwur: Deinen Nachkommen werde ich es geben. Ich habe es dich mit deinen Augen schauen lassen. Hinüberziehen wirst du nicht“ (Deut 34, 1-4).

Diese verschiedenen Annäherungen zwischen Mose und Alexander in den syrischen Texten ergeben eine Art umgekehrte Symmetrie zwischen diesen beiden Gestalten: Mose wird nicht die Gebiete betreten, die zu sehen ihm vergönnt ist, wofür er im Gegenzug aber zu einer anderen, religiösen und spirituellen Dimension Zugang hat. Alexander wird die Länder erobern, die er gesehen hat, wird aber das ewige Leben verfehlen. Das ist genau die Situation, die der Koran vor Augen stellt, wie man sehen wird, in einer Geisteshaltung, die mit Ch. Genequand so wiedergegeben werden kann:

„Die Beherrschung der Welt und des Raumes, die Gott Alexander erlaubt hat, scheint ihn zu disqualifizieren für die Beherrschung der Zeit, die denjenigen wie al-Khadir oder dem König des gerechten Volkes vorbehalten ist,  die den Verführungen des Irdischen widerstanden haben“[46].  

Das Motiv des Zugangs zu einem ewigen Leben im Jenseits scheint für den Koran in der Tat jenes einer Verlängerung des Lebens in dieser Welt zu überlagern und schließlich fast ganz zu verdecken.

In dieser Sicht ist der Gegenstand der Suche des Helden im Talmud dem Ziel am nächsten, das im Koran vorgestellt wird, denn es geht nicht um eine unendliche Verlängerung irdischen Lebens, wie die griechischen Ver­sio­nen nahelegen, sondern letztendlich um ein ewiges Leben im Paradies, wobei in beiden Texten Unsterblichkeit eine religiöse, auf das künftige Leben verwei­sende Bedeutung annimmt. Wie oben betont wurde, vollzieht Alexander in bestimmten talmudischen Varianten eine Art Himmelfahrt ins Paradies, die an jene Esras erinnert. Auf diese Situation spielt auch die Syrische Legende an, aber in der Weise, dass eine solche Unternehmung für den griechischen Helden und seinesgleichen im profanen Bereich keines­falls zum Ziel führen kann.

Das dritte Zeugnis für eine Suche nach ewigem Leben findet sich in der Metrischen Homilie, deren Zuschreibung an Jakob von Serugh in den letzten Jahren in Frage gestellt wurde. Diese Homilie ist, wie gesagt, gebaut um zwei Hauptthemen, die man in der Koran-Erzählung wiederfindet: die Ent­deckung der Quelle des Lebens (V. 130 à 195, entsprechend zu Koran 18, 60-5) und die Einsperrung der Gogs und Magogs (V. 215 bis 385, ent­sprechend Koran 18, 83-98). Diese bemerkenswerte Parallele mitsamt der Nachbarschaft dieser Erzählung zu jener von den Sieben Schläfern in einer syrischen Predigtsammlung Jakobs von Serugh hat die Aufmerksamkeit von Massignon auf sich gezogen, der als erster eine direkte Beziehung dieses Textes zum Koran behauptet hat[47]. Lange Zeit danach haben andere For­scher gemeint, es handele sich um einen viel späteren Text, später sogar als der Koran, der fälschlicherweise Jakob von Serugh zugeschrieben wird.

Wiederum wegen des nur beschränkten Raums für diesen Artikel ist es nicht möglich, die von uns angestellte Untersuchung dieser Frage in allen  Details hier vorzustellen. Wir können nur die Schlussfolgerungen präsen­tieren, die von bedeutenden Syriologen geteilt werden, nämlich dass keine ernstzunehmenden Einwände gegen die Zuschreibung dieser Metrischen Homilie an Jakob von Serugh sprechen, mithin die Hypothese von Massignon nach wie vor gültig ist[48]. Auf dieser Grundlage soll die Form, die der Koran dieser Episode von der Quelle des Lebens gibt, im Einzelnen untersucht werden, indem sie in Parallele sowohl zu den entsprechenden Passagen der Metrischen Homilie, deren Datierung – wie gesagt – umstritten ist, als auch zu jenen der Version Beta gesetzt wird, deren Datierung vor dem Koran niemals in Zweifel gezogen wurde.

Nach diesen beiden Texten kommt Alexander nach mehreren Aben­teuern an den Eingang zum Land der Finsternis, was in allen griechischen und syrischen Versionen auftaucht. Er erinnert sich dann an das, was man ihm über die Quelle des ewigen Lebens erzählt hat. Von dieser Stelle an ist ein Vergleich mit dem Koran möglich:

Alexander-Roman (Version Beta, griech.)

Buch II, 39, 11: „Wir entdeckten einen Ort, wo eine kristall­klare Quelle entsprang, deren Wasser glänzte wie Blitze, und eine große Zahl anderer Brun­nen. Außerdem war die Luft dieses Ortes von angeneh­mem Duft (was dem an­­genehmen Geruch des Fisches im Talmud entsprechen könnte) und von nicht voll­ständiger Dunkel­heit. (12) Da ich Hunger hat­te, wollte ich Nah­rung zu mir nehmen, und nachdem ich den Koch mit Namen An­dreas gerufen hatte, sag­te ich zu ihm: „Bereite mir die Ta­geskost zu!“. Er nahm nun getrock­ne­ten Fisch und ging zum klaren Wasser, um die­­ses Ge­richt zu wa­schen. Aber kaum war er ins Wasser getaucht, nahm er wie­der Leben an und entwischte den Hän­den des Kochs. (13) Die­­ser aber, erschro­cken, un­ter­­ließ es, mir das Vor­kommnis zu be­richten, schöpfte aber Was­ser aus der Quel­­le, goß es in ein silbernes Gefäß und bewahrte es auf. Denn der Ort hatte viele reich­haltige Quel­len, und wir alle tran­ken von diesen Was­sern. Welch Un­glück für mich, dass er mir nicht von dieser Quelle der Unsterb­lichkeit zu trin­ken gab, die den Tieren das Leben zurückgibt, der Quelle, die mein Koch das Glück hatte zu fin­den!“.[49]

 

Metrische Homilie (Jakob v. S. zugeschr.)

V.156: „Ich habe sagen hören, dass dort (im Land der Finsternis) sich die Quelle des Lebens befindet“.  Man antwortet ihm, (V. 158) dass es dort viele Quel­len gebe und dass nie­mand wisse, welches die Lebensquelle sei. Ale­xander entschließt sich trotzdem, sich dort­hin zu begeben mittels Eselinnen, die von ihren Kleinen getrennt wurden und die, um wieder bei ihnen zu sein, den Rückweg finden, selbst in der Finsternis – ein aus der Version Beta bekanntes Motiv. Sodann sagt der alte Mann, der ihn berät, zu ihm ebenfalls: (V. 170 bis 185) : „Befiehl dei­nem Koch, einen ge­trock­neten Fisch mitzu­nehmen und, wenn er eine Quel­le sieht, den Fisch darin zu waschen; und wenn er in diesem Augenblick zwischen sei­­­nen Händen ins Le­ben zurückkommt, wird es sich  um die Quelle des Lebens han­deln, o König! Sie dran­gen ins Land der Finsternis ein, und als der Koch sich einer Wasserquelle nä­her­te, wickelte er den gesal­zenen Fisch aus und begann ihn zu wa­schen, aber er kam nicht zum Leben zurück, wie man ihm gesagt hatte. Schließ­lich kam er zu einer Quelle, die die Quelle des  Lebens war. Er näherte sich ihr, um den Fisch zu waschen. Und dieser kam wieder zum Leben und ent­wischte. Er hatte Angst, dass der König erzürnt wäre, und woll­te nur, dass der wieder zum Le­ben gekommene Fisch zurückkäme. Er stieg al­so ins Wasser, um ihn zu fangen, aber es ge­lang ihm nicht. So stieg er wieder aus dem Was­ser, um dem König zu sagen, dass er die Quelle des Lebens ge­fun­den ha­be. Er begann sehr laut zu schrei­en, aber sie hörten ihn nicht, dann stieg auf den Berg, und sie hörten ihn. Der König freute sich über die Ent­deckung der Quelle und machte kehrt, um darin zu ba­den, wie es sein Wunsch war. Er begab sich wie­der zum Berg, stieg aber nicht hinauf; und es ward ihm nicht von Gott gegeben, für im­mer zu leben (S. 175 des Buchs).

Koran

 

18, (60) : Und (damals) als Mose zu sei­nem Burschen sagte: „Ich werde nicht auf­hören (zu reisen), bis ich die Stelle erreiche, an der die beiden großen Wasser zusam­men kommen, auch wenn ich lange unter­wegs sein muss.“ (61) Als die beiden nun die Stelle erreicht hatten, an der sie zusammen kommen, vergaßen sie ihren Fisch. Der nahm seinen Weg in das große Wasser (und schwamm) auf und da­von. (62) Als die bei­den dann (die Stelle) passiert hatten, sagte Mose zu seinem Bur­schen: „Bring uns un­ser Frühstück! Die­se unsere Reise hat uns (viel) Mühe ge­macht.“ (63) Er sagte:

„Was meinst du wohl? (Vorhin) als wir uns zu dem Felsen zurück­zo­gen! Da habe ich den Fisch ver­gessen. Und nie­mand an­ders als der Satan hat mich ihn ver­ges­sen lassen, so dass ich (nicht) an ihn dachte. Und er hat seinen Weg in das große Was­­ser genom­men. (Ei­­ne Sache) zum Wundern!“ (64) Mose sagte: „Das ist es, was wir haben wollten.“ Und so kehr­­ten sie schnur­stracks zurück, woher sie gekom­men waren. (65) Da fan­den sie ei­nen von un­seren Die­nern, dem wir Barm­herzigkeit von uns hatten zu­kom­­men las­sen und den wir Wis­sen von uns ge­lehrt hatten“.

Die Absicht des Helden, sich zum Zusammenfluss der beiden Meere zu begeben, erscheint als Thema außerhalb des Koran nur in den beiden syrischsprachigen Versionen des Romans, der Syrischen Legende und der Metrischen Homilie. In ersterer ist es mit der Zuschreibung einer genauen Motivation an Alexander verbunden:

„die Höhe der Himmel messen, die Ausdehnung der Länder, und wissen, ob der Himmel auf Feuersäulen ruht, die aus dem Zentrum der Erde kommen“[50].

Seine Notabeln halten ihm Folgendes entgegen:

„Unser Herr möchte mit eigenen Augen sehen, worauf der Himmel ruht und was die Erde umgibt. Die schrecklichen Meere, die die Welt umgeben, werden Euch kein Durchkommen ermöglichen. Es gibt elf durchsichtige Meere, auf denen von Menschen gebaute Schiffe fahren, dahinter befinden sich zehn Meilen trockenes Land und hinter diesen zehn Meilen das übelriechende Meer, der Ozean, der die ganze Schöpfung umgibt“[51].

Dieser Ozean wird als undurchdringlich beschrieben, da seine Wasser ver­giftet und für die Menschen tödlich sind[52]. Die Absicht, die Höhe der Him­mel zu messen, kommt auch im Baylonischen Talmud vor. In der Version Epsilon des Alexander-Romans, die wohl später ist als der Koran, ist das Motiv vorhanden, wird aber dem Pharao Senonchosis zugeschrieben (42, 3)[53]. Die Metrische Homilie berichtet ebenfalls, dass sich Alexander auf diese Fahrt begeben möchte, um „die Länder und die Situation ferner Gegenden und auch die Meere, die Grenzen und alle Teile der Welt zu sehen“. Vor allem aber sagt er: „Ich möchte dorthin gehen, um das Land der Finsternis zu sehen“ (35-40), was die Suche nach der Quelle ewigen Lebens, die dort vermutet wird, einschließt. Genau wie in der Legende und praktisch mit den gleichen Worten warnen ihn seine Heerführer vor diesem Unternehmen:

„Herr, die schrecklichen Meere, die die Welt umgeben, werden dir nicht erlauben, weiter zu gehen in deiner Entdeckung der Erde“ (V. 45-50).

Um gegenüber seinem Drängen Recht zu behalten, sprechen sie dann den übelriechenden Ozean an:

„Unter diesen schrecklichen Meeren befindet sich der übelriechende Ozean, der, wie aus sicherer Quelle bekannt, voll furchterregender Dinge ist (…). Niemand ist jemals davon wiedergekehrt“ (55).

Die Verwandtschaft der beiden syrischen Versionen des Romans ist also offenkundig, trotz der unterschiedlichen Motivation der Reise.

Was den Koran betrifft, macht er keinerlei Anspielung in der Erzählung von Mose auf das Messen der Höhe der Himmel, sondern unterstreicht ledig­lich in Vers 60 die Entschiedenheit des Propheten in der Verfolgung seines Ziels, den Zusammenfluss der beiden Meere zu erreichen, müsste er auch fast ein Jahrhundert (ḥuquban) dafür unterwegs sein[54]. Die Erwähnung dieser hartnäckigen Entschiedenheit durch mehrere Versionen des Romans wurde von C. Jouanno herausgestellt; sie erläutert näherhin, dass es sich um einen Zug handelt, der in der Version Beta[55] auftaucht und sowohl durch die Legende wie die Metrische Homilie weiterentwickelt wird. Mose enthüllt dann klar das Motiv, das über seiner Reise steht: die Quelle des ewigen Lebens zu finden (V. 64): „Mose sagte: ‚Das ist es, was wir haben wollten.‘“ In diesem Punkt ist er unbestreitbar nahe an der Homilie, die in Vers 156 dieselbe Rechtfertigung für den Wunsch Alexanders nennt, die Reise zu unternehmen: „Ich habe sagen hören, dass dort (im Land der Finsternis) sich die  Quelle des Lebens befindet“.  Der Unterschied besteht in diesem Fall im Wesentlichen in der Lokalisierung, wobei allein der Koran den Zusammenfluss der beiden Meere als den Ort nennt. Er bringt damit eine völlig neue und originelle geographische Konfiguration, die offenbar von keiner späteren Version des Alexander-Romans übernommen werden wird[56].

Damit sind die Gemeinsamkeiten zwischen den syrischen Versionen und dem Koran aber nicht erschöpft. Denn auch der Koran spricht an­deutungsweise von der Schwierigkeit, sich am übelriechenden Ozean aufzu­halten, da er einen Felsen erwähnt, zu dem sich die Personen „zurück­gezogen haben“ (18,63). Diese beiläufige Bemerkung verweist offensichtlich auf eine dem Leser bekannte Episode des Romans. Was allein dieser Situation entsprechen könnte, ist der unerträgliche Lärm, der – wie gesehen – sowohl von der Homilie als auch von der Legende erwähnt wird. Dieses Detail stellt ein erstes solides Argument für das größere Alter der beiden syrischen Versionen gegenüber dem Koran dar.

Sodann erwähnen alle beide, die Metrische Homilie und der Koran, dass der Koch nicht sofort seinen Herrn von seiner Entdeckung in Kenntnis setzt,  aufgrund einer Verwirrung infolge der ungünstigen Umstände laut der ersten, wegen eines einer List des Dämons zuzuschreibenden Vergessens nach dem zweiten. Schließlich erwähnen beide gleichermaßen, dass der Held „schnurstracks zurückkehrt“ (Homilie V. 170-175; Koran 18,64), wo­von sonst, wie es scheint, nirgends die Rede ist. Dieses Indizienbündel macht ebenfalls eine Verwandtschaft zwischen den beiden Texten  wahr­scheinlich. Gleichwohl sind auch etliche Unterschiede festzuhalten:

Der erste bezieht sich auf das Vergessen des Fischs durch den Begleiter des Mose, das der Unachtsamkeit von Alexanders Koch in der Version Beta ziemlich nahe ist, während dieser in der Metrischen Homilie sorgfältig ver­schiedene Brunnen mit dem eigens mitgebrachten Fisch testet. Der zweite ist, dass in der Metrischen Homilie, wie in allen griechischen und syrischen Versionen, der Koch, bewusst oder zufällig, in Kontakt mit dem Wunder wirkenden Wasser gekommen ist, während dieses Thema im Koran nicht auftaucht.

Schließlich besteht der große Unterchied zwischen dem Korantext und den gesamten früheren Versionen, außer dem Talmud, darin, dass der Held – im Koran ist es Mose – nachdem er ein Abenteuer erlebt hat, das in allen Einzelheiten denen Alexanders gleicht, am Ende etwas entdeckt, während Alexanders Abenteuer, für ihn selbst, zu nichts führte. Genauerhin wird jemand entdeckt, ein Mann, den er an der Quelle ewigen Lebens trifft und der sein Initiant sein wird.

Manche muslimische Kommentatoren haben diese Person als al-Ḫaḍir identifiziert und sie als den Begleiter Alexanders gesehen, der das Wasser der Quelle berührt oder getrunken hat und der somit sich schon an ihr befand, als Mose dahin kam. Eine derartige Hypothese liegt unter anderen der Erzählung von al-Damīrī (gest. 1405) in seinem Kitāb Ḥayāt al-ḥayawān al-kubrā zugrunde. Danach war der Vater Alexanders Astronom. Er sah eines Abends einen Stern und schickte sofort einen Diener zu seiner Frau mit den Worten: „Komm, dich mit mir zu vereinigen, und wir werden einen Sohn haben, der ewig leben wird“. Die Frau erzählte, während sie sich fertigmachte, die Angelegenheit ihrer Cousine, die ihrerseits zu ihrem Mann ging und vor ihr ein Kind empfing. Der Astronom machte seiner Frau Vorwürfe wegen ihrer Geschwätzigkeit und sagte dann plötzlich:

„Komm, wir wollen uns vereinigen, denn ich sehe einen weiteren Stern aufsteigen. Unser Sohn wird die Welt regieren. So kam es, dass Alexander die Macht erhielt und nur sein Cousin al-Ḫaḍir die Quelle ewigen Lebens fand“[57].

Niẓāmī legt in seinem Werk Iskender Nāmeh Wert darauf, dass Alexander diese entgangen ist wegen zu großer Ungeduld. Al-Ḥakīm al-Tirmiḏī erläu­tert im einzelnen die Gründe und Umstände, wie al-Ḫaḍir zur Un­sterb­lichkeit gelangt ist, sieht aber im Unterschied zu anderen Autoren ihren Ursprung in den maqādīr (Dekreten), in der Präexistenz[58] .

Es bleibt festzuhalten, dass die meisten Kommentatoren der Tatsache, dass eine Hypothese wie die al-Damīrīs – was das Zusammentreffen dieser Person mit Mose betrifft, chronologisch gesehen, ein Anachronismus dar­stellt – kei­ne Bedeutung beigemessen zu haben scheinen. Somit kann um­gekehrt dem Koran nicht von vornherein Ungenauigkeit vorgeworfen wer­den, wenn er, zumindest auf den ersten Blick, die Anonymität der geheimnis­vollen Gestalt an der Quelle des Lebens wahrt.

An dieser Stelle liegt ein erstes Fazit nahe. Es geht darum, dass die Erzählung von der Quelle des Lebens im Koran trotz ihrer Kürze in äu­ßerster Dichte Einzelheiten enthält, die aufgrund ihrer Genauigkeit ohne jeden Zweifel auf frühere Versionen des Alexander-Romans  und speziell auf die Metrische Homilie verweisen. Hier seien sie nochmals zusammengefasst:

  1.   Die Entschiedenheit des Helden, seine Reise durchzuführen, die in allen Versionen des Romans, von der Version Beta und den beiden syrischen Texten an, festzustellen ist.
  2.   Die Erwähnung des Zusammenflusses der beiden Meere in den beiden syrischen Versionen.
  3.   Die Schwierigkeit, sich an diesem extremen Ort aufzuhalten, ebenfalls in beiden syrischen Versionen.
  4. Die Auferweckung des getrockneten Fischs in allen griechischen Versionen und der Homilie.
  5.   Die Tatsache, dass der Diener seinen Herrn nicht über seine Entdeckung in Kenntnis setzt, in allen griechischen Versionen und der Homilie.
  6.   Die Entscheidung zurückzugehen in allen griechischen Versionen und der Homilie.

Wenn man die Gesamtstruktur der Erzählung hinzunimmt, stellt sich die Homilie als der dem Koran am nächsten stehende Text heraus, abge­sehen davon, dass der Fisch per Zufall wiederbelebt wird, was auf die griechischen Versionen verweist.

Insgesamt genommen, ist es angesichts so vieler präziser Überein­stim­mungen unmöglich, sich vorzustellen, dass diese Anekdote irrtümlich ei­nem anderen Helden als dem Makedonier hätte zugeschrieben werden können. Daraus muss man schließen, dass die vom Koran vorgenommene Substitution völlig bewusst erfolgt ist und nichts mit einer Verwechslung von Personen  zu tun hat.

Nun wurde zu Beginn dieser Studie gezeigt, dass sich in jüdischen und christlichen Kreisen nach und nach eine Tendenz entwickelt hatte, Mose und Alexander, bei aller Wahrung ihrer gegensätzlichen Aspekte, einander anzunähern. Diese Annäherung kam vor deren Bezeichnung als „zwei­hör­nig“, während der Gegensatz sich auf ihre unterschiedliche Bestimmung bezog, bei dem einen Länder zu erobern, die er gesehen hatte, aber dafür bei der Suche nach der Quelle ewigen Lebens zu scheitern, beim anderen niemals das verheißene Land zu betreten, aber von Gott Gnadengeschenke anderer Art zu erhalten[59]. Nichtsdestoweniger war kein bekannter Text so weit gegangen, Mose direkt die Suche nach der Quelle ewigen Lebens zuzu­schreiben. Somit hat der Koran, wie es scheint, erstmals diesen Schritt getan. Außerdem geht er bei genauem Hinsehen noch viel weiter. Denn in der betreffenden Passage des Koran erscheint der Name Ḏū l-Qarnayn zum ers­ten Mal erst sehr viel später, in Vers 83, das heißt, nach der Initiation Moses in den Versen 66 bis 82, und dies, um ausdrücklich die Person zu nennen, die die unreinen Völker zurückdrängen und einsperren wird und die nie­mand anders als Alexander sein kann: „Und man fragt dich nach dem mit den zwei Hörnern“. Diese Weise, den griechischen Helden einzuführen, bricht mit der voraus­gehenden Erzählung von der Quelle des Lebens, indem angesagt wird, dass es jetzt um ein Abenteuer des Mannes mit zwei Hörnern geht, das heißt: Alexanders; dies impliziert, dass es vorher nicht um ihn ge­gangen sein kann, sondern sehr wohl um Mose, für den damit das Epitheton „zweihörnig“ ausgeschlossen wird.

Aus dem Bisherigen geht hervor, dass der Koran in dieser Passage, statt Einflüssen zu unterliegen, klar Position gegen die Lesart des hebräischen Terminus qarān als ‚zweihörnig‘ für den vom Sinai herabkommenden Mose bezieht. Die Berichtigung der Sicht der Dinge, die er bei dieser Gelegenheit anbringt, könnte so formuliert werden: Mose ist ein Prophet, der von Gott Glanz und Verklärung (qarān) empfangen hat, doch er hat keine irdische Macht erhalten, die durch zwei Hörner symbolisiert wird; umgekehrt ist Alexander ein Held, der von Gott mit irdischer Macht ausgestattet worden  ist, um hier unten eine Mission zu erfüllen, weshalb ausschließlich ihm der Beiname „Mann mit zwei Hörnern“ zukommt. Weitab von einer Konfusion oder Verwechslung, welche zahlreiche Orientalisten angenommen haben, und vor ihnen die Redaktoren der „Anlässe der Offenbarung (asbāb al-nuzūl)“, warnt im Gegenteil der Koran seine Leser vor dem Irrtum, der in jüdischen und christlichen Kreisen der Zeit ohne Zweifel ziemlich verbreitet war, nämlich die Personen Mose und Alexander ohne wirklichen Grund einander anzunähern.

Es bleibt jedoch richtig, dass, wie soeben gezeigt wurde, was Mose in der Episode der Quelle des Lebens erlebt, Punkt für Punkt, zumindest in et­lichen konkreten Details, dem entspricht, was von Alexander erzählt wird. Der Koranleser soll daraus seine Konsequenzen ziehen.

Insofern die Hypothese einer Verwechslung bzw. Konfusion, wie ge­zeigt, endgültig ausgeschlossen werden muss, ist die einzig mögliche Erklä­rung, dass es sich nicht nur um eine gewollte Substitution von Personen handelt, sondern auch und vor allem um eine „Neuverteilung“ der gesamten Thematik „Quelle ewigen Lebens“. Durch dieses Verfahren gibt der Koran zu verstehen, dass diese Erzählung von der Quelle des Lebens zur Gänze in die Welt der Bibel zurückversetzt werden muss, und zwar nicht nur aus rein religiösen und spirituellen Gründen, sondern auch aus der Sicht der Ideen­geschichte. Diese Vorgehensweise baut auf einer radikalen Bestreitung der Zugehörigkeit dieser Episode zum Alexander-Roman auf und somit muss ihre Restitution in den biblischen Kontext als eine Rückkehr zum Ursprung verstanden werden. Tatsächlich stellt sich diese Hypothese in unseren Ta­gen, rein wissenschaftlich ideengeschichtlich betrachtet, als höchst wahr­schein­lich dar, insofern sich herausgestellt hat, dass diese Episode unbe­streitbar später anzusetzen ist als die Redaktion des Pseudo-Kallisthenes, da die ersten griechischen Versionen, die sie bringen, schon teilweise judaisiert oder christianisiert waren. Heißt dies, dass der Koran zu verstehen geben möchte, dass die in den späten Versionen des Romans fälschlicherweise Alexander zugeschriebenen Abenteuer in Wirklichkeit, so wie sie erzählt werden, Mose zugestoßen sind? Nur eine Prüfung der Details des Textes kann zu einer Antwort auf diese Frage führen.

Die Geschichte des Mose im Koran scheint von allem Anfang an, eben gerade mittels ihrer Parallelität mit dem Alexander-Epos, in Wirklichkeit auf mehrere biblische Fundamentalthemen zu verweisen. Hier ist zunächst auf die Erwähnung der – zeitlich gemeinten – Länge seiner Reise verwiesen; sie erinnert an die lange Wanderung der Hebräer ins Gelobte Land. Sodann auf die Darstellung einer aus einer Felshöhlung entspringenden Quelle; sie verweist auf die Felsenquelle, die Mose am Fuß des Sinai entspringen ließ; weiterhin dass Mose nicht Zeuge des Wunders war, ebenso wenig wie Ale­xander, aber auch und vor allem, dass der eine wie der andere nicht mit eigenen Augen das verheißene Land schauen konnte. Schließlich ist das Um­kehren des Mose und seines Begleiters ein Verweis auf die Umkehr des Volkes Israel. Das einzige nicht einer Episode aus dem Exodus ent­sprechende Element ist die Begegnung des Mose mit einer geheimnisvollen Person, die ihm den Sinn des Erlebten erhellen wird.

Dieser Initiant muss – das ist ein erster evidenter Punkt – bereits zur Unsterblichkeit gelangt sein, da er sich schon an der Quelle des Lebens, hier als Zeichen für Unsterblichkeit zu verstehen, aufhält. Die Kommentatoren haben sich nicht geirrt, als sie ihn mit al-Ḫaḍir identifiziert und als Begleiter bzw. Koch Alexanders verstanden haben. Dennoch ist eine solche Identifi­zierung, wie oben angemerkt, ein offenkundiger Anachronismus[60]. Ande­rer­seits darf diese Person in dem Maße, wie der Koran die ganze Episode von der Quelle des Lebens in einen biblischen Kontext zurückversetzt, logi­scherweise nicht in Beziehung stehen zum Alexander-Roman, dessen The­men hier nur noch dekorative Funktion haben. Es handelt sich also um eine biblische Gestalt, die das ewige Leben nicht einfach von einer Quelle, son­dern von Gott selbst erhalten haben muss. Nun haben laut Bibel nur zwei Menschen vom Schöpfer den Vorzug erhalten, von dieser Welt aus unmittelbar ewiges Leben zu erhalten, Elia und Henoch. Manche Spezialis­ten haben in dem gerechten Diener von Sure 18 Elia gesehen, vor allem aufgrund des Inhalts der Initiation, die er Mose zuteil werden lässt. Man sollte sich jedoch nicht vorschnell dieser Hypothese anschließen; auf dem Hintergrund der biblischen Chronologie hat sie ebenfalls anachronistischen Charakter, den man a priori nicht für den Koran annehmen sollte angesichts der Präzision, die er in anderen Passagen, wie gesehen, aufweist. Es bleibt also nichts anderes übrig, als den Hinweisen zu folgen, die er bezüglich dieser Gestalt gibt. Es sind zwei: nämlich dass er zu „den Dienern gehört, die von Gott eine Gnade empfangen haben“ und dass er ausgestattet war mit einer „von Gott kommenden Wissenschaft“.

Diese beiden Charakterisierungen entsprechen genau den Zügen Henochs am Anfang des Henoch-Buchs:

Buch Henoch Koran
1. (1 Hen I, 8): „Mit den Gerechten wird Er Frieden schlie­ßen (…) Er wird ihnen Barmherzig­keit erweisen, und sie alle  werden Gott angehören.“

 

2. (1 Hen I, 2) : „Henoch brach­te seine Gleichnisse vor – Es war ein gerechter Mann, dem von Gott ein Gesicht geoffenbart wurde (…) Was die heiligen Engel mich sehen lie­ßen, von ihnen habe ich alles ge­hört, und es betrachtend habe ich das Wissen erlangt“.

1. (18, 65): „Da fanden sie einen von unseren Dienern, dem wir Barmherzigkeit von uns hatten zukommen lassen (…)“  (fa-waǧadā ‘abdan min ‘ibādinā  ataynāhu raḥmatan min ‘indinā)

2. (18, 65) „ (…) und den wir Wissen von uns gelehrt hatten”

 

 

Hinzu kommt, dass manche Traditionen dieser Gestalt den Titel “gerechter Diener” (al-ʿabd al-sāliḥ)[61] beilegen, wobei “gerecht” gerade eines der Cha­rak­­teristika Henochs ist, wie André Caquot feststellt : „Gerecht ist ein Henoch oft beigelegtes Epitheton“[62]. Dies bedeutet insgesamt, dass diese Identifikation mit Henoch zweifelsohne in den Anfängen des Islam bekannt war.

Angesichts dieses Bündels von Übereinstimmungen kann kein Zweifel da­ran bestehen, dass der Koran hier von Henoch spricht. Ihm wie allen Gerechten, an die er sich wendet, hat Gott folgendes Versprechen gegeben:

„Sie werden die Zahl ihrer Tage vollenden, ihr Leben in Frieden wird lange dauern und ihre Jahre werden zahlreich sein, glücklich in Hei­terkeit und dauerndem Frieden alle Tage ihres Lebens“ (1 Hen V, 9).

André Caquot notiert dazu:

„Die Gerechten werden sich eines langen Lebens erfreuen und ihrem irdischen Leben wird ewige Glückseligkeit folgen“[63].

An einer anderen Stelle wird gesagt:

„Und nun werden alle Gerechten entkommen, sie werden am Leben bleiben, bis sie Tausende von Nachkommen gezeugt haben. Alle Tage ihrer Jugend und ihres Alters werden sie in Frieden vollbringen“ (X, 17).

Doch Henoch, Gerechter unter Gerechten, ist insofern ein besonderer Fall, als er nach dem Alten und Neuen Testament von Gott direkt in den Himmel entrückt wird:

„Henoch war seinen Weg mit Gott gegangen, dann war er nicht mehr da; denn Gott hatte ihn aufgenommen“ (Gen 5,24).

„Aufgrund des Glaubens wurde Henoch entrückt und musste nicht sterben; er wurde nicht mehr gefunden, weil Gott ihn entrückt hatte; vor der Entrückung erhielt er das Zeugnis, dass er Gott gefiel“ (Hebr 11, 5).

Dieses außergewöhnliche, im wörtlichen Sinne fantastische Schicksal Henochs scheint in Sure 18 auf, wenn man sich genau mit dem Text beschäftigt; ebenso führt der wirkliche Ursprung des Themas „Quelle des ewigen Lebens“ nicht zum Alexander-Roman. Es ist der Gerechte, der über Jahrhunderte hin Seinesgleichen zu erbauen vermag, und nicht der Koch Alexanders.

Indem der Koran diese uralte Gestalt als den Initiant des Mose bezeich­net, lässt er sich keinen der Anachronismen zu Schulden kommen, die viele alte und moderne Kommentatoren ihm zugeschrieben haben. Es ist im Übri­gen hinzuzufügen, dass ebenso wenig wie die Chronologie der Inhalt der Belehrungen, die er Mose gibt, Erstaunen erregen muss, denn diese gleichen in vielerlei Hinsicht jener, die Elia Elisäus erteilt. Es handelt sich jeweils um göttliche Wissenschaft und Weisheit, die im Unterschied zur menschlichen nicht durch Zeit und Raum begrenzt ist, entsprechend der bemerkenswerten Definition Jakobs von Serugh:

„Das Wort des Lebens hat weder Zeit noch Ende noch Anfang, denn alle Zeiten gehören ihm“[64].

  1. Schluss

In einer derartigen Perspektive muss man zweifelsohne die Art und Weise betrachten, wie der Koran mit den „Legenden der Alten“ umgeht. Diese sind nicht in allen ihren Details wörtlich zu nehmen, was zu fruchtlosen Spekulationen ohne Ende führen würde, werden aber mit neuen Funk­tionen als ‚Wahrheitsvektoren‘ aufgeladen. Die jungen Leute der Höhle werden vor allem als Zeichen der Auferstehung präsentiert, ebenso wie ihr Hund, der als Anubis-Darstellung dieses Zeichen sozusagen verdoppelt. Sie haben aber auch noch eine weitere, ebenso wichtige Funktion, nämlich davor zu warnen, das Jüngste Gericht in sehr ferner Zukunft zu erwarten und entsprechend mit einer gewissen Frist bis zu seinem Eintritt zu rechnen.

Wie die Predigt des Bischofs von Ephesus etwa 180 Jahre früher führt der Koran die Geschichte der Leute der Höhle im allgemeinen Kontext der Frage nach dem Auferstehungsglauben ein: „Das ist (eines) von den Zeichen Gottes“ (18,17). Dieses Zeichen hat die Funktion,  nicht nur die Realität der leiblichen Auferstehung zu betonen, sondern vor allem eine Auferstehungs­erfahrung vorzustellen, indem als eine ihrer Modalitäten verdeutlicht wird, dass der Tod nur ein langer Schlaf ist, von dem man am Ende  glauben wird, er habe nur einen Tag gedauert:

„Wir weckten sie nun auf, damit sie sich untereinander fragen würden. Einer von ihnen sagte: ‚Wie lange habt ihr verweilt? ‘ Sie sag­ten: ‚Einen Tag, oder den Teil eines Tages.‘ Sie sagten (schließ­lich…): ‚Euer Herr weiß darüber am besten Bescheid, wie lang ihr verweilt habt“ (18,19).

Dieser Eindruck, nur eine sehr kurze Weile geschlafen zu haben, obwohl sich der Betreffende in einem „langen Schlaf“ befand, taucht auch an einer anderen Koranstelle auf, und zwar in derselben Formulierung:

„Der, der an einer Stadt vorbeikam, die in Trümmern lag. Er sagte: ‚Wie sollte Gott diese (Stadt wieder) zum Leben erwecken, nachdem sie ausgestorben (und verödet) ist?‘ Da ließ Gott ihn (auf) hundert Jahre sterben. Hierauf erweckte er ihn (wieder zum Leben) und sagte: ‚Wie lange hast du (in deinem Todesschlaf) verweilt? ‘ Er sagte: ‚Einen Tag oder einen Teil davon‘“ (2, 259)[65].

Diese Erzählung bezieht sich, wie oben bereits erwähnt, auf den langen Schlaf Abimelechs, des treuen Dieners Jeremias, der in Schlaf versetzt wurde, damit ihm die trostlose Vision von der Zerstörung Jerusalems erspart bliebe. Dies wird in den Paralipomena Jeremiae (5, 30) erzählt und war in der orientalischen Christenheit der Spätantike sehr verbreitet. Interes­santerweise hat R. Basset eine schon alte Verbindung zwischen die­sen beiden Erzählungen nachweisen können, was ein griechisches Gebet bezeugt:

„So hast du früher deinen Diener Abimelech im Tempel des Agrippa heimgesucht und ihn in einen tröstlichen Schlaf versetzt (…). Ebenso hast du während der Tage des abtrünnigen Königs Decius die sieben Kinder verherrlicht, die Bekenner und Zeugen deines Kommens“[66].

Diese vom Koran zum Exempel erhobene Sicht der Dinge hat die Tendenz, den Tag der Auferstehung und des Gerichts als für jedermann unmittelbar bevorstehend zu präsentieren, wann auch immer der Zeitpunkt seines Todes gewesen sein mag; sie stellt somit eine wichtige apokalyptische Lektion dar. Diese Mahnung ist ganz besonders an die Christen gerichtet. Denn in seinem weiteren Kontext betrachtet, gibt sich die Erzählung von den Leuten der Höhle als ein Warnzeichen an jene, die sagen: „Gott hat sich ein Kind zugelegt!“, um sie vor der schrecklichen Strafe zu bewahren, die sie erwartet (18, 4-5). Diese vorausgehende Passage stellt die Ungläubigen, die sagen, Gott habe sich eine Nachkommenschaft zugelegt, somit keine Kennt­nis von Gott haben und über ihn Lügen verbreiten, den Gläubigen gegen­über, die bejahen, dass Gott keine Nachkommenschaft hat, und über ihn die Wahrheit sagen. Die einen erwartet am Ende eines langen Schlafes, der ihnen nur einen Tag gedauert zu haben scheint, die schlimmste Strafe, die anderen die höchste Belohnung. Da das dominierende Thema am Ende der Sure das Dogma von der Göttlichkeit Jesu ist, ist die koranische Erzählung von den Leuten der Höhle Beispiel einer „völligen Umwendung“ einer alten erbaulichen Erzählung gegen jene, die bestimmten Dogmen ihres ursprüng­lichen Entstehungszusammenhangs verhaftet geblieben sind.

Ebenfalls eine Umwendung, wenn auch eines ganz anderen Typs, voll­zieht der Koran bezüglich des Themas „Quelle ewigen Lebens“ des Alexander-Romans. Denn ebenso wie er die fromme Fiktion von den Leu­ten der Höhle für seine eigene Belehrung in Dienst nimmt, was ja auch schon die christlichen Prediger der Vergangenheit getan hatten, verwendet er für dasselbe Ziel bestimmte legendarische Erzählungen profanen Ur­sprungs. Auf diesen Texttyp wendet er jedoch, wie wir im Vorausgehenden feststellen konnten, eine Strategie an, wie man sie weder im Talmud noch in den Predigten Jakobs von Serugh und anderer Theologen findet. Seine Innovation besteht darin, sein Vorgehen in eine auf die Ideengeschichte bezo­gene Reflexion einzubetten. Im Wissen, dass im Rahmen einer progressiven „Sakralisierung“ des Alexander-Romans[67] – wie besonders seine syrischen Versionen bezeugen – in jüdischen und christlichen Kreisen verschiedene Annäherungen zwischen Mose und Alexander verbreitet wa­ren, unternimmt der Koran eine Klärung dieser Frage. Er bezieht klar Posi­tion gegen diese Identifikation, die Züge eines Propheten mit denen eines einfachen Herrschers vermischt, indem er Alexander nur das zurückgibt, was ihm gebührt. Ein solches Vorgehen ähnelt in gewisser Hinsicht dem der Legende selber, die auch nur die Episoden von der Eroberung der Länder und vom Einsperren der unreinen Völker aufgegriffen hat – und sich dabei noch die Mühe macht zu erklären, dass jene vom Eingehen des griechischen Helden ins Paradies nicht stattgefunden hat. Der Koran geht aber insofern noch darüber hinaus, als er die Episode von der Quelle des Lebens gänzlich in ein biblisches Milieu zurückverlegt, und so dafür wirbt, ihre Einfügung in den Alexander-Roman  nur als Anleihe zu verstehen und auf ihre eigent­liche Quelle zurückzuführen.

Zusammenfassend lässt sich die Position des Koran in dieser Frage folgendermaßen beschreiben: Legenden und Fabeln, selbst profanen Ur­sprungs, können durchaus als Vektor der Erbauung dienen, jedoch unter der Bedingung, dass die zum Bereich des Heiligen und der Offenbarung gehö­renden Themen nicht unbesehen damit vermischt werden. Auch wenn der Gläubige seiner Phantasie über die Taten Alexanders, sofern sie auf die unmittelbar bevorstehende Letzte Stunde hinweisen, freien Lauf lassen kann, ohne einen Schaden davonzutragen, ist es andererseits nicht gut, sich das ewige Leben als etwas vorzustellen, das auf wunderbare Weise durch eine Quelle vermittelt werden kann, da es doch wesentlich ein Geschenk Gottes an die Menschen ist und er allein es ihnen vermitteln kann. Mit anderen Worten, das ewige Leben ist eine zu ernste Angelegenheit, um einer Fabel überlassen zu werden, zumal manche schon dazu tendieren, es für eine reine Fabel zu halten. Das ewige Leben ist ein Gegenstand des Glau­bens, der im Bereich des Göttlichen bleiben muss und nur gelehrt und verdeutlicht werden darf von Propheten und Gerechten. Wie Gott seinen treuen Diener Henoch aus den Kontingenzen dieser irdischen Welt hinweg­genommen und in die zukünftige Welt versetzt hat, so ist es auch er, und er allein, der die Toten am Jüngsten Tag auferweckt und ihnen die Pforten des Lebens im Jenseits öffnet.

Das ewige Leben ist ein religiöses Mysterium und muss in der religiösen Sphäre bleiben, wie auf der anderen Seite die Erzählung von den Leuten der Höhle im Bereich der Erbauung bleiben muss, fern jeder historisierenden Spekulation, die ihre Wahrheit vernichten würde. Folglich muss, wenn es einerseits völlig akzeptabel und gar empfehlenswert ist, die Geschichte Ale­xanders zu sakralisieren und aus ihm einen Diener Gottes zu machen, mit einer eschatologischen Ansage als Auftrag, andererseits jedoch jedes Risiko einer Desakralisierung von Themen, die wesensgemäß zur religiösen Späre gehören, wie  Auferstehung und ewiges Leben, ausgeschlossen sein.

Schließlich erscheint die historische Wissenschaft selber im Koran als ein mögliches Werkzeug im Dienst an der Wahrheit, unter der Voraus­setzung, dass sie angemessen eingesetzt wird. Somit begibt sich der Koran­text in Sure 18 zweifach auf das Gebiet der Ideengeschichte: einmal um den relativen Charakter von Zahlenangaben und die damit verbundene Gefahr zu verdeutlichen, daraus Vermutungen über allein Gott vorbehaltene Gegen­stände ziehen zu wollen; sodann um unangemessene Anleihen bei einer Fabel zu entlarven[68], – selbst wenn ihre Grundlage historisch ist und sie in die religiöse Sphäre eingebettet ist. Das Ziel dieser Intervention ist, wörtlich gesprochen, dem Kaiser zu geben, was des Kaisers – hier: Alexan­ders – ist, und Gott, was Gottes ist, mit anderen Worten: dem Bereich der Bibel, was zur Prophetie gehört, und dem Heldenroman, was seinen han­deln­den Personen zukommt[69], – selbst wenn diese nichts tun, was nicht Gottes Willen erfüllt[70].

Dies sind die Lehren der Sure 18 über die Art und Weise, wie der Koran Legenden, Fabeln und inspirierte Erzählungen behandelt.

Vermittels dieser Prozesse wird diese Sure zu einem besonders reprä­sen­tativen Modell der Verbindung und Neugruppierung aller früheren Sym­­bole, Zeichen, Gleichnisse, Glaubensauffassungen und Erzählungen über die Stunde, den Zeitpunkt der Auferstehung[71]. Zweifelsohne hat ihr des­halb Massignon den Beinamen „Apokalypse des Islam“ gegeben[72]. In der Tat konzentriert hier der Koran in gewisser Weise die Weltzeit in einem „alles einschließenden Augenblick“, dessen Eintreten niemand beschleu­nigen oder verzögern kann, indem er in dieser Sure anekdotenhafte Ge­schichte, fromme Inspiration und Heldenlegende auf ihr jeweiliges Gebiet zurückführt und so der metaphysischen Geschichte der Menschheit den ihr zukommenden Platz verschafft. Es geht um den Augenblick, in dem sich für jeden sein Heil oder Unheil im Hinblick auf das künftige Leben entscheidet.

[1]   Der Originalbeitrag hat den Titel Les „légendes des anciens“ dans le Coran. Récit des Dormants de la caverne et Roman d’Alexandre à partir de la sourate 18. Aus dem Französischen übertragen von Dr. Werner Müller, Saarbrücken.  Koran­texte werden nach der Übertragung von Rudi Paret, Der Koran. Übersetzung, Stutt­­gart u.a., 9. Aufl. 2004, wiedergegeben. Größere Abweichungen des franzö­sischen Korantextes von der Paret-Übersetzung werden innerhalb der Zita­te durch „G.“ gekennzeichnet. Bibelzitate werden nach der Einheits­über­setzung wiedergegeben.

[2]   Professeur d’histoire des idées et de civilisation arabo-musulmane, Université Lyon 3 Jean Moulin

[3]   „Grundlinien der Theologie des Koran, Grundlagen und Orientierungen“, in: Schlaglichter. Die beiden ersten islamischen Jahrhunderte, hg. von Markus Groß, Karl-Heinz Ohlig  (= Inârah 3, Schriften zur frühen Islamgeschichte und zum Koran) Verlag Hans Schiler, Berlin 2008, 320-370; „Der Begriff Buch im Koran im Licht der pseudoklementinischen Schriften“, in: Vom Koran zum Islam, hg. Von Markus Groß, Karl-Heinz Ohlig (= Inârah 4, Schriften zur frühen Islamgeschichte und  zum Koran), Verlag Hans Schiler, Berlin, 2009, 397-482.

[4]   Bernard Barc, Les arpenteurs du temps, Essai sur l’histoire de la Judée à la période hellénistique, Histoire du texte biblique 5, éd. du Zèbre, Lausanne, 2000, 87 f. Er weist in seinem Werk nach, dass nicht nur die Torah nach diesen Regeln konstruiert ist, sondern dass auch mehrere Kommentare, insbesondere der von Rabbi Aqiba, in Rückgriff auf das Modell der Bibel nach diesen Konventionen erarbeitet sind.

[5]   In mehreren Versen (6, 25; 27, 68; 23, 83 ; 46, 17 ; 83, 13) wird der Ausdruck Ungläubigen in den Mund gelegt, um die Auferstehung zu bezeichnen, an die sie nicht glauben wollen oder an der sie stark zweifeln. Manchmal ist die gesamte Botschaft damit gemeint: „Und wenn ihnen unsere Verse verlesen werden, sagen sie: ‚(Ja) wir haben (es) gehört. Wenn wir wollten, würden wir etwas vortragen, was dem gleich ist. Das sind nichts als die Schriften der früheren (Genera­tionen)‘“ (8, 31). Oder auch: „Und wenn man zu ihnen sagt: ‚Was hat euer Herr herangesandt?‘, sagen sie: ‚(Es sind nichts als) die Schriften der früheren (Generationen)‘“ (16, 24 ).

[6]   Diese Auffassung vertritt Alan Dundes : „If Allah Himself acknowledges that He uses parables (which includes „folktales” in the modern sense) for the edification and enlightenment of mankind, who are we mere mortals to say otherwise or to deny the presence of folktales in the Qur’an? In the Qur’an there are indeed „fables of the ancients” placed there by divine decree, full of worldly wisdom to be favored and savored for generations to come” (Fables of the Ancients? Folklore in the Qur’an, Rowman and Littlefield, Lanham * Boulder * New York * Oxford, 2003, S. 71).

[7]   Dies trifft für Sayyid Qutb zu, der in seinem Korankommentar eine Identi­fi­ka­tion Alexanders mit Ḏū-l-Qarnayn ablehnt mit dem Vorwand, der Koran könne den Muslimen nicht die Verehrung einer Gestalt der Ǧāhiliyya vorschlagen, der dunklen vorislamischen Epoche des Polytheismus: „Alexander der Große war Heide, während die im Koran erwähnte Gestalt Monotheist ist und an die Auf­erstehung glaubt“ (Sayyid Qutb, Fī zilāl al-qur’ān, éd. Dār al-Šurūq, 6 vol., tafsīr sūrat al-Kahf, und auf Englisch: In the shade of the Qur’ân, vollständige Über­setzung in 18 Bd., übers. u. hg. v. M. A. Salahi u. A. A. Shamis, The islamic Foundation, Leicester, U.K., vol. 11).

[8]   Alle diese Informationen sind entnommen aus: François Jourdan, La tradition des Sept Dormants, Une rencontre entre chrétiens et musulmans, Maisonneuve Larose, Paris, 2001, S. 45-57.

[9]  Es handelt sich um die Umstände, die bezüglich der Offenbarung dieser Sure berichtet werden. Muqātil Ibn Sulaymān (angebl. gest. 767), dem die Mehrheit der Kommentatoren folgt, erzählt, dass die Juden den Gegnern Mohammeds geraten hätten, ihm zur Prüfung seines Prophetentums drei Fragen zu stellen: Er solle sagen, was es zu wissen gibt über die jungen Leute, die vor langer Zeit verschwunden sind; er solle sagen, was es mit  Ḏū-l-Qarnayn  auf sich hat, und schließlich möge er vom Geist (rūh) reden. Mohammed habe sie gebeten, am nächsten Tag wieder zu kommen, aber er hatte keine Antwort, und es dauerte drei Tage, bis ihm Gabriel erschien und ihn über diese Fragen belehrte. Manche meinten, dass Vers 18, 23 auf dieses vorübergehende Nichtwissen anspielt. Wir neigen eher zur gegenteiligen Hypothese, nämlich dass die „Anlässe der Offen­barung“ dieser Passage sich von diesem Vers inspirieren ließen, ohne jedoch seinen wahren Sinn zu verstehen.

[10]    Halten wir fest, dass im Koran der Begriff ‚Vergessen’, Weglassen durch den Propheten eine ganz eigene, besondere Funktion hat, die zu erläutern hier zu weit führen würde. In den Versen 87,6-7 umschreibt er eine Sendung des Gesandten, der beauftragt ist, das Buch (Torah, Evangelium und andere heilige Texte) zu rezitieren, wobei ausgemacht ist, dass, was er vergessen wird, daraus gelöscht sein wird: „Wir werden dich (Offenbarungstexte) vortragen lassen. Vergiss nun nichts (davon), außer was Gott will! Er weiß, was verlautbart, und was geheimgehalten wird“. Manche Übersetzer haben zu Unrecht angenommen, es handele sich um die Rezitation des Koran. Es geht aber in Wirklichkeit um die Rezitation früherer Schriften mittels des Koran.

[11]    Siehe F. Jourdan, La tradition des Sept Dormants, a.a.O. 97, der Acta Sanctorum, Martyrologium Romanum, Brüssel 1940, 6, 383 zitiert.

[12]    Halten wir fest, dass die Beziehung zwischen Wohltat und Nützlichkeit für die Wahrheit im Koran fundamental ist.

[13]    Nach dem Jubiläen-System, das der Komposition der Torah zugrunde liegt, ist der Algorithmus 32 das universale Modell, von dem sich das ganze System der biblischen und somit der Weltgeschichte ableitet. Die 33 bezeichnet somit den Zeitpunkt des „Gerichts“. Persönliche Mitteilung von Bernard Barc.

[14]    Gemäß dem Paulus-Wort: „Damit wir zum vollkommenen Menschen werden und Christus in seiner vollendeten Gestalt darstellen“ (Eph 4, 13).

[15]    Le hasard programmé, le miracle scientifique du Coran, Le Soleil se lève à l’Occident – Science pour l’Heure, Centre International de Recherche Scientifique, al-Burak éd. 1999.

[16]    Was die Kenntnis der Neunzehn durch die Leute des Buchs betrifft, würde eine genaue Darstellung den Rahmen des vorliegenden Beitrags in diesem Band bei weitem sprengen. Wir verweisen deshalb auf unser demnächst erscheinendes Werk: Der Koran. Text und Kontext.

[17]    Das ist beispielsweise der Fall für die natürliche Gotteserkenntnis durch fitra. Vgl.dazu unseren Artikel: „Nature innée“, in: Dictionnaire du Coran, sous la direction de M. A. Amir-Moezzi, Robert Laffont, Paris, S. 591-595.

[18]    Preisendanz, Papyri graecae magicae, Die griechischen Zauberpapyri, II, 1994, 231-214.

[19]    s. Hannig, R., Großes Handwörterbuch Ägyptisch- Deutsch (2800-950 v. Chr.), Mainz 1995, S. 1041, Zeichen E 15; auf S. 1031 wird Anubis eindeutiger als „Gott mit Hundekopf“ bezeichnet.

[20]    Diese Möglichkeit kann definitiv ausgeschlossen werden, wie wir mehrfach gezeigt haben, da sie keinen Platz haben kann in einem ganz der Wahrheit gewidmeten Text, nach dem alles, was wahr ist, auch nützlich ist.

[21]    Claude Carrier, Textes des Pyramides de l’Egypte ancienne, Paris, Cybèle, 2010.

[22]    Jean-Pierre Corteggiani, L’Egypte ancienne et ses dieux, Fayard, 2007, S. 43-44.

[23]    In der Erzählung Jakobs von Serugh wird nur präzisiert, dass “der Herr einen Engel zurückließ, um ihre Leiber zu bewachen“ (V. 61 der kurzen Version; vgl.: F. Jourdan, La tradition des Sept Dormants, op. cit., S. 63). Die Präzisierung von Rechts und Links ist somit spezifisch für den Koran.

[24]    Siehe die Einführung in diesen Text von Anne Boudhors in:  Ecrits Apocryphes chrétiens II, La Pléiade, N.R.F. Gallimard, 2005, S. 28

[25]    Siehe Jean-Claude Grenier, Anubis alexandrin et romain, Brill, Leyde, 1997, S. 37 note 159 und S. 38.

[26] Insbesondere seine Auferweckung des Sohns der Witwe in 1 Könige 17, 17-23.

[27]    Vgl. dazu: Geneviève Gobillot, Le Livre de la profondeur des choses d’al-Hakîm al-Tirmidhî, Presses universitaires du Septentrion, Lille, 1996, S. 208-209.

[28]    Dieser Inhalt erinnert aufgrund mancher Aspekte an 2 Könige 2. Es ist leider nicht möglich, den Inhalt dieser Belehrung im vorliegenden Beitrag zu behandeln; dies würde umfangreiche Ausführungen erforderlich machen.

[29]    Diese Zahl ist von hoher symbolischer Valenz bei den Ismaeliten wie bei den Azariten und den Karmaten. 309 Jahre stellen die Zeit der Ungerechtigkeit dar, die während der sieben verborgenen Imame andauert. Diese Zeit endet im Jahr 309 Hidschra und leitet die Revolte des fatimidischen Antikalifats ein; sie reali­siert somit, was die Leute der Höhle präfigurierten. Für die 12er-Schiiten sind 309 Jahre die Dauer der Herrschaft des künftigen Mahdī. Bei den Sunniten sind die Sieben Gefährten die Heiligen der Endzeit. Die Periode von 309 Jahren (300 Sonnenjahren) ist wie eine Nacht mystischer Versenkung, ein besonderer Schlaf, dessen Ziel das Erwachen ist. Das Jahr 309 Hidschra war das des Märtyrers al-Ḥallāǧ, dem die Aufgabe zukam, seine Gefährten aufzuwecken, nachdem er selbst aufgeweckt worden war. Schließlich ist sie nach Hamadou Hampâté Bâ der numerische Wert der Buchstaben des Namens Jesu. ʿĪsā  entspricht 390, oder 309, der Summenzahl der Zahlenwerte des Anagramms der 14 geheimnisvollen Initialen, die man in Zweier- oder Dreiergruppen am Anfang bestimmter Koransuren findet  (alif-lām-mīm [A.L.M.] oder yā’-sīn [Y.S.] zum Beispiel: 903, somit 309. Siehe François Jourdan, La tradition des Sept Dormants, a.a.O. 97f).

[30]    Oft dargestellt mit einem Helm mit zwei Hörnern, dem Symbol des Widdergotts Amun, dem Herrn der Oase Siwa, in dessen Tempel der Held die Offenbarung seiner göttlichen Abstammung erhalten haben soll.

[31]    François de Polignac, « L’Homme aux deux cornes », In: Mélanges de l’Ecole française de Rome. Antiquité T. 96, N°1, 1984. S. 29-51, S. 48.

[32]   Ebd.

[33]    D. de Smet, Art. « Dhû-l-qarnayn », in: Dictionnaire du Coran, dirigé par Amir-Moezzi, a.a.O., 219. Zitat aus Armand Abel, Le Roman d’Alexandre légendaire médiéval, Bruxelles, Office de Publicité, collections Lebègue et Nationale, 1955.

[34]    Oder Alexanderlied, übersetzt ins Englische von E. A. W. Budge unter dem Titel: Metrical Discourse upon Alexander. A christian legend concerning Alexander, A discourse composed by Mar Jacob upon Alexander, the believing king, and upon the gate which he made against Âgôg and Mâgôg in: The History of Alexander the Great Being the Syriac Version of the Pseudo-Callisthenes, Cambridge: The University Press, 1889. Eine kritische Ausgabe dieses Textes wurde 1983 von G. Reinink herausgegeben: Das syrische Alexanderlied. Die drei Rezensionen, coll. Corpus Scriptorum Christianorum Orientalium, vol 454-455/Syri 195-196, Louvain, Peeters.

[35]    Vgl. Corrine Jouanno, Naissance et métamorphoses du Roman d’Alexandre. Domaine grec,  éd. du CNRS, Paris, 2002, S. 276.

[36]    Ebd. 247.

[37]    Ebd. 267.

[38]    C. Jouanno teilt mit, dass sich das Motiv des getrockneten Fischs, der wieder Leben annimmt, bei Herodot findet (gest. um 400 v. Chr.), wo die Auferweckung gesalzener Fische symbolisch die Unsterblichkeit des Helden Protesilas ver­kündet und eine Warnung an Persien gibt, das sein Heiligtum entweiht hatte (9, 120). Sie zitiert ebenfalls die Petrus-Akten, in denen der Apostel einen Hering wiederbelebt zum Erweis der Macht Christi (KaS. 13, Apocryphes chrétiens, S. 1076 f., Naissance et métamorphoses du Roman d’Alexandre, a. a. O. 291, Anm.161). Sie erläutert, dass das Thema Quelle des Lebens schon in der griechischen Tradition bei Herodot bekannt war, der auf sein Vorkommen im Land der Äthiopier verweist (2, 23). Ein ähnliches Wunder wird im lateinischen Thomas-Evangelium dem Jesuskind zugeschrieben (KaS. I, Tischendorf, Evan­gelia apocrypha, Leipzig, 1853, S. 157). Schließlich kommt noch die Geschichte des Fischers Glaukos hinzu (Jouanno, S. 277 und S. 299 Anm. 244). Christine Sempéré erinnert ihrerseits daran, dass der Fisch bisweilen ein Symbol für Christus ist; vgl.: „La recension epsilon du Roman d’Alexandre, traduction et commentaire, L’écriture infinie, le roman d’un mythe“, thèse de doctorat, Montpellier III, Paul Valery, Etudes grecques, 2005,  77 Anm. 2.

[39]    Babylonischer Talmud, Tamid 31b-32a. C. Jouanno verweist auch auf I. Lévi, La légende d’Alexandre dans le talmud, REJ 2, 1881, S. 293-300, S. 298-300; La légende d’Alexandre dans le Talmud et le Midrash, REJ 7, 1883, S. 82-84 ; I. J. Kazis, The Gests of Alexander, Cambridge, Mass., 1962, S. 16 (textes, n° 4 et 6). Zitiert von C. Jouanno, Naissance et métamorphoses du Roman d’Alexandre, a. a. O. 291, Anm. 165.

[40]    Übersetzung des Babylonischen Talmud, Aggadoth, von Arlette Elkaïm-Sartre, collection « les dix paroles », Verdier, Paris, 1982, S. 1346.

[41]    Es handelt sich in der Version Beta um seinen Wunsch, „tollkühn die Wege zum Himmel hinaufzustürmen” (III, 28),  C. Jouanno, Naissance et métamorphoses du Roman d’Alexandre, op. cit., S. 272.

[42]    Übersetzung von Andrew Runni Anderson, Alexander’s Gate, Gog and Magog and the Inclosed Nations,  Medieval Academy of America, Cambridge, 1932.

[43]    Die Auffassungen über den Namen dieses Bergs sind geteilt. Die einen sehen darin eine Form des Namens Moses, die anderen führen ihn ursprünglich auf das Gilgamesch-Epos zurück.

[44]    Alexander’s Gate, op. cit.  S. 152.

[45]    A. a. O. 147.

[46]    Ch. Genequand, « Sagesse et pouvoir , Alexandre en Islam », in: M. Bridges/J. Ch. Bürgel (Hgg.), The Problematics of Power, Eastern and Western Repre­sentations of Alexander the Great, Berne, 1996, 125-133, S. 132-133, zit. von C. Jouanno, Naissance et métamorphoses du Roman d’Alexandre, op. cit.,   S. 292. Fußnote 172.

[47]    „In den Kirchen syrischer Sprache wird das Thema der Sieben Schläfer in einer Predigtsammlung Jakobs von Serugh wie schon im Koran neben das Thema des Alexander-Romans gestellt, in derselben paränetischen Sammlung”. „Die volks­tümliche liturgische Verehrung der Sieben Schläfer, Märtyrer von Ephesus (Ahl al-kahf): Bindestrich von Orient und Okzident, zwischen Islam und der Chris­ten­heit“. Etude réunie par Y. Moubarac, d’après travaux de L. Massignon, Louis Massignon, Opera Minora, Tome III, Collection recherches et documents, Dâr al-Maaref, Liban, 1963, S. 126.

[48]    Selbst für den Fall, dass man sich, wie Reinink,  der Meinung dereranschließt, die eine Redaktion dieses Textes durch einen anonymen Verfasser mono­phy­sitischer Tendenz und eine fälschliche Zuschreibung an Jakob von Serugh an­neh­men,  hindert das dafür angenommene Datum 630, also lange vor der Samm­­lung des Korankorpus, keinesfalls, dass sich der Koran auf diesen Text bezogen haben könnte und eine gewisse Zahl von Anspielungen darauf  hätte machen können.  Siehe Marco di Branco, Storie arabe di Greci e di Romani, La Grecia e Roma nella storiografia arabo-islamica medievale, Plus, Pisa University Press, Pisa, 2009, Kapitel III, « L’eroe dai molti volti, Alessandro nelle storiografia arabo-islamica »,  S. 61.

[49]    Übersetzung Gilles Bounoure und Blandine Serret, Pseudo-Callisthène, Le Roman d’Alexandre, La vie et les hauts faist d’Alexandre de Macédoine, Les Belles lettres, Paris, 1992, S. 84. Dies ist die Übersetzung der Version L, einer späten erweiterten Neufassung der Beta-Version. Doch ihre Details, die uns besonders interessieren, sind identisch mit dieser älteren Version, wie das detaillierte Inventar der Varianten zeigt: Corrine Jouanno, Naissance et métamorphoses du Roman d’Alexandre, op. cit.,  S. 275 f.

[50]    Alexander’s  Gate, op. cit., v. 145.

[51]    Ibid.

[52]    Ibid.

[53]    Ch. Sempéré, « La recension epsilon du Roman d’Alexandre », op. cit., S. 243.

[54]    Für diesen Terminus, der nach der Mehrheit der Kommentatoren einen Zeit­raum von achtzig Jahren und mehr bezeichnet (siehe z.B. dazu den Tafsīr von Muqātil, Kommentar zu Vers 18, 60), gibt es im Koran eine wörtliche Analogie; sie verweist auf die Zeit, die die Verdammten in der Gehenna bleiben werden: „Sie werden dort Jahrhunderte sein (aqāban)“, was der Steigerungsplural von uqub ist. Diese wörtliche Analogie ist von besonderem Interesse. Aufgrund der beiden einzigen Vorkommen der Wurzel im Koran muss man zu dem Ergebnis kommen, dass jede Passage die andere erläutert. Einerseits muss die Reise des Mose nicht nur als sehr lang, sondern auch als sehr schwierig angenommen werden: Es ist eine mit der Gehenna, wo die Verdammten kein Wasser und keine Kühle haben, vergleichbare Prüfung, ein Detail, das in sehr expliziter Weise an die Probleme des Volkes Israel in der Wüste erinnert. Andererseits bietet der von Mose ausgesprochene Satz Aufklärung über die in der Gehenna verbrachte Zeit: Es ist eine sehr beeindruckende Zeitdauer, die mit menschlichen Maßstäben nicht zu messen ist, die aber, wie seine Reise, ein Ende haben wird.

[55]    C. Jouanno, „La recension epsilon du Roman d’Alexandre”, op. cit., S. 270. Diese Hartnäckigkeit wird dann noch überboten, als ihm die Vögel ausdrücklich gebieten, sich nicht mehr der Gottheit zu widersetzen und kühn die Wege zum Himmel hinaufzusteigen (III, 28).

[56] Es soll erwähnt sein, dass Christine Sempéré, die zuerst den Text der Unter-Rezension Epsilon übersetzt und kommentiert hat, in einer Anmerkung daran erinnert, das das Motiv der nahe beim Land der Seligen gelegene Quelle der Unsterblichkeit bei Herodot vorkommt (III, 23) und dass für ihn die Inseln der Seligen nichts anderes als Oasen in der westlichen ägyptischen Wüste sind. („La recension epsilon du Roman d’Alexandre“, S. 82, Anm. 1).

[57]    Kitāb Ḥayāt al-ḥayawān al-kubrā, 2 Bd., Kairo, Mustafā al-Bābi-l-Ḥalabī, 1901, T. II, S. 17-18.

[58]    Nach diesem mystischen Verfasser, für den die wahre Funktion von al-Ḫaḍir im Erhalt eines Wissens um die einzige, von einem jeden Wesen zu treffende fun­damentale Wahl besteht, nämlich seine Entscheidung gegenüber der göttlichen Liebe, hat diese geheimnisvolle Gestalt das ewige Leben ganz am Anfang der Schöpfung erhalten, einer Erschaffung von subtilen Entitäten (maqādīr), die der Erschaffung der sichtbaren Welt vorausging, in einem „Moment“ von starker symbolischen Bedeutung. Er behauptet sodann, al-Ḫaḍir hätte alle Zeiten der Menschheit durchschritten, er habe zur Zeit Abrahams gelebt, dann zu der von Ḏū-l-Qarnayn, in dessen Vortrupp er Soldat gewesen sei und an seiner Statt die Quelle des Lebens entdeckt habe. In seiner Sicht hätte diese Entdeckung nichts geändert am Schicksal von al-Ḫaḍir – dieser hatte ja schon die Unsterblichkeit von Gott erhalten – wohl aber bei dem, der sie noch nicht besaß. Siehe Khatm al-awliyâ’, éd. Osman Yahya, Beyrouth, Imprimerie catholique, coll. Recherches, tome XIX, 1965, S. 362.

[59]    Wie Vincenzo Poggi in seinem Artikel zu Recht bemerkt hat: „Alessandro Magno, dal Romanzo a la sura della Caverna”, La diffusione dell’eredità classica nell’età tardoantica e medievale. Il „Romanzo di Alessandra” e altri scritti, Atti del seminario internazionale di studio (Roma- Napoli 25-27 settembre 1997, sous la responsabilité de Rosa Bianca Finazzi et Alfredo Valvo, éd. dell’Orso, Alessandria, 1998, S. 197-208, S. 204.

[60]    Ein Anachronismus, den selbst manche Orientalisten nicht bemerkt haben. Vincenzo Poggi zum Beispiel betrachtet es als durchaus möglich, dass al-Ḫaḍir im Koran mit zwei anderen Gestalten identifiziert wird, dem Begleiter Moses und dem Koch Alexanders, Andreas, der aus der Quelle des Lebens getrunken hat: „Alessandro Magno, dal Romanzo a la sura della Caverna“, S. 206. Dieselbe Bemerkung kann gegen die Hypothesen von François de Polignac vorgebracht werden (vgl. sein Artikel: Échec de la perfection, perfection de l’inachevé. „Le renversement du sens dans la légende arabe d’Alexandre“, Mélanges de l’Ecole française de Rome. Moyen-Age , 2000, Volume  112 , S. 75-84).

[61]    Vgl. dazu Ṣaḥīḥ Buḫārī, Kitāb tafsīr al-qurʾān, sūrat al-kahf, 3, bāb qawluhu: „Fa lammā balaġa maǧmaʿa-baynahumā nasiya hutahumā“, tradition n° 4726, Dār al-ʿilmiyya, Beyrouth, s. d., vol. 3, t. 5, S. 283 : „Sie (die Zuhörer von Ibn ʿAbbās, der die Tradition wiedergibt) haben ihn (den Gesprächspartner des Mose) wieder­­erkannt und haben gesagt: ‚Es ist der gerechte Diener Gottes  (ʿabdu-l-Lāhi al-Ṣāliḥ)‘“.

[62] Vgl. Henoch XII, 4 ; Testament  Levi, X, 5 ;  Testament  Dan, V, 6 ; Testament  Benjamin, IX,1,  La Bible, écrits intertestamentaires, La Pléiade, NRF Gallimard, 1987, S. 472, note 2.

[63]    Ibid., S. 475, note 9.

[64]    Jacques de Saroug, Homélies du VI° siècle sur la fin du monde, introduction, traduction, guide thématique et index par Isabelle Isabaert-Cannet, Université catholique de Louvain, éd. Migne, Les Pères dans la foi, Paris, 2005, Homélie I, 53-54, S. 198. Der Verfasser wollte sicher auf Christus selbst anspielen, eine Nach­barschaft zur Auffassung des Koran ist dennoch denkbar, wenn man diese Erklärung lediglich auf die Weisheit, das Wissen und die spirituellen Erfahrungen Christi und aller Propheten bezieht.

[65]    Dieser Eindruck, nur kurze Zeit geschlafen zu haben, obwohl der Betreffende sich in einem „langen Schlaf“ befand, kommt in einer anderen Passage des Koran vor, wo gesagt wird, dass die Auferstandenen, als sie am Tag des Gerichts gefragt werden, versichern, nur wenig Zeit in ihrem Grab verbracht zu haben: „Am Tag, da (zur Gerichtsversammlung) in die Trompete geblasen wird! An jenem Tag versammeln wir die Sünder blau(äugig), während sie sich unter­einander zuflüstern: ‚Ihr habt nur zehn (Tage im Grab) verweilt!‘. Wir wissen sehr wohl, was sie sagen. (An jenem Tag) wenn derjenige von ihnen, der den besten Weg einhält, sagt: ‚Ihr habt nur einen Tag verweilt‘“(20,102-104). Ebenso Vers 23, 112 – 114: Er sagt (G.: Gott wird fragen): ‚Wieviel an Jahren habt ihr auf der Erde verweilt?‘ Sie sagen: ‚Einen Tag, oder den Teil eines Tages. Frag diejenigen, die rechnen (können)!‘ Er sagt: ‚Ihr habt (in der Tat) nur kurz (auf ihr) verweilt. Wenn ihr nur (richtig zu urteilen) wüsstet!‘“ .

[66]    La légende des sept Dormants, une version éthiopienne, Mélusine, t. III, 1886, coL 176. François Jourdan notiert, dass Abimelech in den Paralipomena Jeremiae und die syrischen Siebenschläfer so viele Ähnlichkeiten aufweisen, dass man an eine Abhängigkeit oder zumindest eine gemeinsame Quelle denken könnte: Abimelech entspricht Jamblichos, die beiden Namen sind übrigens auch verwandt. Jerusalem entspricht Ephesus. Die Ähnlichkeiten sind so, dass Ganter die Paralipomena als die älteste Form der Überlieferung der Sieben Schläfer ansieht (Vgl. B. Heller, „Eléments parallèles et origine de la légende des sept dormants“, Revue des Etudes juives, 49, 1904, S. 190-218, S. 213), zitiert von François Jourdan in: La tradition des sept Dormants, op. cit., S. 116.

[67]    Wie Marco di Brando in seinem Werk: Storie arabe di Greci e di Romani, KaS. III, a.a.O. S. 61 feststellt. Vgl. auch M.Simon, Alexandre le grand juif et chrétien, in: Revue d’histoire et de philosophie religieuse XXI (1941), 177 – 191, hier 178: „Die jüdische und christliche Anverwandlung der Gestalt Alexanders stellt die Antwort des Monotheismus auf den Kaiserkult dar.“

[68]    Man darf nicht vergessen, dass nicht alles Legende ist in den Erzählungen von den Taten Alexanders, doch es ist quasi unmöglich, wie Marco di Branco be­merkt hat – und das dürfte auch schon im 7. Jahrhundert der Fall gewesen sein – die historischen Aspekte von den mythischen in der Geschichte dieser Gestalt zu trennen. Vgl. Storie arabe di Greci e di Romani, op. cit., S. 57-58.

[69]    Interessanterweise hat die spätere arabische Legende Alexanders Nichterreichen seiner rein irdischen Ziele zum Erweis der höheren Vollendung, in die der Held schließlich eingeführt wird, benutzt. Das Thema Grenze wird metaphorisch gebraucht, um die Figur des immer unzufriedenen, ja unersättlichen Eroberers der antiken Legende umzuschmelzen in einen inspirierten Menschen, für den ein Hindernis nicht so sehr eine Begrenzung seines Willens ist als vielmehr ein Merkzeichen auf dem Weg seiner wahren Sendung. François de Polignac zeigt in seinem Artikel („Le renversement du sens dans la légende arabe d’Alexandre“, op. cit.), dass die arabische Legende, in Fortführung einer in den christlichen Versionen des Pseudo-Kalisthenes begonnenen Entwicklung, die Unvollendung als negativen Begriff verwandelt in Unabgeschlossenheit, der Notwendigkeit einer positiven Restriktion, die zu einer höheren Vollendung als der anfangs vorgenommenen zu führen vermag. Die vorausgesetzte Nachbarschaft von Mose und Alexander, aber auch al-Ḫaḍir, „eine Figur der Vollkommenheit, die mit Alexander in einer brüderlichen Beziehung steht“ (S. 84), steht dem sicherlich nicht entgegen. Die Projektion der Figur des Propheten auf die des Königs bei den Kommentatoren hatte gewiss die Tendenz, letztere zu einer höheren Spiritualität zu ‚hinaufzuziehen‘, während der Koran, wie gesehen, zu einer klaren Trennung der beiden Bereiche einlädt.

[70]    Wie mit Recht Vincenzo Poggi konstatiert: „Indem sie dem Zweihörnigen eine allein von Gott verliehene Macht und Inspiration zuspricht, verunmöglicht die Sure ‚Die Höhle’ jede Art von Vergöttlichung dieses Helden“ („Alessandro Magno, dal Romanzo a la sura della Caverna“ , op. cit., S. 207).

[71]    Diese Neugruppierung um einen eschatologischen Sinn der Geschichte dis­pensiert davon, wie Vincenzo Pozzi bemerkt hat, aus ihren einzelnen Gegeben­heiten „jede Spur einer früheren heidnischen, jüdischen oder christlichen Ausarbeitung“ zu beseitigen (ebd.).

[72]    Siehe: Louis Massignon, „Les sept Dormants, Apocalypse de l’islam“, in Analecta Bollandiana, Bruxelles, t. LXVIII, Mélanges Paul. Peeters,  1950, II, S. 245-260. Ebenso: Opera minora III, S. 104-180.