Puin: Der Koran nach der Lesart von Angelika Neuwirth

Der Koran nach der Lesart von Angelika Neuwirth

Gerd-R. Puin

Angela Neuwirth (geb. 1943) ist Professorin für Arabistik in Berlin, Begrün­derin des Corpus Coranicum  an der Berlin-Brandenburgischen Akademie. Nico­lai Sinai, Mitarbeiter an diesem Projekt, resümiert zurecht (in sei­ner Kritik an „Günter Lülings apokalyptische(r) Koranphilologie“ unter der Überschrift „Auf der Suche nach der verlorenen Vorzeit“[1]):

„In der westlichen Orientalistik ist bis in die siebziger Jahre kaum be­zwei­felt worden, dass die heutige Textfassung des Korans im We­sent­lichen die authentische Verkündigung Mohammeds aus dem frühen siebten Jahrhundert n. Chr. wiedergibt.“

Damit charakterisiert er implizit die Ansicht von A. Neuwirth (und ihrer Vor­läufer), die sie in ihrer 1976 verfassten Habilitationsschrift vertreten hat,

„… dass uns … mit den Suren authentische, d. h. vom arabischen Pro­pheten selbst überkommene Einheiten vorliegen … [und dass] die Koranredaktion unter ʿUṯmān (23-25 H.) zur Fixierung eines textus receptus geführt hat.“[2]

Differenzierend fügt sie (S. 9) hinzu, dass die Vielfalt der in einer Sure zu­sam­mengefassten Elemente für eine längere Entstehungszeit spricht:

„Die Sure ist eine ‚Mischkomposition’, d. h. eine komplexe Spätstufe nach längerer religionsgeschichtlicher Entwicklung. Sie ist keine his­to­risch homogene, sondern eine aus Elementen mit ursprünglich ver­schiedener Herkunft zusammengesetzte, sekundäre Gattung.“

Der Neuauflage ihrer Habilitationsschrift im Jahre 2007[3] hat A. Neuwirth den einleitenden Essay „Ein Versuch der historischen und forschungs­ge­schichtlichen Verortung des Koran“ beigefügt (S. *1-*54), der einen bemerkenswerten Fortschritt beim Urteil über die „Echtheit“ des Korans bedeutet. Sie stellt fest, dass seit dem Aufkommen der „Revisionisten“ (Wans­brough, Crone, Cook …) man nicht mehr von der alleinigen Autor­schaft Mohammeds sprechen könne; vielmehr müsse man

„die sich mehr­fach wandelnde Gemeinde als passive Mitautoren be­trachten.“ (S. *17)

„Muhammads Rolle muß demzufolge eher als die eines Kataly­sato­ren und letztendlich Formgebers und weniger als die eines Autors im herkömmlichen Sinne konzeptualisiert werden.“ (S. *18)

Zwischen dem Tod Mohammeds und der „verbindlichen Veröffentlichung“ spätestens unter dem Umayyadenkalifen ʿAbd al-Malik (reg. 685-705) „lie­gen doch auf keinen Fall mehr als 60 Jahre“ (S. *19), jedoch setze die unter seiner Herrschaft „auf den Koran konzentrierte Orthographie-Reform die Konstituierung eines verbindlichen Textes bereits voraus.“ (S. *20) Was die überlieferten oder auch in Handschriften nachweisbaren Varianten betreffe, seien „alle diese Unsicherheiten der Überlieferung … relativ geringfügig.“ (S. *21)

„Die heterogenen Textmassen, die die Redaktoren aus dem Gedächt­nis und aus Mitschriften der Propheten-Zeitgenossen zusammen­tru­gen, sollte man sich als einen ungeordneten Nachlass vorstellen, den es möglichst unberührt zu publizieren galt. … Insofern war der Text bereits zur Zeit des Propheten … sakrosankt. … Mit dem offiziellen Koran entstand ein Lektionar, eine Perikopensammlung, d. h. ein Corpus, aus dem Texte zur liturgischen Rezitation ausgewählt werden können.“ (S. *22)

Wenn Angela Neuwirth den Koran als Produkt einer gemeindebildenden Kom­mu­nikation ansieht, dessen Kanonisierung zwischen dem Tod Mo­ham­meds 632 AD und maximal 60 Jahre später erfolgt ist, hält sie in der Konsequenz nach einem vor-kanonischen, vor-redaktionellen Koran Aus­schau, der sich einstweilen – da die beobachteten Textvarianten ja so wenig hergeben – nur indirekt aus Formulierungen des Standardtextes erschlie­ßen, nicht aber belegen lässt:

„Im Gegensatz zum bereits festgeschriebenen kanonischen Kodex, ist der vorkanonische Koran also als textlicher Niederschlag eines Kom­mu­nikationsprozesses zu verstehen, als ein Ensemble von Texten, die ihren Sitz im Leben im öffentlichen oder zumindest hörbar verlaut­barten Vortrag (qurʾān) haben. Nicht nur der Prophet ‚entwickelt sich’ als Individuum, sondern die Debatte in der Gemeinde entwickelt sich …“ (S. *26)  – „Worum es also gehen muss ist …, den Koran … in statu nascendi, in seiner Genese aus dem Zusammen­spiel einer Vielzahl von Traditionen und Akteuren zu verfolgen.“ (S. *35)

Und die Erfüllung solcher Hoffnung ist in Sicht, auch wenn sie sich einst­weilen auf die bekannten, nicht aber auf solche Varianten stützt, die sich in real existierenden Handschriften befinden:

„Eine Wahrnehmung des Korantextes in seiner ganzen Variationsbreite ist Ziel des neu angelaufenen Forschungsprojekts Corpus Coranicum, in dem die überlieferten Lesarten systematisch erfasst und für die Textanalyse fruchtbar gemacht werden sollen.“ (S. *39, Unterstreichung Verf.)

Dazu ist anzumerken, dass sich in den beiden gedruckten Qirāʾāt-Enzyklo­pädien MQQ[4] und MQ[5] nur selten solche Textvarianten als „Lesarten“ wie­der­finden, die sich auch in den ältesten Handschriften – als „Schreibarten“ – finden. Das gilt auch für die beiden mit dem Medina-Muṣḥaf verknüpften einbändigen Darstellungen der zehn Lesarten von Ḫārūf[6] und von al-Maʿṣarāwī[7], durch deren Erscheinen im Übrigen die Arbeit des Abschrei­bens von Lesarten überflüssig geworden ist. Was die Textgeschichte des Korans betrifft, greift der auf „die überlieferten Lesarten“ gerichtete Blick nach unserer Erfahrung zu kurz und beweist vor allem, dass bereits die Literatur über die Lesarten einen normierenden Charakter hat und nur ergänzend für die Textgeschichte herangezogen werden kann.

Betrachtet man die von Arthur Jeffery in seinen Materials[8] gesammelten Berichte über Varianten in verschiedenen alten Codices, so kann man er­ken­nen, dass sich der Typus der Varianten kaum von dem Befund unterscheidet, den man auch in alten Handschriften vorfindet: Die hier wie dort auftretenden Varianten sind nicht Beweis für einen „anderen“ Koran, sondern belegen seine Textgeschichte. Ein qualitativ größerer Abstand zum heutigen Standard-Text wird in der scriptio prima des Palimpsests sichtbar, den Elisabeth Puin bearbeitet.[9] Auch in diesem Dokument erscheint kein „an­derer“ Koran, doch sind die Varianten (Orthographie, Synonyme, Trans­positionen) wesentlich häufiger als in den bisher bekannten Ḥiǧāzī-Handschriften, so dass diese Textgestalt eher einer Form gleichkommt, wie sie der Koran vor seiner Kodifizierung besaß.

In einem neueren Interview[10] mit Frau Neuwirth formuliert sie ihre Ziel­vorstellung:

„Das Bild des Korans muss von den Schlacken der jahrhundertealten Islampolemik gereinigt werden, um bestehende Vorurteile endlich abzu­auen. Der Islam ist Teil unserer Lebenswelt, viele Muslime leben in Europa. Und die islamische Kulturgeschichte hat der Entwicklung Europas entschei­dende Impulse gegeben.“

– Warum das Projekt Corpus Coranicum das Ziel hat, „den Koran nach Europa zu holen“ erklärt sie so:

„Der Koran stammt aus der Spätantike, der formativen Epoche für das jüdisch-christliche oder biblisch-christliche Europa. In dieser Zeit wurden die rabbinischen Tradi­ionen kodifiziert, … genau wie die christlichen Texte. Der Koran ist damit ein Dokument jenes Zeitraums, den wir als europäische Spätantike bezeich­en und als Teil unserer Geschichte reklamieren.“

Auf die Frage, was genau das Corpus Coranicum mache, antwortet sie:

„Wir wollen methodische Standards setzen, um eine feste Grundlage für die Dis­kussion über die Entstehung des Korans legen. Wir wollen die Geisteswelt des Korans rekonstruieren und zeichnen deshalb die Interaktion der islamischen Gemeinde mit ihrem spätantiken, christ­lichen und jüdischen Umfeld nach …“

Ihr Kommentar zu der Feststellung, dass viele Muslime glauben, der Koran sei „vom Himmel herabgeschickt worden,“ zeigt, wie weit sich Frau Neu­wirth bereits von ihren ursprünglichen Vorstellungen über die Entstehung des Korans getrennt hat:

„Das mag bizarr klingen. Ebenso bizarr ist es aber, einfach Mohammed als Autor einzusetzen. Die Dinge sind komplizierter. Mohammed war sicherlich ein begnadeter prophetischer Sprecher – aber der Koran spiegelt nicht die Gedankengänge eines Einzelnen wider, sondern ist das Resultat eines 22 Jahre dauernden Diskurses zwischen einem Sprecher und seinen Zuhörern.“ [Hervorh. vom Verf.]

– Nach der Feststellung, die „meisten Islamwissenschaftler halten an den [von der islamischen Tradition, Verf.] überlieferten Rahmendaten fest,“ wehrt sie sogar die Formulierung ab, dass der Koran von Anfang an islamisch gewesen sei:

„Wir in der Arabistik lesen den Koran nicht als einen von vornherein islamischen Text. Er wurde es erst nach dem Tod des Propheten. (…)  Erst im Nachhinein hat man in der islamischen Tradition auch schon in den allerersten Hörern Muslime sehen wollen.“ [Hervorh. vom Verf.]

Aus den Zitaten lässt sich wohl eine Bewegung ablesen, die sich behutsam von älteren Vorstellungen absetzt und auf einen Ansatz zuläuft, der eine längere Entstehungsgeschichte, eine vielfältige Autorschaft und eine philo­logische Gemengelage anerkennt. So positiv diese Bewegung zu bewerten ist, muss man sich doch fragen, in wieweit es dabei nicht zu optimistisch ist, auf den Beifall muslimischer Gelehrter zu hoffen, deren Kompetenz wohl auch zu optimistisch eingeschätzt wird:

„Es wäre eine Vergeudung, wenn wir die unschätzbaren Kenntnisse und Erfahrungen islamischer Korangelehrter, die wir uns als Außen­stehende kaum je vollständig aneignen können, einfach ignorieren würden. Wir können nicht annähernd so viel über die sprachlichen und theologischen Aspekte des Koran wissen wie diese Gelehrten. Was wir von der islamischen Tradition mit unseren Methoden erfassen, ist nur die Spitze des Eisbergs.[11]

Die Entwicklung ihrer Sicht auf den Koran mündet schließlich – und sicher nicht abschließend – in der Forderung nach einer „Zukunftsphilologie“,

„die sich der politischen Dimension ihrer Arbeit bewusst zu sein habe, schließlich lebten wir in einem ‚von seiner Geschichte und sei­ner Gegenwartsrealität her jüdisch-christlich-islamischen Europa’; (…) der Koran nämlich sei sowohl in seiner überlieferten Textform als auch in seiner mündlichen Vorform vor allem als ‚europäisches Vermächtnis’, als ‚Auslegung und Neuformulierung bereits bekann­ter biblischer und nachbiblischer Traditionen’ zu betrachten. (…) Inhaltlich handele es sich [beim Koran, Verf.] um eine ergebnis­offene Mitschrift von Diskusionen zwischen dem Propheten Mo­ham­med und seinen Hörern. Es gelte demnach, den Koran als euro­päischen Grundtext in die (westliche) Spätantike-Vorstellung aufzu­nehmen.“[12]

Mit einer solchermaßen politisch-korrekt vorauseilenden „Philologie“ soll also schon jetzt eine Koranforschung befrachtet werden, die, was den Text betrifft, erst am Anfang steht? Und wenn man von der „Gegenwartsrealität Europas“ spricht, wären da nicht noch die Aufklärung, der Humanismus und der Atheismus einzubeziehen? – Und was wäre, wenn der Koran gar keine „Mitschrift“, kein Protokoll von Diskussionen des Propheten mit sei­ner Gemeinde wäre, sei es, weil es den Propheten Moḥammed so gar nicht gegeben hat, oder sei es, weil die stilistische, texthistorische oder theolo­gische Analyse des Korans eher auf eine Vielzahl von „Verfassern“ zu sehr unterschiedlichen Zeiten und Gegenden verweisen würde? Wenn also nicht einmal die Endredaktion des Textes durch eine Person glaubhaft vertreten werden kann, weder durch den Erzengel Gabriel oder einen Propheten Mohammed oder den Kalifen ʿUṯmān oder den Schreiber Zayd b. Ṯābit?

„Vor allem aber sind wir weiter denn je von dem wichtigen Ziel entfernt, die dritte monotheistische heilige Schrift endlich auf Au­gen­höhe mit den beiden anderen zu stellen und den Koran als einen mit der Bibel gleichrangigen Referenztext ins Relief zu setzen, als einen Text, an den folglich diskursiv nicht weniger anspruchsvolle historische, literarische und theologische Fragen gestellt werden können, wie an die biblischen Schriften selbst. Damit ist bereits die Dringlichkeit einer nüchternen, an der Bibelwissenschaft geschulten Analyse der Strukturen des Textes angesprochen, die ihn nicht mehr «essentialistisch» als einen exotischen Text, sondern «egalitär», d.h. mit demselben methodischen Rüstzeug und entsprechenden Strate­gien behandelt wie die biblischen Schriften. …“[13] (Betonung durch Verf.)

Äußerungen dieser Art sind sicher nicht geeignet, den Weg hin zu musli­mischen Korangelehrten zu bahnen. Im Gegenteil scheint es eher so, als würde sich Angela Neuwirth in einer Weise den „revisionistischen“ Positio­nen annähern, dass man sich fragen muss, ob dies eine eigenständige Ent­wicklung ist oder Anregungen von außen zu verdanken ist. In ihrer Analyse der 112. Sure (al-Iḫlāṣ)[14] jedenfalls erkennt sie das „islamische“ Echo auf das nizäische Glaubensbekenntnis und argumentiert mit Michael Riffaterre[15],

„der den Begriff der »Ungrammatikalität« prägte, nämlich die Merk­würdigkeit eines Textelements, das semiotisch auf einen anderen Text verweist, der dann einen Schlüssel zu seiner Dekodierung lie­fert. Die besondere Art der Ungrammatikalität, die sich in unserem Text zeigt, kann man mit Riffaterres „dual sign [doppeldeutigem Zeichen]“ gleichsetzten; um ihn zu zitieren (S. 92):  »Das doppel­deutige Zeichen ist wie ein Wortspiel … Zuerst wird es als ein Verstoß gegen die Grammatik [Ungrammatikalität] wahrgenommen, bis man entdeckt, dass es einen anderen Text gibt, in dem sich das Wort jedoch grammatisch [korrekt] verhält; sobald der andere Text identifiziert ist, erhält das doppeldeutige Zeichen eine Bedeutung, und zwar nur auf Grund seiner [merkwürdigen] Gestalt, die allein auf den anderen Code anspielt.«“

Als „doppeldeutiges Zeichen“ erkennt Angelika Neuwirth in der 112. Sure das „aḥad“ in qul huwa llāhu aad, denn es müsste nach der arabischen Grammatik eigentlich „wāḥid“ lauten – auch wenn „aḥad“ in diesem Zusammenhang durchaus verständlich ist. Als Referenztext erweist sich das alttestamentliche Credo „šəmaʿ yisraʾel, adonay elohenu adonay ead / Höre Israel, der Herr, unser Gott, ist einer“, in dem das hebräische „eḥad“ grammatisch korrekt verwendet wird. Die ungrammatische Verwendung des „aḥad“ im arabischen Text verweist also auf das hebräische „eḥad“ unter der Voraussetzung, dass beide Aussagen in einem erkennbaren semantischen Zusammenhang stehen: Die Gemeinsamkeit besteht darin, dass der Text in beiden Fällen ein sehr prägnantes Glaubensbekenntnis ist. Freilich besteht zwischen beiden Äußerungen eine so deutliche zeitliche Differenz, dass sie sich auch für Angela Neuwirth nicht mehr mit Hilfe eines „intertextuellen“ Nebeneinanders, sondern als die spätere („islamische“) Antwort auf ein früheres Glaubensbekenntnis der Juden erklären lässt:

„Diese Art von exegetischer Korrektur stellt eine Modifikation dar, die der Koran auf zahlreiche frühere Traditionen anwendet. Ins­be­sondere scheint die hörbare Resonanz des früheren Textes eine klare mündliche Adresse an jüdische Zuhörer zu sein und war damit zu­sätzlich geeignet, den Graben zwischen der koranischen und jüdi­schen Gemeinschaft zu überbrücken.“[16]

Gewiss ist diese Erkenntnis von der generellen Annahme abgeleitet, dass der Koran erst nach einer längeren Periode der mündlichen Kommunikation zwischen dem Propheten und seiner Gemeinde fixiert worden ist. Dabei ist es aber m. E. nicht zwingend, dass diese Kommunikation ein mündlicher Prozess war. Doch dies ist ein unwichtiges Detail angesichts der Tatsache, dass Angela Neuwirth sich nunmehr auf zwei Kriterien stützt, die konziser auch von Chr. Luxenberg nicht hätten formuliert werden können – ja, ihre Akzeptanz setzt geradezu voraus, dass sie ihm methodisch folgt, wenn auch ohne es zuzugeben:[17]

1.   Es gibt „dual signs“ im Koran-Arabischen, „ungrammatische“ Wörter wie „aḥad“, die auf andere „grammatisch“ korrekt verwendete Wörter in einer anderen Sprache weisen und dadurch erst in ihrem Sinn er­schlos­sen werden können. Das Kriterium lässt sich erweitern auf Wörter, de­ren koranische Orthographie die der (in diesem Fall aramäischen) Aus­gangssprache ist (ṣəlūṯā, zəkūṯā …), die aber auf Arabisch anders aus­ge­sprochen werden (ṣalāh, zakāh …). Es lässt sich erweitern auf im Koran unverständliche Wörter (hapax legomena o. ä.) oder mit der ara­bischen Grammatik nur mühsam in Einklang zu bringende Formu­lie­rungen. Kurz: Zumindest die doppelbödigen „dual signs“ in diesem wei­ten Sinn erheischen die Herstellung außerkoranischer Bezü­ge, um ihren ur­sprüng­lichen Sinn zu erkennen oder wieder herzustellen. Ob die Bezüge biblischer Natur sind oder sich auf christlich/jüdisch-häretische oder antike philosophische Debatten beziehen, sollte im Einzelnen aufgezeigt werden und insgesamt solange wie möglich offen bleiben. Wenn das eine Methode ist, sollte man sie „kritisch“ nennen.

2.   Eine vorsichtig und mit Rücksicht auf die zugestandene wissen­schaft­liche Immobilität der muslimischen Gelehrten postulierte „Intertextua­lität“, bei der die koranischen wie biblischen (und sonstigen?) Texte artig neben einander gestellt werden, statt – was man in allen anderen philologischen Disziplinen machen würde – den älteren als Vorbild für den jüngeren anderen anzusehen, hat sie zumindest für solche vergleich­baren Texte aufgegeben, die eine eindeutige „islamische“ Antwort auf einen früheren (Kon-)Text erkennen lassen. Damit ist wieder ein Sta­dium erreicht, das man altmodisch als „Einfluss von …“, als „vor- und nachzeitig“, als „abhängig von …“ oder „gegen …“ bezeichnet hat, als „historisch“ eben.

Nunmehr ist also das Konzept von Angelika Neuwirth historisch-kritisch, sie zeigt es an dem guten Beispiel von „aḥad / eḥad“ – wer wäre da nicht von der Richtigkeit ihrer Interpretation überzeugt?! Wenn sie in dieser Weise fortfährt, lösen sich am Ende die Erkenntnisse und/oder Hypothesen von Chr. Luxenberg et alii auf als solche, die zuerst von ihr erkannt, mit der ihr eigenen Autorität begründet und als Ergebnis ihrer Jahrzehnte währenden Forschungen vorgetragen worden sind. Dem Verein INÂRAH – das wäre der Vorteil – brauchte sie dann nicht beizutreten; der Nachteil wäre, dass die als unverzichtbar erklärte Zusammenarbeit mit den Muslimen nur noch mit den wenigen möglich wäre, die den Braten immer noch nicht gerochen haben.


[1]   Neue Zürcher Zeitung, Intern. Ausgabe, 19.02.2004.

[2]   Angela Neuwirth: Studien zur Komposition der mekkanischen Suren. Berlin, New York: W. de Gruyter 1981, S. 2.

[3]   Im selben Verlag, ISBN 978-3-11-019233-9.

[4]   MQQ = Muʿǧam al-Qirā’āt al-Qurʹāniyyah, maʿa muqaddimah fī ʼl-qirāʹāt wa-ašhar al-qurrā’. Iʿdād ʿAbd al-ʿĀl Makram (wa-) Aḥmad Muḫtār ʿUmar. I – VIII. al-Kuwayt: Ḏāt al-Salāsil 1402-1405 / 1982-1985.

[5]   MQ = Muʿǧam al-Qirā’āt. (Iʿdād) ʿAbd al-Laṭīf al-Ḫaṭīb. I-XI, Dimašq: Dār Saʿd al-Dīn ¹1422 / 2002.

[6]   Khārūf, Muḥammad Fahd: al-Tashīl li-qirā’āt al-tanzīl, al-ǧāmiʿ li-l-qirā’āt al-ʿašar min al-Šāṭibiyyah wa-ʼl-Durrah wa-ʼl-Tayyibah. Dimašq: Makt. Dār al-Bayrūtī 1420/1999.

[7]   al-Maʿṣarāwī, Aḥmad ʿĪsà: Muṣḥaf al-taǧwīd wa-bi-hāmišihi Kitāb al-Qirā’āt al-ʿAšar, taʾlīf Aḥmad ʿĪsà al-Maʿṣarāwī, shayḫ ʿumūm al-Maqāriʾ al-Miṣriyyah wa-raʾīs Laǧnat al-Muṣḥaf bi-ʼl-Azhar al-Šarīf. Dimašq: Dār al-Maʿrifah 1430 [2009].

[8]   Arthur Jeffery: Materials for the History of the Text of the Qur’ān. The Old Codices. Leiden: Brill 1937.

[9]   Elisabeth Puin: „Ein früher Koranpalimpsest aus Ṣanʿāʾ (DAM 01-27.1)“ in Markus Groß (und) Karl-Heinz Ohlig (hg.): Schlaglichter. Die beiden ersten islamischen Jahrhunderte. Berlin: Schiler 2008 (Inârah 3), S. 461-493. – Elisabeth Puin: „Ein früher Koranpalimpsest aus Ṣanʿāʾ (DAM 01-27.1) Teil II“ in Markus Groß (und) Karl-Heinz Ohlig (hg.): Vom Koran zum Islam. Schriften zur frühen Islamgeschichte und zum Koran. Berlin: Schiler 2009 (Inârah 4), S. 523-581.

[10]    Interview von Arnfrid Schenk: „Der Koran ist auch ein europäischer Text“ in ZEIT ONLINE, 23.3.2010 (www.zeit.de/campus/2010/02/sprechstunde-koran?page=all&print=true, gesehen 27.03.2010)

[11]    Interview mit Angela Neuwirth in: Die Tagespost Nr. 70 [10. Juni 2008].

[12]    Bericht von Oliver Jungen über die Tagung „Beyond Tradition?“ in Münster [11.-13.07.2010], FAZ 16.07.2010 „Es ist verboten, nicht zu denken“.

[13]    Angelika Neuwirth: Der Koran als Text der Spätantike. Ein europäischer Zugang. Berlin: Verlag der Weltreligionen im Insel Verlag 2010, S. 53 f.

[14]    Angelika Neuwirth: „Two Faces of the Qur’ān: Qur’ān and Muṣḥaf.” In Oral Tradition  25/1 (2010) 141-156, vor allem S. 150-153.

[15]    Michael Riffaterre: Semiotics of Poetry. Bloomington: Indiana Univ. Pr. 1978.

[16]    Angelika Neuwirth: „Two Faces …” S. 151.

[17]    Wenn Chr. Luxenberg die Gedanken von Michael Riffaterre von 1978 gekannt hätte, hätte er sich bei der Erklärung seines Vorgehens nicht so ausführlich äußern müssen!