Luxenberg: Keine Polygamie und kein Konkubinat im Koran (Sure 4:3) Teil 1

Keine Polygamie und kein Konkubinat im Koran (Sure 4:3) Teil 1

Christoph Luxenberg

1. Einleitende Vorbemerkungen

Der vorliegende Beitrag ist der erste Teil einer größer angelegten Unter­suchung zu den ersten drei Versen der Sure 4 („Die Frauen“), in denen an­geblich von der Polygamie die Rede ist. Die vorgelegte philologische Ana­lyse wird zu einer Neuinterpretation dieser Verse führen und zeigen, dass das landläufige Verständnis auf eine Falschinterpretation des Urtextes zu­rück­geht. Da die Behandlung der falsch verstandenen bzw. verlesesenen For­­men diesmal auch elementare Funktionswörter der klassisch-arabischen Gram­matik betrifft, was eine sehr detailgenaue Bearbeitung, auch unter Be­rücksichtigung von Handschriften, erfordert, musste der Beitrag auf zwei Sam­melbände verteilt werden. Im vorliegenden ersten Teil wird aber schon eine Neuübersetzung der drei behandelten Verse vorgelegt, deren voll­ständige Begrün­dung und Erläuterung erst im zweiten Teil erfolgen wird.

Ein Thema von nicht nur ethischer, sondern auch sozio-politischer Rele­vanz im Islam ist die Frage der Polygamie. Diese stellt nicht nur für das Zu­sam­menleben von Muslimen mit Nicht-Muslimen in der Diaspora, sondern teilweise auch in Ländern mit islamischer Mehrheit mittlerweile ein Pro­blem dar. Nach der Scharia, dem islamischen Gesetz, ist es nämlich männ­lichen Muslimen erlaubt, bis zu vier Frauen (zugleich) zu heiraten. Dieses Recht wird reziprok den muslimischen Frauen allerdings nicht zugestanden. Zur Begründung dieser Rechtsauffassung beruft sich die Scharia auf den koranischen Text[i] von Sure 4 (die Frauen) Vers 3. Darin heißt es :

وان خفتم الا تقسطوا في اليتمى فانكحوا ما طاب لكم من النسا مثنى وثلث وربع فان خفتم الا تعدلوا فوحدة او ما ملكت ايمنكم ذلك ادنى الا تعولوا

wa-ʾin iftum ʾallā tuqsiṭū fī l-yatāmā fa-nkiḥūṭāba lakum mina n-nisāʾi manā wa-ulāa wa-rubāʿa faʾin iftum ʾallā taʿdilū fa-wāidatan ʾaw mā malakat ʾaymānukum ḏālika ʾadnā ʾallā taʿūlū

Die philologische Analyse dieses Verses soll klären, ob das sprachhistorische (syro-aramäische) Verständnis dieser Koranpassage die traditionelle In­terpre­­tation der arabischen Kommentatoren und die daraus folgende Bestimmung der Scharia rechtfertigt.

2. Die bisherige Deutung

Diesen Vers verstehen die drei maßgeblichen westlichen Koranübersetzer [ii] nach arabischem Verständnis, und im Vertrauen auf die arabischen Koran­kommentatoren, wie folgt (die syro-aramäisch zu erläuternden Wörter sind unterstrichen):

Paret (64):

3 : „Wenn ihr aber fürchet, in Sachen der (eurer Obhut anvertrauten weiblichen) Waisen nicht recht zu tun, dann heiratet, was euch an Frauen gut ansteht (?) [Anm. 4: Oder: beliebt (?)], (ein jeder) zwei, drei oder vier. Und wenn ihr fürchtet, (so viele) nicht gerecht zu (be)handeln, dann (nur) eine, oder was ihr (an Sklavinnen) besitzt ! so könnt ihr am ehesten vermeiden, unrecht zu tun.“

Blachère (104):

3 „Si vous craignez de n’être pas équitables à l’égard des Orphelins… Épousez donc celles des femmes qui vous seront plaisantes, par deux, par trois, par quatre, [mais] si vous craignez de n’être pas équitables, [prenez-en] une seule ou des concubines ! C’est le plus proche [moyen] de n’être pas partiaux.“

Bell (I, 69):

3. „If ye fear that ye may not act with equity in regard to the orphans, marry such of the women as seem good to you, double or treble or fourfold – but if ye fear that ye may not be fair, then one (only) or what your right hands possess [Anm. 1: i.e. slaves]; that is more likely to secure that ye be not partial [Anm. 2: Or “be not over-burdened with children”] –“

Das unterschiedliche und teilweise mutmaßende Verständnis der zitierten Koranübersetzer gibt nur annähernd die widerprüchlichen Auslegungen der bei Ṭabarī  (IV, 231-241)[iii] über zehn Seiten ausgeführten Mutmaßungen der als Autorität geltenden arabischen Korankommentatoren wieder. Diese ver­treten zusammenfassend folgende fünf Deutungsversuche :

1.   Mit diesem Vers sei gemeint : „Wenn ihr als Vormund von (weib­li­chen) Waisen (sofern ihr sie verehelichen wollt) fürchtet, sie hinsicht­lich der (ihnen zustehenden) Brautgabe ungerecht zu behandeln, d.h. sie nicht mit der gleichen Brautgabe zu bedenken, die sonstigen Frau­en zusteht, dann sollt ihr sie nicht heiraten, sondern andere fremde Frauen heiraten, die euch Gott als legitim erklärt hat, wobei die Zahl der „guten“ (= statthaften) Frauen zwischen eins und vier liegt. Fürch­tet ihr aber, schuldhaft zu handeln, wenn ihr von den fremden Frauen mehr als eine heiratet, sofern ihr sie nicht gerecht behandelt, dann sollt ihr von ihnen nur eine heiraten – oder (= andernfalls) aber das, was eure rechten (Hände) besitzen (= Sklavinnen).“

      Darauf folgen fünf Überliefererketten, die sich alle auf eine Aussage der Aischa berufen.

2.   Andere meinen: „Damit ist vielmehr das Verbot gemeint, mehr als vier (Frauen) zu heiraten, um zu vermeiden, dass die Vormünder das Vermögen der Waisen aufbrauchen. Der Grund dafür liegt nämlich in dem Umstand, dass es unter den Quraischiten Sitte war, dass der Mann mal zehn, mal mehr oder weniger Frauen, heiratete. Wurde er da­rauf mittellos, machte er sich an das Vermögen der ihm anver­trauten Wai­se und gab es aus oder heiratete damit. Daher wurde ihnen dies unter­sagt mit der Begründung : Wenn ihr darauf bedacht seid, das Vermö­gen eurer Waisen zu wahren und euch im Notfall daran nicht zu ver­grei­fen, sofern ihr zum Unterhalt eurer Ehefrauen darauf angewiesen wäret, so sollt ihr unter den Frauen, die ihr heiratet, die Zahl Vier nicht überschreiten. Fürchtet ihr aber auch bei vier (Frauen) hinsicht­lich des Vermögens (der Waisen) ungerecht zu handeln, so sollt ihr euch auf eine (Ehefrau) einschränken oder (wahlweise) auf das, was eure rechten (Hände) besitzen (= Sklavinnen).“

      Es folgen vier Überliefererketten, von denen sich zwei auf ՙIkrima  und zwei auf ibn ՙAbbās  berufen.

3.   Andere wiederum meinen: „Damit ist vielmehr gemeint : Manche wa­ren darauf bedacht, das Vermögen der Waisen nicht zu veruntreuen, hat­ten aber diesbezüglich keine Rücksicht, sofern es um die gerechte Be­handlung der Ehefrauen ging. Daher wurde ihnen gesagt: So wie ihr fürchtet, hinsichtlich der Waisen ungerecht zu sein, desgleichen sollt ihr hinsichtlich der Ehefrauen fürchten, sie ungerecht zu behandeln.  An Frauen sollt ihr deshalb von einer bis vier heiraten und keine hin­zufügen. Solltet ihr aber fürchten, gegenüber denjenigen ungerecht zu sein, die über eine (Ehefrau) hinausgehen, so sollt ihr von ihnen nur eine heiraten, hinsichtlich derer ihr nicht fürchtet, ungerecht zu han­deln – oder (= andernfalls) aber das, was eure rechten (Hände) besitzen (= Sklavinnen).“

      Hierzu folgen neun Überliefererketten, von denen vier auf Saՙīd ibn Ǧubayr, und je eine auf al-Sadī, Qatāda, alḌaḥḥāk und al-Rabīՙ  zurückgehen.

4.   Andere wiederum meinen: „Damit ist gemeint: So wie ihr euch hin­sicht­lich der Waisen fürchtet, so sollt ihr euch davor fürchten, euch an Frauen (durch Ehebruch) zu versündigen. Ihr sollt hingegen solche Frauen heiraten, die euch gut erscheinen.“

      Hierzu berufen sich zwei Überliefererketten auf Muǧāhid.

5.   Andere meinen schließlich: „Damit ist vielmehr gemeint: Wenn ihr bezüg­lich der Waisen, die euch als Vormünder anvertraut sind, fürch­tet, ungerecht zu sein, so heiratet sie nicht, heiratet vielmehr solche (Waisen), die euch erlaubt sind.“

      Von den zwei hierzu zitierten Überliefererketten beruft sich die eine auf Aischa, die andere auf al-asan.

Zu diesen fünf unterschiedlichen Meinungen nimmt Ṭabarī (Abū Ǧa’far) fol­gen­de Stellung ein:

„Unter den von uns zitierten Meinungen zur Ausle­gung dieses Ver­ses  erscheint am  plausibelsten die Erklärung derenigen, die meinen: dies bedeutet: ‚Wenn ihr (schon) fürchtet, bezüglich der Waisen nicht gerecht zu handeln, so sollt ihr euch in gleicher Weise hin­sichtlich der Frauen fürchten, und zwar in der Weise, dass ihr von ihnen nur solche heiraten sollt, hinsichtlich derer ihr nicht fürchtet, ungerecht zu sein, und zwar von einer bis zu vier (Frauen). Fürchtet ihr aber auch hinsichtlich der einen ungerecht zu sein, so sollt ihr sie nicht heiraten, sondern euch an das halten, was eure rechten (Hände) besitzen. Denn dies ist angemessener, als dass ihr sie (die Ehefrauen) ungerecht behandelt.“

Zur Begründung dieser Auffassung verweist Ṭabarī auf den vorhergehenden Vers, in dem Gott davor warnt, das Vermögen der Waisen zu unterschlagen oder sonstwie zu veruntreuen. Damit macht Ṭabarī auf den koranischen Kontext aufmerksam, um diesen bedeutenden Vers hermeneutisch zu verstehen. Daher sollen im Folgenden zunächst die beiden ersten Verse der Sure 4 erläutert werden. Diese lauten :

يايها الناس اتقوا ربكم الذي خلقكم من نفس وحدة وخلق منها زوجها

وبث منهما رجالا كثيرا ونسا واتقوا اللـه الذي تسالون به والارحام

ان اللـه كان عليكم رقيبا / واتوا اليتمى امولهم ولا تتبدلوا الخبيث بالطيب

 ولا تاكلوا امولهم الى امولكم انه كان حوبا كبيرا

1 yā-ʾayyuhā n-nāsu ttaqū rabbakumu llaḏī ḫalaqakum min nafsin wāḥidatin wa-ḫalaqa minhā zawǧahā wa-baṯṯa minhumā riǧālan kaṯīran wa-nisāʾan wa-ttaqū llāha llaḏī tasāʾalūna bihī wa-l-ʾarḥāma ˈinna llāha kāna ʿalaykum raqīban

2 wa-ʾātū l-yatāmā ʾamwālahum wa-lā tatabaddalū l-ḫabīṯa bi-ṭ-ṭayyibi wa-lā taʾkulū ˈamwālahum ʾilā ʾamwālikum ʾinnahū kāna ḥūban kabīran

Nach arabischem Verständnis geben unsere Referenzübersetzer diese bei­den Verse wie folgt wieder :

     Paret (64):

1: „Ihr Menschen ! Fürchtet euren Herrn, der euch aus einem ein­zigen Wesen [Anm. 1: D.h. aus dem ersten Menschen (Adam)] ge­schaf­­fen hat, und aus ihm das ihm entsprechende andere Wesen [Anm. 2 : W: seinen Gatten bzw. seine Gattin (zauǧahā)], und der aus ihnen beiden viele Männer und Frauen hat (hervorgehen und) sich (über die Erde) ausbreiten lassen! Fürchtet Gott, in dessen Na­men ihr einander zu bitten pflegt, und die Blutsverwandschaft! [Anm. 3 : D.h.: und gebt acht, dass ihr nicht gegen die Bindungen der Blutsverwandschaft verstoßt! Oder: Fürchtet Gott, in dessen Namen – und dem der Blutsverwandschaft – ihr einander zu bitten pflegt!] Gott passt auf euch auf.

2 : Und gebt den (eurer Obhut anvertrauten) Waisen ihr Vermögen und tauscht dabei nicht etwas Schlechtes gegen etwas Gutes aus, und zehrt nicht ihr Vermögen auf, indem ihr es eurem eigenen zuschlagt! Das wäre eine schwere Sünde.“

            Blachère (104):

1 „Hommes !, soyez pieux envers votre Seigneur qui vous a créés [à partir] d’une personne unique dont, pour elle, Il a créé une épouse et dont Il a fait proliférer en grand nombre des hommes et des femmes ! Soyez pieux envers Allah à propos duquel vous vous interrogez ! [Respectez] vos liens de consanguinité ! Allah, envers vous, est ob­servateur. 

[Prescriptions touchant les biens des orphelins.]

2 Donnez leurs biens aux Orphelins ! Ne rendez pas le mal pour le bien ! Ne mangez pas leurs biens, à côté de vos biens ! Le faire est grand péché.“

            Bell (I, 68):

1. „O ye people, act piously towards your Lord, who created you from one individual, and from him created his spouse, and from the two spread abroad many men and women; act piously towards Allah concerning whom and the wombs [Anm. 1: I.e. blood-relationships : the questions are with regard to Allah’s regulations on this matter] ye bandy questions to and fro – verily Allah hath become [Anm. 2: The use of the perfect tense in the end-phrases of verses in this surah has no significance beyond producing the rhyme] of you regardful. 

2. Bestow upon the orphans their property ; do not substitute the bad for the good, and do not consume their property in addition to your own – verily it has become a great crime.“

Damit geben unsere Koranübersetzer annähernd die unterschiedliche Aus­le­gung der Kommentatoren wieder, die bei Ṭabarī  (IV, 223-231) aufgeführt sind. Da aber diese Kommentatoren keine Philologen waren und sie die Ko­ran­sprache nach ihrem arabischen Verständnis mutmaßend zu deuten such­ten, sollen die zitierten Koranpassagen zunächst nach ihrem arabischen und syro-aramäischen Verständnis sprachhistorisch diskutiert werden. Nach der folgenden philologischen Analyse werden die vorzitierten drei Verse aus Sure 4 wie folgt zu verstehen sein (das neue Verständnis ist unterstrichen) :

1. Ihr Menschen, fürchtet euren Herrn, der euch aus einer einzigen (Menschen)seele erschaffen und aus ihr den dazugehörigen Gat­ten (bzw. die dazugehörige Gattin) geschaffen und aus beiden zahl­reiche Männer und Frauen (zum Leben) hervorgerufen hat. Fürchtet Gott, den ihr anfleht und (dessen) Erbarmen (wörtlich: Erbarmungen) (ihr erfleht). (Denn) fürwahr, Gott wacht über euch.    

2. Übergebt nun den Waisen das ihnen (zustehende)  Vermögen (w.: ihr Vermögen), vertauscht nicht Minderwertiges gegen Gutes und unterschlagt nicht deren Vermögen (w.: und verschlingt nicht deren Vermögen zu eurem), das wäre eine schwere Verfehlung.  

3. Solltet ihr nun fürchten, gegen die Waisen nicht Gerechtigkeit wal­ten zu lassen, so heiratet – sofern dies euch zur Gerechtigkeit ge­reicht – von den (für die Waisen sorgenden = verwitweten) Frauen zwei, drei und vier. Fürchtet ihr aber, (dadurch den Waisen) nicht gerecht zu werden, dann (haltet euch an) eine, das heißt an das, was eure rechten (Hände) gelobt haben (gemeint ist  das Gelöbnis, das man bei der Eheschließung gegenüber der einen Frau einge­gangen ist). Denn dies ist geziemender, als dass ihr euch einer Verfehlung schuldig macht.

Dieses Verständnis findet seine Bestätigung und sein biblisches Vorbild bei Jesaja 1:17 (nach der Jerusalemer Bibel):

„Lernet Gutes tun, und trachtet nach Gerechtigkeit! Helft dem Bedrückten, schafft Recht den Waisen, und seid ein Anwalt der Witwen !“

Nach der Peschitta heißt diese Passage :

„Lasset ab von den bösen Taten und lernet Gutes tun; trachtet nach Gerechtigkeit und tut Gutes zu den Unterdrückten; seid gerecht ge­gen die Waisen und seid gerecht gegen die Witwen !“  

Nach diesem Verständnis gestattet der Koran Männern bis zu vier Ehe­frauen zu heiraten, sofern es ausdrücklich darum geht, verwaiste Kinder und deren (verwitwete) Mütter (als Werk der Nächstenliebe) zu versorgen (s. Jesaia 1,17). Andernfalls haben sie sich an die eine Frau zu halten, der sie (per Heiratsvertrag) Treue gelobt haben. Nach dieser koranischen Bestim­mung ist also eine Ehefrau die Regel. Bis zu vier Ehefrauen ist die Aus­nahme. Dieser liegt ausdrücklich eine karitative Absicht zugrunde. Ist diese nicht gegeben, gilt die Monogamie als Grundregel. Der abschließende Zu­satz „aw mā malakat aymānukum“ heißt keineswegs „oder was eure Rechten (Hände) besitzen“, worunter man fälschlicher Weise (uneinge­schränkt) „Sklavinnen“ (als Konkubinen) missverstanden hat, vielmehr ist die Konjunktion „oder“ in diesem Zusammenhang nicht alternativ (zu der einen Ehefrau), sondern explikativ zu verstehen, nämlich in dem Sinne: „oder“ („das heißt“ = mit anderen Worten) : „was eure Rechten (Hände) (in Bezug auf die eine Ehefrau) gelobt haben.“ 

     Dass man die hier in Bezug auf die Waisen karitativ gemeinte „Gerech­tigkeit“ unter Hinweis auf Sure 4:129 als „Gleichbehandlung“ der vier Ehe­frauen interpretiert hat, trifft nicht den hier gemeinten Sinn, wenn auch letzterer Koranvers den Männern die Fähigkeit zu einer solchen „Gleichbe­handlung“ der Frauen (im Allgemeinen) kategorisch abspricht.

     Die nach dem Willen der späteren, von Männern bestimmten islami­schen Scharia uneingeschränkt eingeführte Polygamie missachtet demnach nicht nur die diesbezügliche karitative Absicht der heiligen Schrift des Islam, sie stellt sogar eine Legitimierung dessen dar, was der Koran – getreu dem sechsten Gebot des Dekalogs „du sollst nicht ehebrechen“ – als Ehe­bruch entschieden verwirft (Sure 17:32), worauf er Ehebrechern (nach Sure 24:2) sogar körperliche Züchtigung (je hundert Hiebe) androht und darüber hinaus (nach Sure 24:3) sowohl den Ehebrecher als auch die Ehebrecherin mit dem Anathema belegt, wechselseitig nur noch gleichgesinnte Ehe­brecher bzw. Heiden (mušrik  bzw. mušrika) heiraten zu dürfen, was ihr Ausschluss aus der Gemeinschaft der Gläubigen  bedeutet. Dieses Ana­thema betrifft nach dem „unveränderlichen Wort Gottes“ im Koran (Sure 6:34, 115; 10:64; 18:27) auch heutige Muslime, die der von Menschen gemachten Scharia eher als dem „Wort Gottes“ den Vorzug geben, und ohne Rücksicht auf Waisen (und Witwen), die Polygamie praktizieren. Diese würden nach Sinn und Wortlaut der koranischen Bestimmung als vom Glauben Abgefallene (kuffār) gelten. Denn Polygamie im eigentlichen Sinne lässt der Koran nicht zu, noch weniger vermeintliche Sklavinnen, die uneingeschränkt als Konkubinen dienen sollen..

    Die auf einem falsch verstandenen (womöglich bewusst verdrehten) kora­nischen Text beruhenden religionsgeschichtlichen und ethischen Irrungen und Wirrungen der arabischen Koran-Kommentatoren werden in einer zweiten Folge des vorliegenden Beitrages sprachhistorisch erläutert.     

 

3. Philologische Erörterung

3.1 (Vers 1) : Die Etymologie von  يايها (yā-ayyuhā)

3.1.1 Die Vokativpartikel im Klassisch-Arabischen

Obwohl der koranische Vokativausdruck يايها (nach traditioneller Voka­lisation yā-ayyuhā  gelesen) von der Bedeutung her (oh! in der Anrede) kei­ne Schwierigkeit bereitet, ist es an dieser Stelle aus arabistischer Sicht ange­bracht, auf dessen Etymologie näher einzugehen. In der bisherigen Ara­bistik besteht nämlich kein Zweifel darüber, dass dieser Ausdruck klassisch-ara­bischer Herkunft ist, zumal er im Koran mit nicht weniger als 153 Stellen hinreichend belegt und auch in der arabischen Schrift­sprache seither gang und gäbe ist. In den heutigen arabischen Dialekten hin­gegen (wie im Syro-Aramäischen) ist nur die erste proklitische Rufpartikel weit verbreitet, nicht aber die folgende (verstärkende) ayyuhā. Diese kommt dem ara­bi­schen Muttersprachler fremd vor, er hält sie aber für klassisch, weil sie ihm vom Koran her geläufig ist. Diese Beobachtung hat zu der Überlegung ge­führt, die Entstehung dieses Ausdrucks philologisch zu analysieren und des­sen traditionelle Lesung auf ihre Richtigkeit hin zu überprüfen. In Bezug auf die Vokativpartikeln gelten im Klassisch-Arabischen folgende Regeln:

1. Auf die Rufpartikel yā folgt das Nomen (wie im Deutschen) ohne bestimmten Artikel : yā malik  (o König ! ).

2. Auf ayyuhā hingegen folgt das Gerufene regelmäßig determiniert durch den bestimmten Artikel al-. Dieser grammatische Unterschied gibt uns Aufschluss über das Wesen der Anruf­partikel ayyuhā.

In seiner vergleichenden Grammatik der semitischen Sprachen (VGr) ver­weist Carl Brockelmann auf diesen Uterschied und vermerkt dazu :

„Doch kann die Determination noch durch den Artikel besonders aus­ge­drückt werden, das geschieht aber nur nach der Interjektion ʾauhā, wo der Artikel vielleicht mit Reckendorf S. 329 aus formaler Kongruenz mit dem als Demonstrativ empfundenen hā  zu erklären ist, wie ā ʾauhā r-rākibāni  › o ihr beiden Reiter ‹ Ḥam. 129 u …“.[iv]

Dass dieses enklitische   nicht nur als Demonstrativ empfunden wird, son­dern dass es tatsächlich eine Demonstrativpartikel ist, zeigt das weitere ab­schließend von Brockelmann zitierte Beispiel:

ʾauhāđā ʾn-nābiḥu  ‚du bellender’ Ḥam. 291, 14.“

Ist letztere Variante (ayyuhāḏā ) in der arabischen Literatur eher unge­wöhnlich, so entspricht sie in etwa dem im klassischen Arabisch geläufi­geren Ausdruck : yā hāḏā (o du da = he du da !). Diese Feststellung bringt uns der Klärung des von C. Brockelmann nicht behandelten und vom Lisān al-ʿarab nicht erkannten Etymologie der rätselhaften Interjektion ayyuhā  näher.

Unter dem Lemma أيا /ayā  geht der Lisān (XIV, 57 b)[v] auf die Anruf­partikel ayyuhā ein, die sich auf ein Nomen im Singular und Plural beziehen kann, wobei er eine Feminiform أيتها  /ayyatuhā annimmt, ohne zu ahnen, dass die beiden erstmalig im Koran vorkommenden Belege (Sure 12:70 und 89:27) auf falsch gesetzte diakritische Punkte – also auf eine Fehllesung zu­rück­gehen. Dass diese Fehllesung gerade den Beweis dafür liefert, dass es sich bei dem mehr als hundertfachen koranischen Schriftzug ايها (ayyuhā ) um eine Defektivschreibung ein und desselben Ausdrucks handelt, und dass bei dieser Schreibung die diakritischen Punkte ebenso falsch gesetzt worden sind, konnte der namhafte arabische Philologe az-Zaǧǧāǧ  (gest. 923) nicht ahnen, auf den sich der Lisān zur Erklärung dieses Wortes beruft. Nach ihm sei die Partikel أيّ /ayy  اسم مبهم (ism mubham) ein dunkles Nomen (bzw. Pronomen) (d.h. ein Nomen, dessen Herkunft unbekannt ist), dessen Endvokal auf u  laute (sic!). Seine weitere, ziemlich verwickelte Erklärung brin­gen die arabischen Grammatiker von Kūfā  wie folgt auf den Punkt : Im Ausdruck  يا أيها الرجل (yā ayyuhā r-raǧul ) (o du Mann) ist يا /  نداء (Rufpartikel), أيّ /ayy  اسم منادى (gerufenes Nomen) (sic !), das enklitische ها /hā  للتنبيه (zur Warnung), والرجل صفة  (und Mann ist Attribut) (sic !). Das أيّ /ayy  proklitisch mit der Deutepartikel ها /hā  verbunden, bilde mit diesem zusammen ein vollständiges Nomen (اسما تامّا) (sic!). Denn (die Partikeln) أيا /ayyā  (= ayy ), ما /mā , من /man  und الذي /allaḏī  (welcher, das was, wer und derjenige) seien defektive Nomina (أسماء ناقصة), die erst durch Verbindung mit anderen Partikeln zu vollständigen Nomina (bzw. Pronomina) würden (لا تتم إلا بالصلات).[vi]

Dieses Musterbeispiel arabischer Philologie erklärt das Unvermögen der frühen arabischen Sprachgelehrten, ihre Sprache etymologisch zu analy­sieren. Bezeichnend für diese Unkenntnis anderer Sprachen, namentlich des Aramäischen, ist die Tatsache, dass die arabischen Demonstrativpronomina als  اسماء مبهمة (asmāʾ mubhama ) dunkle Nomina“ (bzw. Pronomina) bezeichnet werden, was der berühmte Philologe und Lexikograph al-Azharī  (gest. 980) damit begründet : ّ لا اشتقاق لها ولا يعرف لها أصول (weil siekeine Ableitung  haben, und man ihnen zugrunde liegende Wurzeln nicht kennt “). Zu den vom Lisān  (XII, 60 b) zitierten Demonstrativpronomina هذا وهؤلاء وذاك وأولئك (dieser, diese, jener, jene) fügt al-Azharī  noch folgen­de hinzu : الذي والذين وما ومَن وعن وما أشبهها ʾallaḏī wa-llaḏīna wa-mā wa-man wa-ʿan wa-mā ʾašbaha-hā (derjenige welcher, diejenigen welche, das was, wer, über und dergleichen). Dieser Ratlosigleit weiß der Lisān nicht anders ab­zuhelfen, als sich Gott anzuvertrauen mit dem zuver­sicht­lichen und gängigen Spruch: واللـه أعلم  wa-llāhu ʾaʿlamu „Gott aber weiß es am besten!“.[vii]

3.1.2 Die klassisch-arabische Form „ayyu“

Die arabischen Philologen wären nicht am Ende ihres Arabisch, hätten sie Grund­kenntnisse des Aramäischen gehabt. Denn die vorzitierten Demon­stra­tivpronomina stammen allesamt vom Aramäischen her, zumindest was die jüngere sprachhistorische Phase betrifft, wie noch näher zu erklären sein wird.

Was nun den interjektionellen koranischen Ausdruck ايها (ayyuhā ) an­geht, so ist er zwar im Syro-Aramäischen nicht zu belegen, die beiden Ele­mente, aus denen er zusammengesetzt ist, lassen sich jedoch nicht vom Ara­bischen, sondern von aramäischen Sprachelementen her erklären. Zwar ha­ben die arabischen Philologen die dem Arabischen und Aramäischen ge­mein­same enklitische Partikel ها /hā  als Deutepartikel richtig erkannt (wie in arabisch هذا /hā-ḏā  (das-da = dieser), die proklitische und sekundäre Partikel اي /ayy  haben sie jedoch fälschlich für ein deklinierbares Nomen gehalten (mit Nominativ-, Genitiv- und Akkusativendung ayy-un /ayy-u, ayy-in /ayy-i, ayy-an /ayy-a ) und ihm sogar (auf Grund der doppelten koranischen Fehllesung ايتها /ayya-tu-hā in Sure 12:70 und 89:27) ebenso fälschlich eine deklinierbare Feminiform اية (ayya-tun /ayya-tu, ayya-tin /ayya-ti, ayya-tan /ayya-ta ) hinzugedacht in der Annahme, es handle sich hierbei um eine echt klassisch-arabische Form. Dies hat die arabischen Gram­matiker zu der Regel verleitet, dass auf die Partikel اي /ayy (u ) (was für, welcher) – als Nomen (!) – der Genitiv folgen muss (als Status constructus).[viii]

In Wirklichkeit ist die koranisch-arabische Partikel اي /ayy  nichts an­deres als eine reduzierte Sekundärbildung aus der syro-aramäischen (ur­sprüng­­lich öyh* /hayn  lautenden) Form öya /ayn. Die Verdoppelung des y  in der ara­bisch reduzierten Form اي /ayy  ist gerade durch den Abfall des syri­schen End-nūn  (als Ersatzverdoppelung) bedingt.

    

3.1.3. Koranische Belege für diese Annahme

Es sind nicht nur die in heutigen arabischen Dialekten gängigen Formen, die dies belegen. Denn während es in syrisch-arabischen Dialekten heißt اين واحد /ayna > ēna wāḥed (was für einer = welcher ?), heißt es in sonstigen Dialekten des Vorderen Orients (wie etwa in Ägypten) ايّ واحد /ayy wāḥed  (ayy < ayn ). Syrisch-arabischاين  /ayn, ayna > ēna  hat sich aus syro-ara­mäisch anya /aynā (< ayn + hā )[ix] (welcher ?) erhalten.

Diese noch im heutigen Syrien bezeugte arabo-aramäische Form اين /ayn(a) (welcher ?) hat uns der Koran erhalten. In Sure 7:185 endet der Vers mit der Frage (nach der Kairiner Koranausgabe) : فباي حديث بعده يومنون  fa bi-ʾayyi adīṯin baʿda-hū yuʾminūna

Paret (S. 140), übersetzt:

„An was für eine Verkündigung (ḥadīṯ ) wollen sie denn glauben (nach­dem sie diese koranische Offenbarung abgelehnt haben)?“

Die Fragepartikel اي (ayy ) erscheint im ḥiǧāzī-Kodex Or. 2165 der British Library (f. 7a, 1) unter folgendem Schrifzug (mit Alif, y und syrischem End-ö ) : öyفبا (fa-bi-ayn), während die Schreibung in BNF 328a (f. 39a, 3) (öفبا ) ein syrisches End-ö  (nun) ohne vorhergehendes y aufweist. Geht man von der syrischen Defektivschreibung der Partikel  öa /ēn  aus, könnte letzterer Schriftzug öفبا /fa-bi-ēn gelesen werden, wenn auch eine arabische Lesung فباي /fa-bi-ayy  nicht auszuschließen ist. Beim Schriftzug öyفبا (fa-bi-ayn /–ayna ) (bzw. fa-bi-ēn ) ist aber die syrische bzw. syro-arabische Endung eindeutig. Diese Schreibung, die in frühen Koranhandschriften des öfteren be­gegnet, wird von manchen des Syro-Aramäischen unkundigen Koran­for­schern für einen Kopistenfehler gehalten. Aus diesem Grunde ist diese Schrei­bung auch aus der kanonischen Koranfassung als (arabisch) offen­sichtlich falsch ausgemerzt worden. 

Das von Paret angezweifelte Wort حديث /ḥadīṯ hat hier mit „Verkün­digung“ in der Tat nichts zu tun. Im koranischen Kontext ist von der Er­schaffung von Himmel und Erde (als Wunderzeichen Gottes) die Rede, die den Ungläubigen dennoch nicht zum Glauben bewegen. Daran schließt sich die logische Frage an :

„Durch welches sonstiges Wunderzeichen denn sollten sie (an Gott) glauben?“

Das Wort  حديث /ḥadīṯ  gibt hier das syro-aramäische Wort atdj /ḥḏattā  wieder, das nach Mannā (223a) اعجوبة. معجزة  Wunder, Wunderzeichen“ bedeutet.

3.1.4 Zum Lautwandel der altaramäischen Partikel הים*/haym 

Die ursprünglich aramäische Form dieser Partikel ist als הים*/haym  anzu­setzen. Im Altaramäischen[x] (wie im Hebräischen) ist die Lautverschiebung von הים*/haym  zu אים*/aym > ēm > אם /əm, im  vollzogen. Parallel dazu haben wir im Syro-Aramäischen den Lautwandel von altaramäisch הים*/ haym zu öyh* /hayn > hān + hēn, wie wir sie im Syrischen wie auch ver­ein­zelt in heutigen arabischen Dialekten als Demonstrativa vorfinden (wovon klassisch-arabisch هنا/h(u)nā, „hier“, parallel zu syro-aramäisch öhA /hān < öyh /hayn  + enklitisches ah / = anh /hān-hā  > hānā, „dieser“).[xi]

Aus der ursprünglich im Altaramäischen eine Exklamation ausdrücken­den Partikel הים*/haym, die u.a. eine Frage einleiten konnte, ist im Ara­bischen eine sekundäre Fragepartikel > أيم /aym  nachzuweisen. Diese Par­tikel ist im klassischen Arabisch nicht mehr in Gebrauch, der Lisān (XII, 41b) bringt sie aber in zwei adīen, bei denen ein Mann den Propheten einmal nach einem Wort fragt, das er nicht verstanden hat : أيم هو /aym(a) hu(wa)?  يريد ما هو  yurīdu mā huwa (damit meinte er : „was ist es“ – bzw. „was heißt das“?). Der Lisān sieht in dieser ihm fremden Partikel eine (ara­bische) Verballhornung, die er klassisch-arabisch wie folgt etymologisch richtig aufzuschlüsseln glaubt :

وأصله أيّ ما هو أي أيّ شيءٍِ هو فخفّف الياء وحذف ألف ما

Ursprünglich hieß es : „ayy mā huwa“ [„was ist es“], ay : „ayy(u) šayʾin huwa“, das heißt: „was für eine Sache ist es“; so löste er das doppelte y(āʾ) und unterließ das Endā  in . (Übers. Verf.)

Dieses altaramäische Relikt zitiert der Lisān aus einem weiteren Ḥadīṯ, wonach ein Mann wiederum fragt : أيمَ تقول /aym(a) ta-qūl (was sagst du ?), was der Lisān erneut wie oben erklärt : يعني أيّ شيء تقول / yaʿnī ʾayyu šayʾin taqūlu (er meint : was für eine Sache sagst du“?). Diese beiden Beispiele belegen, dass zur Entstehungszeit der Ḥadīṯe in bestimmten Gegenden des Orients (aller Wahrscheinlichkeit nach im syrisch-mesopotamischen Raum) archaische Ausdrücke des Aramäischen unter Arabern (bzw. Arabo-Ara­mäern) noch in Gebrauch waren.

     Als Ausdruck der jeweiligen Empfindung konnte die aramäische Exkla­mationspartikel הים*/haym >hēm > ēm je nach Situation unterschiedliche semantische Nuancen annehmen. In letzterer enklitischer Form (-ēm) ist sie aus dem Altaramäischen in der im islamischen Gebetsritual fest verankerten Anrufung اللهم (nach traditioneller Aussprache): Allah(u)m(ma) (o Gott, Herrgott) erhalten. Diese im Koran fünf Mal vorkommende Anrufung (Sure 3:26; 5:114; 8:32; 10:10; 39:46) begegnet erstmals in der arabischen Inschrift im Jerusalemer Felsendom. Dort wird Gott um seinen Segen über Jesus, Sohn der Maria angerufen : اللهم صلي على رسولك وعبدك عيسى ابن مريم / Allāh(u)m(ma) ṣallī ʿalā rasūl(i)k(a) wa-ʿabd(i)k(a) ʿīsā  [bzw. ʾīšā ] (i)bn(i) Maryam (Herrgott, segne deinen Gesandten und Knecht Jesus, Sohn der Maria).[xii]

3.2 Zur Etymologie von اللهم /Allāh(u)m(ma)[xiii]

3.2.1 Arabische und syrische Elemente

Die vorausgegangene Analyse macht deutlich, dass bei der  Anrufung اللهم /Allāh-m das bisher nicht näher geklärte suffigierte End-m die Bedeutung einer nachgestellten Rufpartikel haben muss. Über die Etymologie dieses Suffixes ist der Lisān (XII, 469a ff.) allerdings völlig im Unklaren. Nach dem Philologen und Lexikographen al-Azharī  (gest. 980) seien sich die Gram­matiker über die Vokalisation des hu und des ma (in allāhumma) einig, nicht aber über deren Begründung wie über die Deutung des Suffixes. Wäh­rend al-Farrāʾ (gest. 822) eine kaum denkbare Verbalform أمّ /umma  ver­mu­tet, begnügen sich alle sonstigen Grammatiker, deren Wissen keinem Zwei­fel unterliege, wie al-Ḫalīl  (gest. um 786) und Sībawayh (gest. um 796), mit der Feststellung,  اللهم /Allāh(u)m(ma) bedeute soviel wie يا الله / yā Allāh (o Gott), und dass das verdoppelte End-mīm an Stelle desيا  /yā  (o !) stehe, denn ihnen sei dasيا  /yā  in Verbindung mit diesem م /mīm  bei keinem ein­­zigen Wort begegnet. Weitere Ausführungen des Lisān  zur Herkunft die­ses Suffixes zeugen nur von der verlegenen Unwissenheit der frühen ara­bischen Philologen, Grammatiker und Lexikographen. Dies bestätigt auch Arthur Jeffery (op. cit.) zum Ausdruck الّهمّ (Allahumma) wie folgt :

„The form of the word was a great puzzle to the early grammarians [n. 3: Margoliouth, ERE, vi, 248.]; the orthodox explanation being that it is a vocative form where the final  م takes the place of an initial يا . The Kūfans tool it as a contraction of (Bai. on iii, 25), but their theory is ridiculed by Ibn Yaʿīsh, i, 181. As a vocative it is said to be of the same class as هلمّ [halumma] come along. al-Khafājī, 20, however, recognizes it as a foreign word.

It is possible, as Margoliouth notes (ERE, vi, 248), that it is the Heb. אלהים which had become known to the Arabs through their contacts with Jewish tribes [n. 4: There is to be considered, however, the Phon. אלם = godhead (see references in Harris’ Glossary, p. 77), which is evidence of a Semitic form with final m. Cf. Nielsen in HAA, i, 221, n. 2].“

Dass bei hebräisch אלהים (eloh-ēm > eloh-īm) das Suffix ēm > īm auf eine vorbiblische, altaramäische Vokativpartikel zurückgeht, die mit dem hebräischen Pluralsuffix semantisch nicht identisch ist, wird sich im Folgenden zeigen.

     Überraschenderweise bringt indessen der Lisān (XII, 469a,17) die Plene-Schreibung der Rufpartikel ايم /aym  vor dem Namen Gottes ايم الله , das er ohne weitere Erklärung aym(u)-llāh (o Gott) liest, ohne allerdings zu mer­ken, dass es sich hierbei um ein und dieselbe Rufpartikel handelt wie die enklitische Defektiv-Schreibung in اللهم /Allāh-m (o Gott, Herrgott).

     Diese unerwartete Entdeckung bestätigt also die Annahme, dass die Ruf­partikel ايم /aym > ēm > əm  bis zur Entstehung der arabischen Lexiko­graphie (9.-10. Jh.) im arabischen (bzw. mesopotamischen) Sprachraum als Substrat aus dem Altaramäischen über das Reichsaramäische noch erhalten war. Die Klärung dieses bisher rätselhaften koranischen Suffixes berechtigt uns dazu, den koranischen Rasm اللهم nunmehr nicht nach tradioneller arabischer Vokalisation Allāh-u-m-ma, sondern nach aramäischer Lesart Allāh-ēm  bzw. Allāh-əm zu lesen.   

3.2.2 Parallele Ausdrücke im Äthiopischen und Syrischen

Zur alternativ nachgestellten Rufpartikel ʾō im Äthiopischen verweist C. Brockelmann in seiner vergleichenden Grammatik (VGr II, 84, e.) darauf, dass diese öfter hinter das Nomen tritt wie ʾegzīʾō (o Herr),ʾemmō (o Mut­ter), oder zugleich vorne und hinten wie ʾō beʾesītō  (o Weib, Mt. 15,28).

     Im Syrischen kann nunmehr auf einen bisher nicht erkannten Fall hin­gewiesen werden: es ist das Wort ayrm /Māryā (der Herr), das C. Brockel­mann im Lexicon Syriacum (401a) zu arm /mārā  stellt, das der regel­rech­ten emphatischen Form entspricht. Zu  ayrm /Māryā  vermerkt er: (de deo et Christo), ohne weitere Erklärung. Gleiches bei Theodor Nöldeke, Kurz­gefasste syrische Grammatik (§ 146, S. 91), mit gleichem Vermerk : (nur von Gott und Christus).

     Der eigentliche Grund dieser bisher nicht geklärten Endung auf – ist in der syrischen Liturgie zu suchen. Dort wird nämlich Gott meist mit ayrm /Mār-yā angerufen. Daraus wird klar, dass mit dem Suffix die nach­gestellte Anrufpartikel gemeint ist. Durch den häufigen Gebrauch hat man aber mit der Zeit ayrm /Māryā  für eine Variante von arm /mārā  gefasst, ohne sich erklären zu können, warum erstere Form nur Gott und Christus vorbehalten bleibt.

3.2.3 Parallele zur hebräisch ungeklärten Form אלהים                          (Eloh-ēm > Eloh-īm)  

Die syrische Vokativform ayrm /Mār-yā  (o Herr ), die mit der Zeit zum gängigen Ausdruck für „der Herr“ = „Herr-Gott“ geworden ist, gibt uns Aufschluss über die parallele semantische Entwicklung beim Gebrauch des hebräischen Ausdrucks אלהים (Eloh-ēm >Eloh-īm). Auffallend ist bei diesem Vergleich, dass syrisch ayrm /Mār-yā neben der jüngeren nominalen Be­deu­tung (der Herr) auch die ursprünglich vokative Funktion (o Herr) erhal­ten hat, während hebräisch אלהים (Eloh-ēm >Eloh-īm) letztere (vokative) Funktion verloren hat und in der Biblia Hebraica nur noch als Eigenname  vorkommt. So ist z.B. nach Dt 4,35 Jahwe allein האלהים (hā-Elohīm) („der Gott“ = „Gott“).

     Interessant bei diesem sprachhistorischen Vergleich ist die Feststellung, dass a) die syrische Form ayrm /Mār-yā beide vorgenannten Funktionen hat; b) dass auf Grund dieser Erkenntnis hebräisch אלהים (Eloh-ēm >Eloh-īm) sich formal als eine erstarrte, ursprünglich altaramäische Vokativform herausstellt; und c) dass demgegenüber koranisch-arabisch اللهم (Allāh-ēm > Allāh-əm) formal und semantisch diese altaramäische, vokative Bedeutung beibehalten hat.    

     Religionshistorisch ist auf Grund dieser semantischen Diskrepanz eine unmittelbare Abhängigkeit von koranisch-arabisch اللهم (Allāh-ēm > Allāh-əm) und hebräisch אלהים (Eloh-ēm >Eloh-īm) zu verneinen. Eine Übernah­me aus judenchristlicher Tradition, bei der die Anrufung Gottes mit dem altaramäischen Ausdruck اللهم (Allāh-ēm > Allāh-əm) noch vor dem Koran lebendig war, wie es dessen Gebrauch in der christologischen (und nicht islamischen) Inschrift vom Felsendom nahe legt, ist eher wahr­scheinlich.   

Somit hätten wir mit der im Syrischen geläufigen Anrufung ayrm / Māryā  (o Herr) einen Parallelausdruck zum koranischen اللهم (Allāh-ēm > Allāh-əm; o Gott, Herrgott!). Der gemäß der letzteren Aussprache im klassischen Arabisch fehlende Murmelvokal [ə] wird zu dessen Wiedergabe durch das nahestehende u (in Allāh-um) ge­führt haben. Die traditionelle Vokalisation im Koran (Allāh-u-mma) mit Verdop­pelung des End-mīm und auslautendem a-Vokal ließe sich nur in Anleh­nung an die Aussprache des Personalpronomens der 3. Person Maskulinum Plural in manchen arabischen Dialekten des Vorderen Orients (humma)  (wie etwa in Ägyp­ten) erklären. Letztere lässt sich wiederum durch eine enklitische Demon­strativpartikel (hā) rechtfertigen, dessen h assimiliert wur­de : hum-hā > humma (= die da). Dies wiederum gibt uns Aufschluss darüber, dass die Perso­nalpronomina (selbständige wie auch Personal­suffixe) im Semitischen ursprünglich aus Demonstrativpartikeln entstanden sind.

 

3.3 Ein weiteres aramäisches Relikt im klassischen Arabisch:

اللهمّ / allahumma  (= es sei denn)

3.3.1 Zerlegung der Form in Einzelnmorpheme

In der Orthographie ist dieser Ausdruck allahumma  (= es sei denn) vom vorhergehenden allahumma  (= o Gott) nicht zu unterscheiden. Daher stellt sie Hans Wehr (Arabisches Wörterbuch für die Schriftsprache der Gegenwart, Wiesbaden 1968, S. 21b) ohne Unterschied nebeneinander mit folgender Erklärung:

اللهمّ Allāhumma  o Gott / اللهم الا (illā ) es sei denn daß, abgesehen von, höchstens (nach vorangehender Verneinung); اللهم اذا (iḏā) wenigstens wenn ; wenn nur ; اللهم نعم (naʿam ) bei Gott, ja ! sicher­lich ! “

In Wirklichkeit unterscheiden sich beide Ausdrücke aramäisch wie folgt :

1. Bei Allāhumma (eigentlich Allāh-ēm /-əm ) (o Gott) besteht die erste Komponente aus Allāh (Gott), die zweite aus der aramäischen Rufpartikel ēm.   

2. Der zweite Ausdruck lässt sich in drei Teile zergliedern :

     a) aus der aramäischen Bedingungspartikel hayn > hēn > ēn (ara­bisch   > in ) (wenn); 

     b) aus der dem aramäischen und arabischen gemeinsamen Nega­tionspartikel (nicht );  

     c) aus der altaramäischen Demonstrativpartikel haym  > hēm (dieses).     

Zusammensetzung : das End-nūn  von ēn assimiliert sich dem folgenden l  der Negationspartikel : ēn +  (wenn nicht)= el-lā (= außer, es sei denn) + hēm > həm (dieses, Folgendes). So entsteht el-lā-hēm  (bzw. el-lā-həm) (= außer dieses, es sei denn dieses).

Da aber dieser Ausdruck unarabisch ist, versteht ihn der Araber etwa so : „es sei denn = das weiß Gott!“ Daher überträgt er diesen Ausdruck in die gleich­lautenden, aus dem jüngeren Aramäisch stammenden Elemente des heutigen Arabisch und fügt hinzu : إلا إذا /illā iḏā  oder إلا أن /illā an  (= außer wenn, es sei denn ). So entsteht eine interessante, aus älterem und jüngerem Aramäisch zusammengesetzte Tautologie  اللهم إلا إذا (allahumma illā iḏā) oder اللهم إلا أن (allahumma illā an). Und diese subtile Kombination nennt man klassisch-arabisch. Der Lisān (III, 42a) zitiert insoweit Abū Manṣūr, der die Richtigkeit eines Wortes in Frage stellt und einschränkend sagt: اللهمّ إلا أن يكون لغة لبعض العرب لا أعرفها، فإنّ اللغات أكثر من أن يحيط بها رجل واحد  (es sei denn [allahumma illā an], es wäre ein dialektales Wort irgend­welcher Araber, das ich nicht kenne, denn Dialekte sind zahlreicher, als dass ein einzelner Mann sie erfassen könnte).  

3.3.2 Konjektur der Interjektion أيّهـا /ayyuhā > إنهـا /ēn-hā

Die vorausgeschickte Darlegung der aramäischen Varianten der ursprüng­lich nicht näher definierten Exklamation haym > hēm > həm, > aym > ēm > əm, > hayn > hēn > hən, > ayn  > ēn > ən , die im Laufe der Sprachgeschich­te je nach Situation unterschiedliche semantische Nuancen angenommen hat, hat hinreichend deutlich gemacht, dass die beiden diakritischen Punkte des Schriftzuges ايهـا (kanonische Lesung ayyuhā ) mangels einer münd­lichen Tradition von den frühen Koranlesern falsch gesetzt worden sind. Der gleiche Schriftzug, 20-mal mit einem Oberpunkt versehen, ist إنهـا inna-hā gelesen worden, weil der Kontext diese Lesung nahe legte. Hier ist das Suffix – zwar ein Personalsuffix Femininum, das proklitische Element ist aber hier wie dort ein Demonstrativpronomen. Da dieses aber im Syro-Aramäischen defektiv (öa) wie plene (öya) (beides ēn) geschrieben werden kann, wird letztere Schreibung gerade von den beiden koranischen Belegen (in Sure 12:70 und 89:27) bestätigt, die fälschlich für eine Femininform (ايتهـا /ayya-tu-hā) der grammatisch neutralen Rufpartikel ايهـا /ayy-u-hā gehalten wurden. Dabei entspricht der Schriftzug ايتهـا gerade der syrischen Plene-Schreibung, während ايهـا der Defektiv-Schreibung entspricht. Beide Schriftzüge sind daher اينهـا bzw. انهـا = ēn-hā  zu lesen. So ergibt sich mit der Rufpartikel يا / und der doppelten Demonstrativpartikel انها /ēn-hā  die Lesung يانهـا /yā-ēn-hā, was soviel bedeutet wie: „o (Ihr) die da !“

 

3.4 Nachweis der syro-aramäischen interjektionellen Partikel öya /ēn  (= arabisch اين) im Koran [xiv]

Dass das syro-aramäische Empfindungswort öya /ēn, defektiv und plene ge­schrie­ben, je nach Kontext unter variierten semantischen Nuancen im Ko­ran nachzuweisen ist, ist von der bisherigen Koranforschung wie von den ara­bischen Grammatikern und Philologen übersehen worden. Für die frü­hen wie die späteren arabischen Philologen galt nämlich die Koran­sprache als unzweifelhaftes Vorbild des reinen klassischen Arabisch. Daher ihr Be­mühen, die Koransprache von ihren arabischen Sprachkenntnissen her zu erklären. Hätten sie Kenntnisse des Syro-Aramäischen gehabt, wäre ihnen manches Dunkel der Koransprache aufgegangen, wie nachfolgend aufzu­zeigen sein wird.

Den Beweis dafür, dass beim besprochenen interjektionellen Ausruf so­wohl beim Schriftzug ايهـا /ayyu-hā als auch bei ايتهـا /ayyatu-hā die dia­kritischen Punkte falsch gesetzt worden sind, und dass die korrekte Le­sung in beiden Fällen اينهـا / انهـا = ēn-hā  lauten muss, liefert uns der Koran selbst, und zwar gleich an fünf Stellen, wenn auch diese ebenso falsch ge­lesen worden sind.

Es handelt sich um die bisherige Lesung ايي /ʾiyyā-y  in folgenden Ko­ran­passagen : Sure : 40+41 ; :155 ; 16 :51 ; 29 :56. Erst der Kontext und die Syntax der betreffenden Passagen machen die Fehllesung dieses Schrift­zuges deutlich. In Sure 2:40 mahnt Gott die Kinder Israels, seiner Gnade eingedenk zu sein und seinen Bund zu erfüllen. Daran anschließend folgt die Mahnung (im Imperatif): وإيي فارهبونِ (kanonische Lesung): wa-ʾiyyā-y fa-rhabūn(ī). Paret übersetzt : Und vor mir (allein) sollt ihr Angst haben.“ Wörtlich heißt es aber nach kanonischer Lesung: „und mich fürchtet mich“ (im Akkusativ).

Nun ist es im Arabischen so, dass das Wort إيّا /ʾiyyā[xv], mit dem Personalsuffix verbunden und hervorhebend vor dem Verb stehend, u.a. (meist, aber nicht ausschließlich) den Akkusativ bezeichnen kann, voraus­gesetzt allerdings, das gleiche Personalsuffix hängt nicht schon am Verb selbst. So heißt es in Sure 1:5 (al-fātiḥa ):

إياك نعبد وإياك نستعين

„Dich verehren wir, und dich bitten wir um Beistand.“

Soweit stimmt die Syntax in diesem Doppelsatz. Dagegen kann es im Ara­bischen (ebensowenig  wie im Deutschen) syntaktisch heißen : „Dich vereh­ren wir dich, und dich bitten wir dich um Beistand!“ So lautet aber die Satzkonstruktion (nach kanonischer Lesung) in den Suren : 40 + 41, 16 :51 und 29 :56. Zusätzlich zu iyyā-y  (mich) ist mit dem folgenden Verb das Suffix der 1. Person (wenn auch defektiv) verbunden, so dass es nach kanonischer Lesung heißt: „Mich also fürchtet mich!“ (statt: „Fürchtet mich also!“). Eine solche Lesung ist syntaktisch auszuschließen. 

3.5 Graphischer Nachweis des syrischen End-ö /n in den iǧāzī-Kodices BNF 328a und British Library Or. 2165   

Der Grund für diese offensichtliche Fehllesung liegt an der falschen Ausle­gung des ursprünglichen, im iǧāzī–Kodex der British Library Or. 2165 (f. 35b, Z. 2) bezeugten Schriftzuges. In der Kairiner Ausgabe heißt es in Sure 16;51 :

وقال اللـه لا تتخذوا الهين اثنين انما هو اله واحد فايي فارهبون

« Gott sprach : Nehmt euch nicht zwei Götter, Gott ist vielmehr Einer ; mich also – so fürchtet mich!“

Im Faksimile des vorgenannten Kodex ist an der entsprechenden Stelle das End-ى/y des unterstrichenen arabischen Wortes mit einem gegen die Schreib­­richtung gezogenen ö geschrieben, was einem syrischen (garšūnī /karšūnī) End-nūn entspricht. Diese Schreibung entspricht demnach syrisch öyap = arabisch  فاين (fa-ayn >fa-ēn) und hat hier die Bedeutung einer warnenden (auffordernden) Partikel, wie deutsch etwa : „Nun denn! Wohlan! “ Dieser Vers ist daher so zu verstehen:

„Gott sprach : Nehmt euch nicht zwei Götter, Gott ist vielmehr[xvi] Einer ; wohlan denn! so fürchtet mich!“

Die gleiche Schreibung (mit syrischem End-ö  ) liegt vor im Abschnitt der Sure 7:155 in beiden Kodizes BNF 328 a (f. 37a, 4) und British Library Or. 21 65 (f. 5a, -2). Diesen Abschnitt liest die Kairiner Ausgabe wie folgt :

قال رب لو شئت اهلكتهم من قبل وايى اتهلكنا بما فعل السفها منا

Paret (136):

(Moses sagte): „Herr! Wenn du gewollt hättest, hättest du sie (schon) früher zugrunde gehen lassen, und mich (dazu). Willst du uns denn zugrunde gehen lassen (zur Strafe) für das, was die Toren unter uns getan haben?“

Liest man aber den arabisch falsch transkribierten Schriftzug وايى (wa-iyyā-y ) in der syrisch korrekten Schreibung öyaw = arabisch واين (wa-ayn > wa-ēn), so ergibt diese Lesung die interjektionelle Bedeutung: „wie denn!“. Diese von den arabischen Koranlesern kontextuell erkannte Bedeutung ist 28-mal im Koran als انى (annā) falsch transkribiert und falsch gelesen wor­den. Danach ist der zitierte Abschnitt aus Sure 7:155 so zu lesen und entsprechend zu verstehen :

قال رب لو شئت اهلكتهم من قبل واين اتهلكنا بما فعل السفها منا

(Moses sprach) : „Herr, wenn du es gewollt hättest, hättest du sie zuvor zugrunde gerichtet. Aber wie denn ! Wolltest du uns etwa wegen dessen zugrunde richten, was die Abgeirrten[xvii] unter uns getan haben?“

Es bedarf keiner weiteren Nachweise, um die drei übrigen Stellen (Sure 2:40 + 41, und 29:56), die in den genannten Kodizes fehlen, in gleicher Weise zu lesen und zu verstehen. Danach heißt es in Sure 2:40  nicht وايي فارهبون /wa-iyyā-y fa-rhabūn(ī ), sondern : واين فارهبون /wa-ēn fa-rhabūn(ī)Wohlan denn, so fürchtet mich!“ Und im folgenden Vers 41 nicht : وايى فاتقون /wa-iyyā-y fa-ttaqūn(ī), sondern  واين فاتقون /wa-ēn fa-ttaqūn(ī)Wohlan denn, so habt Ehrfurcht vor mir!“. So auch in Sure 29:56, bisherige Lesung : فايي فاعبدون /fa-iyyā-y fa-ʿbudūn(ī), zu lesen : فاين فاعبدون /fa-ēn fa-ʿbudūn(ī)  „Wohlan denn, so verehrt mich!“.

Das sind längst nicht die einzigen Fälle, noch die bereits publi­zier­ten[xviii], bei denen das syrische End-ö  in frühen Koranhandschriften in ein arabisches ى /y  verwandelt worden ist. An das Thema der Sure 7:155 wieder an­knüpfend, wo Moses Gott um Vergebung und Erbarmen für sein abgeirrtes Volk bittet, erwidert Gott in Vers 156 :

قال عذابي اصيب به من اشا ورحمتي وسعت كل شي

Paret (136):

(Gott) sagte: „Mit meiner Strafe treffe ich, wen ich will. Aber meine Barmherzigkeit kennt keine Grenzen [Anm.: W.: umfasst alles].

Dieses Verständnis ist auf Grund des arabisch verstandenen Satzes nicht zu beanstanden. Paret übersetzt zwar sinngemäß, dass die Barmherzigkeit Got­tes keine Grenzen kennt, vermerkt aber, dass sie (wörtlich) alles umfasst. Heißt arabisch شي /šayʾ  an sich „Sache, Ding “, so heißt es in Verbindung mit كل /kull  (kull šayʾ  = „jede Sache“) in der Tat „alles“, worunter man alles von Gott Geschaffene – also auch Menschen – verstehen kann.

Eine andere Interpretation lässt der Kairiner Text in der Tat nicht zu, würde nicht der Korankodex BNF 328a an dieser Stelle (f. 37a, 10)[xix] einen abweichenden Schriftzug mit medialem Alif /ā und syrischem End-ö /n  (öسـا ) zeigen. Entschlüsselt, ergibt diese Schreibung morphologisch ein Partizip Präsens, das arabisch die Lesung شـان /šān(in) ergibt. Diese Lesung ist allerdings nicht mit arabisch شـأن /šaʾn (Angelegenheit) zu verwechseln. Es handelt sich vielmehr um das substantivierte syro-aramäische Partizip Prä­sens aync /šānyā (Irrender, Verirrter), das in diesem Kontext einen un­mittelbaren Bezug zum synonymen arabischen Adjektiv سفها /sufahāʾ  (Ab­ge­irrte, Verirrte) im vorhergehenden Vers 155 steht. Damit wird auf die Verehrung des goldenen Kalbes angespielt. Zu einer solchen Verirrung bringt C. Brockelmann (Lexicon Syriacum, 789b) unter dem Verb anc /šnā folgenden Beleg

: atwy[f rtb öwknwh anc (

šnā hawn-ḵōn bāar ṭāʿyūṯā) mens vestra aberravit (wörtlich: euer Sinn irrte ab = folgte abirrend der Irrlehre nach). Dies bestätigt die syro-aramäische Bedeutung des (vor­läufigen) koranischen Hapaxlegomenons شـان /šān(in)(Verirrter, Abge­irr­ter) als Synonym des arabischen Adjektivs سفها /sufahā in der gängigen ara­bi­schen Bedeutung von ضالين /ḍāllīn (Abgeirrte), die gleichfalls über die Se­man­tik des lexikalisch entsprechenden syro-aramäischen Adjektivs (ayfc /šāyā) erschlossen wurde. Der besprochene Versabschnitt aus Sure 7:156 ist daher nach der vorgeschlagenen Konjektur so zu lesen und zu verstehen :

قال عذابي اصيب به من اشا ورحمتي وسعت كل شان

qāl(a) : ʿaḏābī uib(u) bi-h(i) man ašā) wa-ramatī wasiʾat kull(a) šān(in)

Er sprach: ‚Mit meiner Strafe treffe ich, wen ich will, meine Barmherzigkeit aber umfängt jeden [reuigen] Abgeirrten’.

 

3.6 Zu den Bedingungssätzen im Koran

3.6.1 Die syro-aramäische Partikel öa /ēn als Fragepartikel im Koran

Die im Beitrag „Keine Schlacht von ‚Badr’“ zu syrischen Buchstaben in frü­hen Koranmanuskripten[xx] aufgezeigten Fallbeispiele zur Funktion der syro-ara­mäischen Interjektion öya /ēn als Fragepartikel ließen weitere bisher nicht erkannte Fälle im Koran vermuten. Die jüngere klassisch-arabische Lesung des Korantextes überdeckt aber den syro-aramäischen Hintergrund derart, dass einem arabischen Leser (bzw. einem Arabisten) versagt bleibt, darin etwas anderes zu sehen als Arabisch. Um einen solchen Fall geht es im folgenden Abschnitt der Sure 7:187, wo es  in Bezug auf die letzte Stunde heißt :

يسلونك كانك حفي عنها قل انما علمها عند اللـه

Paret (140) übersetzt :

„Man fragt dich (nach ihr), wie wenn du über sie genau im Bilde wärst (? ka-annaka afīyun ʿanhā ). Sag : Über sie weiß nur Gott Bescheid.“

Wie im Folgenden dargelegt werden wird, handelt es sich dabei aber um einen Bedingungsatz ohne Konjuktion.

 

3.6.2 Bedingungssätze ohne Bedingungspartikel im Koran

Zunächst zur Syntax : Arabisten haben bei einer solchen Satzkonstruktion nicht erkannt, dass ein Imperfekt zu Beginn eines Satzes nicht immer indi­kativisch (rein formal als Präsens), sondern (kontextuell)  konjunktivisch  zu verstehen ist, sofern ein solches Imperfekt einen Bedingungssatz – ohne Bedingungspartikel – einleiten kann. In vorliegendem Fall macht der mit einem Imperativ eingeleiteten Nachsatz (qul : so sprich = so antworte) die konditionale Satzkonstruktion deutlich. Also : يسلونك /ya-salūnak(a)  ist nicht indikativisch mit „man fragt dich“ zu übersetzen, wie es nicht nur Paret tut, sondern konjunktivisch : „fragten sie dich“, d.h.: „sollten sie [= sollte man] dich fragen“.

Auch der Nachsatz eines Bedingungssatzes bedarf nicht immer der Konjunktion فـ /fa  (ebenso wenig wie deutsch: so), der Tempuswechsel (im Imperativ) an sich zeigt den Einsatz des Nachsatzes an. Also : يسلونك /ya-salūnak(a)  (fragt man = fragte man dich = sollte man dich fragen,) … قل /qul  (sag = [so] antworte) (1-mal فقل /fa-qul  in Sure 20:105).

Diese konditionale Satzkonstruktion, eingeleitet mit يسلونك /ya-salūnak(a) (fragt man dich), kommt allein 15-mal im Koran vor. Trotz die­ser Häufigkeit ist es Arabisten (auch ersten Ranges) nicht aufgefallen, dass es sich hier nicht um zwei getrennte Aussagesätze handelt, wie sie alle aus­nahmslos übersetzen, sondern um einen einheitlichen Bedingungssatz mit Vorder- und Nachsatz. Spätestens bei Sure 20:105, wo der Nachsatz mit der Konjunktion فـ /fa  eingeleitet wird, hätte ihnen diese Syntax geradezu ins Auge springen sollen. Aber selbst da übersetzt z.B. Bell (I, 300): „They ask thee about the mountains ; so say …”. Dergleichen Satzkonstruktionen sind es aber noch mehr im Koran, die noch kein Koranforscher gesehen hat. Dies ist nicht verwunderlich, denn in der klassisch-arabischen Grammatik steht zur Satzlehre nichts über Bedingungssätze ohne Bedingungspartikel, obwohl solche Konstruktionen nicht nur im Syro-Aramäischen, sondern auch in den heutigen arabischen Dialekten gang und gäbe sind. So heißt es z.B. in syrisch-libanesischen Dialekten: „bi-ḥəbb yəǧī, ahlā w-sahlā fīh “ (möchte er kommen, [so] sei er willkommen). Und dergleichen Beispiele mehr.

Die eigentliche Crux aber liegt beim nächsten Ausdruck كانك (kano­nische Lesung) : ka-ʾannaka (arabisch: „als ob du“). Paret stellt aber nicht nur diesen Ausdruck, sondern den gesamten folgenden Satz in Frage : (ka-ʾannaka ḥafīyun ʿanhā ). Er merkt nämlich, dass der Nachsatz die Antwort auf die gestellte Frage enthält, die zwar im Vordersatz angekündigt, aber nicht ausgesprochen ist. Denn der auf „Fragen sie dich“ folgende Satz liest sich arabisch wie eine Zwischenbemerkung : „als ob du über sie genau im Bilde wärst (?)“. Die Frage selbst aber fehlt, so dass der Satz in der Luft hängen bleibt. 

 

3.6.3 Des Rätsels Lösung : arabisch كانك /ka-anna-ka (als ob du) = syro-aramäisch „ka-ēn-ak“ (wie [kommt es], dass du …)

Dass der sowohl im klassischen wie im gesprochenen Arabisch geläufige Ausdruck كانك /ka-ʾannak(a) in diesem Kontext nicht arabisch („als ob du“), sondern syro-aramäisch (wie [kommt es], dass du) zu verstehen ist, liegt außerhalb jeglicher Vorstellung eines Arabers oder Arabisten. Der Aus­druck ist zu geläufig, als dass man überhaupt auf die Idee käme, ihn zu hin­terfragen. In arabischer Perspektive läge die Anomalie viel eher anderswo.

Doch folgende Analyse wird uns dazu verhelfen, die semantischen Nuan­cen dieses aus aramäischen Elementen zusammengesetzten Adverbs nachzu­vollziehen. Arabisch كان / ka-ʾan  setzt sich zusammen aus der ara­mä­ischen Deute- und Vergleichspartikel ka und (wie schon dargelegt) der  Demon­stra­tivpartikel öyh (hayn > hān / hēn > ayn > ān /ēn  > ən). In dieser Zusammensetzung heißt كان /ka-ʾan  wörtlich zunächst „wie dieses“. Da aber die syro-aramäische Partikel öa /ēn  auch eine temporale Bedeutung hat, nämlich „wenn“ (> arabisch ان /ʾan /ʾən ), kommt es zu der Bedeutung „wie wenn = als ob“.

Dass aber in diesem koranischen Kontext كان /ka-ʾan nicht diese gän­gige, spezifisch arabische Bedeutung hat, sondern die syro-aramäische „wie [denn] das“, liegt wiederum an den semantischen Varianten der gleichen Elemente, nämlich a) vergleichend : „wie wenn“, b) fragend : „wie [denn] das?“.

Der tiefere Grund letzterer Gleichung liegt aber in der formalen Über­tragung des entsprechenden syro-aramäischen Ausdrucks anya  Kyad /d-āḵ aynā, den Mannā (15b) arabisch mit كيف /kaifa  (wie?)[xxi] wiedergibt, in die arabisch gängigen Elemente. So entspricht syrischKyad /d-āḵ  arabisch كـ /ka, und syrisch anya /aynā (+ Suffix der 2. Person Singular) arabisch (defektiv) انك /ēna-k = كانك /ka-ēna-k (< ka-ayna-k) (klassisch-arabisch fiktive Aussprache : ka-ʾanna-ka, ka-ʾinna-ka). So ergibt sich semantisch die syro-aramäische Bedeutung: „wie [bist] du“.

Der eigentliche Sinn erschließt sich aber erst, wenn wir die darauf folgende Partizipialform حفي /afī(yun) geklärt haben. Bis auf die Verdoppelung des End-y stimmt die Lesung des حـ /  (ohne diakritischen Punkt) mit dem hier gemeinten syro-aramäischen Partizip Passiv aypj /ḥa (im Status emphaticus) zufälligerweise überein. Arabisch müsste das  hier  lauten. Denn Mannā (255b) erklärt syrisch aypj /ḥa  arabisch mit خفيّ. مستور. محجوب (afī, mastūr, maḥǧūb) (verborgen, verhüllt, verschleiert). Die nachfolgende Präposition عنها /ʿan-hā  bezieht sich auf die (letzte) Stunde.

Die philologische Analyse dieses Versabschnitts von Sure 7:187 führt uns nunmehr zu folgender teilweise emendierter Lesung :

„ya-salūna-k(a): ka-ēna-k  ḥafī ʿan-hā ?  qul: ēn-mā ʿilm(u)hā ʿind Allāh. “

Bei allem arabistischen Bemühen konnte Paret aus diesem Versabschnitt mit folgendem Übersetzungsversuch nicht recht klug werden :

„Man fragt dich (nach ihr), wie wenn du über sie genau im Bilde wärst (? ka-annaka afīyun ʿanhā ). Sag : Über sie weiß nur Gott Bescheid.“

Syro-aramäisch philologisch und syntaktisch durchleuchtet, ist dieser Satz hingegen nunmehr sinngemäß so zu verstehen :

Fragt man dich [= sollte man dich fragen]: ‚wie kommt es, dass sie dir verborgen bleibt?’,[xxii] [so] antworte : ‚Wahrlich, das Wissen darüber (ist) bei Gott’.“

3.7 Zur Etymologie von ايان /ayyān(a)

Da dieses Zeitadverb zu Beginn des besprochenen Verses (7:187) vor­kommt, soll es etymologisch kurz mit besprochen werden. Vom Sinn her besteht zwar kein Problem, aber die arabischen Philologen sehen darin eine koranische Sonderform des Zeitadverbs „wann“. Auch Hans Wehr (Ara­bisches Wörterbuch, 33b, Lisān XIII, 45a) führt dieses Wort als eigenes Zeitadverb auf. Die arabischen Philologen scheinen übersehen zu haben, dass es sich bei diesem Wort nicht um eine Sonderform des Zeitadverbs handelt, das sie als solches, den grammatischen Regeln zufolge, akkusati­visch mit Endvokal –a gelesen haben, sondern um ein Kompositum, das aus zwei aramäischen Demon­stra­tivpartikeln zusammengesetzt ist: a) aus der proklitischen Partikel öya /ayn, deren End-nūn durch die enge Verbindung mit dem folgenden Element assimiliert wird und zur Verdoppelung des mittleren y führt (ayn > ayy); b) daran schließt sich die zweite Demonstrativpartikel öya /ayn, deren Mono­phthongisierung zu ʾān  durch Abfall des mittleren Vokalelements y  und die dadurch bedingte Längung des Vokals ā zu erklären ist. So ist das klassisch-arabische Substantiv آن /ʾān (Zeit) aus der syro-aramäischen Demon­strativpartikel öya /ayn > arabisch آن /ʾān sekundär entstanden. Weder die arabischen Philologen noch Arabisten scheinen sich dieser Ety­mologie gewahr zu sein. Hans Wehr (Arabisches Wörterbuch, 31) bringt das Wort unter der (fiktiven) Wurzel اون /awn, da die arabischen Philologen aus dieser Fiktion auf eine weitere (vermeintlich) klassisch-arabische Form اوان /awān geschlossen haben, von der sie sogar nach allen Regeln der Kunst (der klassisch-arabischen Grammatik) einen klassisch klingenden Plural  آونة /āwina  (Zeiten) gebildet haben.

Interesssant bei dieser arabischen Neuschöpfung ist, dass das heute ge­läu­fige arabische Substantiv آن /ʾān aus der syro-aramäischen Demonstra­tivpartikel öya /ayn  entstanden ist. Dieses Demonstrativum konnte auf den Ort wie auf die Zeit hinweisen (ähnlich lateinisch hic et nunc). Diese syro-aramäische Partikel wurde mit der Zeit zu einem arabischen Substantiv.

Beim koranischen Kompositum ايان (traditionelle Lesung: ayyāna) ha­ben die arabischen Philologen nicht gesehen, dass es sich hierbei um ei­nen zusammen geschriebenen Status constructus handelt, dessen regiertes Ele­ment im Genitiv stehen müsste, nicht im Akkusativ. Im schriftlichen Ara­bisch werden diese beiden Wörter in aller Regel getrennt geschrieben: أيّ آنِ /ayya ān(in). Als solche werden sie als Status constructus selbstver­ständlich erkannt. Dass sie im Koran zusammen geschrieben sind, ist eine koranische Eigenart, die die arabischen Grammatiker als Status constructus nicht er­kannt haben. Diese Sonderschreibung haben sie deshalb für ein eigenes Zeit­adverb (ayyāna) gehalten.

Mit dem arabischen Artikel الـ /al- verbunden, wird الآن /al-ān (wört­lich: das Hier) erst zum Adverb jetzt“. Eine abschließende Bemerkung zum so genannten arabischen Artikelal-“: es handelt sich hierbei gleichfalls um die syro-aramäische Demonstrativpartikel Lh /hal  > الـ /al- , die auf ein ferner liegendes Objekt hinweist. Parallel dazu dient der reduzierte Deute­laut  als Determinationsartikel im Hebräischen.

 

3.8 Zur Verlesung der Schreibung  أيه  in Sure 55: 31

In diesem Vers ist der Schriftzug أيه für eine Defektivschreibung von ايهـا /ayyuhā  gehalten worden. Der koranische Vers in kanonischer Lesung lautet :

سنفرغ لكم ايه الثقلان

sa-nafruġu la-kum ayyuhā aqalān

Im Vertrauen auf die Mutmaßungen der arabischen Kommentatoren geben unsere Referenzübersetzer diesen Satz wie folgt wieder :

     Paret (447):

31: „(Aber?) wir werden uns (am Tag des Gerichts) für euch Zeit nehmen (sa-nafruġu la-kum), ihr beiden Gewichtigen (?) [Anm. 14: Oder: Ihr Leichten und ihr Schweren (? aaqalāni). Gemeint sind wohl die Geister und die Menschen.]

     Blachère (569):

31 „Nous allons Nous occuper de vous à loisir, ô deux charges [de la Terre] ! “

     Bell (II, 550):

31. „We shall have leisure for you, O ye two burdensome com­pa­nies.” [Anm. 1: Or “two races ; the reference to men and jinn.]

Mit diesem Verständnis geben unsere Übersetzer nicht das wieder, was der Koran meint, sondern die verfehlten Mutmaßungen der bei abarī  (XXVII, 136) angeführten Kommentatoren (Ibn ʿAbbās, Qatāda und aaḥḥāk). Diesen kann wiederum dafür kein Vorwurf gemacht werden, da sie einen falsch gelesenen Text zu interpretieren hatten. Dieser soll deshalb zunächst emendiert werden.    

Beim Verb سنفرغ (sa-nufriġu) ist der Punkt auf dem غ überflüssig. سنفرع /sa-nufriʿu gelesen, ergibt dies das syro-aramäische Verb {rp /praʿ, das Mannā (612) arabisch mit كافأ /kāfaʾa (belohnen), جازى /ǧāzā (vergelten) und عاقب /ʿāqaba (bestrafen) wiedergibt. Nach bisheriger Lesung heißt das Verbum also nicht „wir werden uns für euch Zeit nehmen“, sondern: „wir werden euch belohnen, vergelten“.

Der für eine Defektivschreibung von  ايهـا/ayyuhā gehaltene Schriftzug ايه ist اثه /āṯa (kanonische Fehllesung اية /āya) zu lesen. Die Grundbedeu­tung „Zeichen“ ist hinlänglich bekannt. Mit dem arabischen Synonym دلالة /dalāla (Hinweis, Anzeige) gibt Mannā (46a) die zu dieser Stelle passende Bedeutung an, sofern man das folgende rätselhafte Wort الثقلان /aṯ-ṯaqalān entschlüsselt hat.

Hierzu lehrt uns der Koran mehrfach (Sure 7:8,9; 18:105; 21:47; 23:102,103; 101:6,8), dass beim Jüngsten Gericht die Waage aufgestellt wird, um die gu­ten und bösen Werke der Menschen abzuwiegen. Diese stellen die „Gewich­te“ (= die „Abzuwiegenden“) dar, die, voneinander getrennt, auf beide Waag­schalen gestellt werden. Mit الثقلان /aṯ-ṯaqalān sind also keines­wegs die beiden „Gewichtigen“, nämlich die Menschen und Dschinnen ge­meint, wie es H. Wehr in seinem Arabischen Wörterbuch für die Schrift­sprache der Gegen­wart (92b), dem Lisān (XI, 88a/b) folgend, als gängigen Begriff aufführt, sondern die auf beiden Waagschalen zu wiegenden bzw. abgewogenen Wer­ke. Auf letzteres deutet die traditionelle Lesung ṯaqal  (gemäß dem syro-aramäischen Partizip Passiv auf paʿlā /paʿal )[xxiii] hin.

Die Konjektur von اثه /āa (Zeichen, Hinweis) hat schließlich deutlich ge­macht, dass dieses Wort als Nomen mit dem folgenden Wort gram­ma­tisch einen Status constructus bildet, so dass الثقلان /aaqalān  nicht im Nomina­tiv, sondern im Genitiv stehen undالثقلين  /aaqalayn  lauten müss­te. Die No­mi­nativform ist aber hier, durch den Reimzwang bedingt, zu rechtfertigen.

Die philologische Erörterung dieses Verses aus Sure 55:31 führt ab­schließend zu folgender Berichtigung des koranischen Textes und zu folgen­dem neuen Verständnis :                                                                                                          

سنفرع  لكم اثة الثقلان

sa-nufriʿu la-kum āṯat aṯ-ṯaqalān = aaqalayn

„Wir werden euch (gemäß) der Anzeige der beiden Gewichte (= abgewogenen Werke) vergelten.“[xxiv]

Mit der Konjektur der traditionellen Lesung ايه /ayyu-hā  zu اثه /āa(t) in Sure 55:31reduziert sich die bisherige 153-fache Fehllesung ayyu-hā (> ēn-hā) auf 152-mal im Koran.


[i]    Koranzitate nach : Qur’ān karīm, Kairo : maṭābiՙ al-Ahrām al-tiǧārīya, 1972.

[ii]      Paret, Rudi. Der Koran. Übersetzung, 2. Aufl., Stuttgart : W. Kohlhammer, 1982.

Blachère, Régis, Le Coran, traduit de l’arabe, Paris : G.-P. Maisonneuve, 1957.

Bell, Richard, The Qurʾān : Translated, with a Critical Rearrangement of the Su­rahs, vol. 1, Edinburgh : T. & T. Clark, 1937, vol. 2, Edinburgh, 1939.

[iii] al-Ṭabarī , Abū Ǧaʿfar Muḥammad b. Ǧarīr, Ǧāmiʿ al-bayān ʿan taʾwīl ʾāy al-Qurʾān (Korankommentar), 30 Teile in 12 Bänden, 3. Aufl., Kairo : šarikat maktabat wa-maṭbaʿat Muṣṭafā al-Bābī al-Ḥalabī wa-awlāduh, 1968.

 

[iv] Carl Brockelmann, Grundriß der vergleichenden Grammatik der semitischen Sprachen, II. Band: Syntax, Hildesheim: Georg Olms Verlag, 1999 (4. Nachdruck der Ausgabe Berlin 1913), 34, d. Brockelmann zitiert ferner aus dem Koran ʾauhā ʾl-muʾminūna ‚o ihr  Gläubigen’ Sūra 24:31.

[v]   Lisān al-ʿarab, li-l-imām al-ʿallāma … ibn Manẓūr al-ifrīqī al-miṣrī, Beirut: dār Ṣādir – dār Bayrūt, 1956.

[vi] Lisān, XIV, 57 b :       وأما قولهم في النداء أيها الرجل وأيتها المرأة وأيها الناس فإن الزجاج

 قال: أيّ اسم مبهم مبني على الضم من أيها الرجل لأنه منادى مفرد ، والرجل صفة لأي لازمةوقال الكوفيون: إذا قلت أيها الرجل ، فيا نداء ، وأيّ اسم منادى ، وها تنبيه ، والرجل صفة ، قالوا ووصلت أيّ بالتنبيه فصارا اسما تامّـا لأن أيا وما ومن والذي أسماء ناقصة لا تتم

 إلا بالصلات ، ويقال الرجل تفسير لمن نودي .

[vii] Lisān, XII, 60 b :  والأسماء المبهمة عند النحويين : أسماء الإشارات نحو قولك هذا وهؤلاء وذاك وأولئك ، قال الأزهري : الحروف المبهخمة (هي) التي لا اشتقاق لها ولا يٍِعرف لها

 أصول مثل الذي والذين وما ومن وعن وما أشبهها ، والله أعلم .

[viii]   Siehe z.B. Carl Brockelmann, Arabische Grammatik, 14. Aufl., besorgt von Manfred Fleischhammer, Leipzig: VEB Otto Harrassowitz, 1960, 32, § 19 a (Pronomina interrogativa): „ أي (ayy-un ), أية (ayya-tun) (nur als Sing. flektierbar; doch tritt oft das Mask. statt des Fem. ein; auch mit Suffixen verbindbar), was für einer ? welcher ? “ Brockelmann gibt hier lediglich die Beschreibung der arabischen Grammatiker wieder, ohne auf die Etymologie dieses Wortes einzugehen.

[ix] Die diesbezügliche Analyse des Thesaurus Syriacus (I, 158), der in dieser Ver­bindung eine Fragepartikel Ya /ay und ein Demonstrativpronomen anh /hānā sieht, trifft insoweit nicht zu. Denn die Partikel Ya /ay ist erst sekundär aus öya / ayn entstanden, während anh /hānā aus der früheren Demonstrativpartikel öyh /hayn > öh /hān + ah /  = anh (hān-hā > hānā ) zusammengesetzt ist.

[x]   Siehe Stanislav Segert, Altaramäische Grammatik, 4. unveränderte Auflage,  Leipzig: VEB Verlag Enzyklopädie, 1990, 526 (Bedeutung): a) wenn, b) affirmative Partikel.

[xi] Danach trifft die im Thesaurus syriacus, I, 1023, nach Bernstein angegebene Aufschlüsselung aus ah /hā und dem End-ö /nūn des Demonstrativpronomens öyd /dēn nicht ganz zu, sofern letzteres selbst aus zwei Demonstrativpartikeln be­steht: der Deutepartikel Yd /d(ī) und der enklitischen Demon­strativ­parti­kel öyh / hayn > hēn = öyhd/ d-hēn > öyd / dēn.

[xii]    Siehe vom Verf.: Neudeutung der arabischen Inschrift im Felsendom zu Jeru­salem, in: Karl-Heinz Ohlig / Gerd-R. Puin (Hg.), Die dunklen Anfänge. Neue Forschungen zur Entstehung und frühen Geschichte des Islam, Berlin: Verlag Hans Schiler, 1. Aufl. 2005, 124-147, S. 127.

[xiii]   Siehe Arthur Jeffery, The Foreign Vocabulary of theQurʾān, Baroda 1938, 67.

[xiv]   Zur mannigfachen semantischen Bedeutung der syro-aramäischen Partikel öya /öa (ēn ) (koranisch-arabisch اين /ان ) siehe den Beitrag des Verf.: Keine Schlacht von „Badr“, in: Markus Groß / Karl-Heinz Ohlig (Hg.): Vom Koran zum Islam, Inârah 4, Berlin: Verlag Hans Schiler, 2008, 642-676, S. 664-670, insbesondere Anm. 15.

[xv]    Zur Etymologie von ايا /ʾiyyā  siehe den Beitrag des Verf.: Die syrische Liturgie und die „geheimnisvollen Buchstaben“ im Koran, in: Markus Groß / Karl-Heinz Ohlig (Hg.): Schlaglichter. Die beiden ersten islamischen Jahrhunderte, Inârah 3, Berlin: Verlag Hans Schiler, 1.Aufl. 2008, 411-456, S. 431, dazu Anm. 33.

[xvi]   Eigentlich: „Gott ist ja Einer“. Koranisch-arabisch انما (gelesen inna-mā ) setzt sich zusammen aus der bejahenden syro-aramäischen Partikel öa /ēn („ja“ – wie in Sure 10:53) und der verstärkenden Partikel am = arabisch ما /, was die syro-aramäische Lesung ēn-mā (und nicht inna-mā ) ergibt.

[xvii] Koranisch-arabisc سفها/sufahā (Singular سفيه /safīh) gibt syro-aramäisch ayfc /šaṭyā wieder, wofür Mannā (785b) unter afc (šṭā ) arabisch angibt: سفه. حمق (töricht, dumm sein), (3) مال. حاد (abweichen, abirren). Der Koran wählt die erste Bedeutung in der Annahme, dass der arabische Begriff seman­tisch auch die zweite,  hier passende syrische Bedeutung mit einschließt.

[xviii]     Siehe Beitrag des Verfassers: Relikte syro-aramäischer Buchstaben in frühen Koran­kodizes im lǧāzī- und kūfī-Dktus, in: Karl-Heinz Ohlig (Hg.), Der frühe Islam. Eine historisch-kritische Rekonstruktion anhand zeitgenössischer Quellen, (Inârah 2) 1. Auflage, Berlin: Verlag Hans Schiler, 2007, 377-414.

[xix]   An der entsprechenden Stelle der Handschrift British Library Or. 2165 (f. 5b, 4) ist das Wort rechts am Rande verwischt, so dass nur noch das retroflexe End-ö einigermaßen zu erkennen ist.

[xx]    In: Markus Groß / Karl-Heinz Ohlig (Hg.): Vom Koran zum Islam. Schriften zur frühen Islamgeschichte und zum Koran, Inârah 4, 1. Auflage, Berlin: Verlag Hans Schiler, 2009, 642-676, S. 664 ff.

[xxi]   Weitere Varianten: ökya /aykān, ankya /aykānā, ökya Kyad /d-āḵ aykān, ankya Kyad /d-āḵ aykānā. Letzteres bei Carl Brockelmann, Lexicon Syriacum, 15a, quomodo ?

[xxii] Wörtlich: „Wie bist du in Bezug auf sie (die Stunde) verschleiert = wie kommt es, dass du in Bezug auf sie verschleirt bist?“ Sinngemäß wie oben.

[xxiii]     Vgl. hierzu den Beitrag des Verfassers „Zur Morphologie und Etymologie von syro-aramäisch anfs (sāṭānā = Satan) und koranisch-arabisch شيطن (šayṭān) in: Christoph Burgmer (Hg.), Streit um den Koran. Die Luxenberg-Debatte: Streit­punkte und Hintergründe, 3. erweiterte Auflage 2007, Berlin: Verlag Hans Schiler, 2007, 69-82, S. 74 ff.; hierher gehört das koranische Partizip Passiv صمد /ṣamad (die zu einer Einheit) verbundene (Binität bzw. Trinität), ebd. S.76, Anm. 1. Die arabischen Grammatiker halten die Form faʿal für eine Nominalform; wo aber der arabische Kontext ein Partizip nahe legt, vermerkt der Lisān des öfteren dazu: (فَعَل بمعنى المفعول) dies sei ein faʿal (= Nominalform) im Sinne eines mafʿūl (= Partizip Passiv). Siehe auch gekürzte englische Fassung des Verfassers in The Syro-Aramaic Reading of the Koran. A Contribution to the Decoding of Language of the Koran, 1. Aufl., Berlin: Verlag Hans Schiler, 2007, 100-104.

[xxiv]     Wörtlich: „Wir werden euch vergelten die Anzeige der beiden Gewichte (= der beiden Abgewogenen [Werke]).“ Mit „pesée“ hat Blachère diese Bedeutung in Sure 7:8 (die er sonst mit „oeuvres“ übersetzt) zutreffend wiedergegeben. Mit „balances“ bzw. „standard“ (by which things will be tried) hat Bell dagegen den eigentlichen Sinn (ebenso wie Paret mit „Waagschalen“) nicht genau getroffen.

Zur Konjektur von اية /āya zu اثه /āta siehe den Beitrag des Verfassers „Die syrische Liturgie und die ‚geheimnisvollen Buchstaben’ im Koran“, in: Markus Groß / Karl-Heinz Ohlig (Hg.), Schlaglichter. Die beiden ersten islamischen Jahrhun­derte, Inârah III, Berlin: Verlag Hans Schiler, 2008, 411-456, S. 426 ff.